RECHTSSACHE CABUCAK ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 18706/16

FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE C. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 18706/16)
URTEIL
STRASSBURG
20. Dezember 2018

Dieses Urteil ist endgültig; wird jedoch gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache C. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger und
Carlo Ranzoni
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 27. November 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 18706/16) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein türkischer Staatsangehöriger, C. („der Beschwerdeführer“), am 5. April 2016 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn G., Rechtsanwalt in S., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerde betrifft die Ausweisung des Beschwerdeführers, eines in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen, in die Türkei nach dessen strafrechtlichen Verurteilungen, u. a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Am 23. November 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

4. Die türkische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), hat nicht angezeigt, dieses Recht ausüben zu wollen.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der 19.. in N. geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und lebt in S. Er hat eine 2009 geborene Tochter, die deutsche Staatsangehörige ist und bei ihrer Mutter lebt.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Die Eltern des Beschwerdeführers kamen als Einwanderer nach Deutschland. 1982 wurde der Beschwerdeführer Zeuge der Ermordung seiner Mutter durch seinen Vater. Der Vater floh anschließend in die Türkei, wo er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und wo er seit seiner Haftentlassung lebt.

7. Nach dem Tod seiner Mutter wuchs der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Schwester bei seinen Großeltern in N. auf. Er war zeitweise teilstationär untergebracht und wurde in einer Förderschule unterrichtet, aus der er nach einem tätlichen Angriff auf eine pädagogische Fachkraft vor Erreichen eines Schulabschlusses entlassen wurde.

8. Am 25. Januar 1996 erteilte die zuständige Behörde der Stadt N. dem Beschwerdeführer eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

B. Die strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers

9. Der Beschwerdeführer wurde seit 1996 wiederholt strafrechtlich verurteilt. Am 26. September 1996 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 20. Juli 2000 verurteilte dasselbe Gericht ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwanzig Fällen zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten, die wiederum zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 2. Juli 2001 verurteilte es ihn wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwölf Fällen unter Einbeziehung des Urteils vom 20. Juli 2000 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Am 10. Januar 2002 verurteilte es ihn wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen unter Einbeziehung des Urteils vom 2. Juli 2001 zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren.

10. Am 18. Januar 2005 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Die Vollstreckung des Strafrestes wurde unter der Bedingung der Aufnahme einer Langzeitdrogentherapie zur Bewährung ausgesetzt. Anschließend unterzog sich der Beschwerdeführer einer ambulanten Drogentherapie und nahm an einem Methadonprogramm teil.

11. An einem nicht genannten Datum im Frühjahr/Sommer 2005 wurde der Beschwerdeführer von einem anderen Amtsgericht wegen Betäubungsmittelbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Gericht stellte fest, der Beschwerdeführer sei am 7. Mai 2005 im Besitz von Heroin angetroffen worden. Am 9. Juli 2007 verurteilte das Amtsgericht ihn wegen mehrerer 2005 und 2006 begangener Straftaten, u. a. Gewalt- und Verkehrsdelikten sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.

12. Im Juni 2008 wurde die Strafvollstreckung zurückgestellt und der Beschwerdeführer zur Durchführung einer Drogentherapie in eine Fachklinik aufgenommen. Die Zurückstellung wurde zwei Wochen später widerrufen, nachdem der Beschwerdeführer aus disziplinarischen Gründen aus der Therapie entlassen worden war. Im August 2008 wurde die Strafvollstreckung erneut zurückgestellt und der Beschwerdeführer wiederum in eine Fachklinik aufgenommen, um sich dort einer Drogentherapie zu unterziehen. Bei ihm wurden eine Polytoxikomanie, also eine gleichzeitige Abhängigkeit von mehreren Substanzen, sowie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Im Februar 2009 wurde die Vollstreckung des Restes der mit dem Urteil vom 9. Juli 2007 verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Er setzte seine Therapie fort.

13. Am 6. November 2009 wurde der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft genommen. Am 9. Dezember 2010 wurde er vom Landgericht wegen unerlaubten Handeltreibens mit und Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer seit August 2009 mit Heroin gehandelt habe, um seinen Eigenkonsum zu finanzieren und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Beschwerdeführer verbüßte seine Haftstrafe anfangs in einer Justizvollzugsanstalt und wurde ab August 2011 in eine psychiatrische Haftanstalt verlegt. Es wurde erneut eine Mehrfachabhängigkeit und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit Symptomen einer narzisstischen und dissozialen Persönlichkeitsstörung bei ihm festgestellt.

14. Bei der anschließenden Therapie waren nur allmähliche Fortschritte zu verzeichnen. Im Mai 2014 stufte die Klinik die Gefahr eines Rückfalls des Beschwerdeführers noch als hoch ein. Erst im November 2014, nachdem der Beschwerdeführer seinen Hauptschulabschluss erworben hatte, änderte sich die Einschätzung der Klinik. Am 2. Dezember 2014 wurde der Beschwerdeführer entlassen und die Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

C. Das erste Ausweisungsverfahren

15. Nach der Verurteilung vom 10. Januar 2002 (siehe Rdnr. 9) ordnete die zuständige Behörde der Stadt N. am 31. Juli 2002 die Ausweisung des Beschwerdeführers in die Türkei an. Dabei wurde insbesondere auf die vorausgegangenen Verurteilungen des Beschwerdeführers verwiesen. Am 22. April 2003 wies der Stadtrechtsausschuss den hiergegen erhobenen Widerspruch zurück. Am 18. Oktober 2003 wies das Verwaltungsgericht die daraufhin eingelegte Klage ab. Am 14. Januar 2005 hob das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Ausweisungsverfügung auf. Es stellte fest, dass sich der Beschwerdeführer auf ein Aufenthaltsrecht nach Artikel 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 (siehe Rdnr. 30) berufen könne. Er könne somit nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung der Behörde ausgewiesen werden, für die es einer gegenwärtigen und konkreten Gefahr weiterer erheblicher Straftaten bedürfe. Vor diesem Hintergrund seien die zur Rechtfertigung der Ausweisung vorgebrachten Gründe nicht ausreichend. Das Oberverwaltungsgericht verwies in diesem Zusammenhang insbesondere darauf, dass der Beschwerdeführer zu jenem Zeitpunkt noch keine stationäre Drogentherapie absolviert habe, jedoch zu einer solchen Therapie bereit sei. Außerdem könne der Beschwerdeführer, insbesondere aufgrund des gewaltsamen Todes der Mutter, auf außergewöhnliche Lebensumstände verweisen.

D. Das in Rede stehende Verfahren

16. Im Dezember 2007 teilte die zuständige Behörde dem Beschwerdeführer mit, dass sie die erneute Anordnung seiner Ausweisung in die Türkei beabsichtige. Der Beschwerdeführer teilte daraufhin mit, dass er mittlerweile mit der deutschen Staatsangehörigen J. verlobt sei und eine stationäre Drogentherapie anstrebe. Mit Bescheid vom 1. Februar 2008 ordnete die Behörde dennoch die Ausweisung des Beschwerdeführers in die Türkei an. Sie verwies auf seine zahlreichen früheren Straftaten, insbesondere auf die nach dem 14. Januar 2005 begangenen, und zog den Schluss, dass der Beschwerdeführer eine hinreichend erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

17. Der Beschwerdeführer erhob Widerspruch gegen diese Entscheidung. Am 4. Juni 2009, kurz nachdem der Beschwerdeführer die Vaterschaft für das von J. zu diesem Zeitpunkt erwartete Kind anerkannt hatte, setzte der Stadtrechtsausschuss das Verfahren aus.

18. Am 23. September 2009 wurde die Tochter des Beschwerdeführers unehelich geboren. Seitdem wurde das Sorgerecht allein von J. ausgeübt. In den folgenden Wochen Iebte der Beschwerdeführer in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Tochter und J., bis er im November 2009 in Untersuchungshaft genommen wurde (siehe Rdnr. 13).

19. Am 19. September 2013 nahm der Stadtrechtsausschuss das ausgesetzte Verfahren wieder auf und hörte den Beschwerdeführer und J., die 2011 ein weiteres Kind von einem anderen Vater zur Welt gebracht hatte, mündlich an. Mit Bescheid vom 24. September 2013 wies der Stadtrechtsausschuss den Widerspruch mit der Begründung zurück, dass von dem Beschwerdeführer gegenwärtig eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehe, da es wahrscheinlich sei, dass er weitere erhebliche Straftaten begehen werde. Er sei ein Intensivtäter mit hohem Aggressionspotential. Im Hinblick auf die durch Artikel 8 der Konvention geschützten Interessen des Beschwerdeführers stelle die Ausweisungsverfügung einen verhältnismäßigen Eingriff dar.

20. Am 22. Mai 2014 ordnete das Verwaltungsgericht an, die Dauer des Wiedereinreiseverbots auf fünf Jahre zu befristen, und wies die Klage des Beschwerdeführers im Übrigen ab. Es befand, dass die Rechtskraft des Urteils des Oberverwaltungsgerichts vom 14. Januar 2005 (siehe Rdnr. 15) dem Erlass der Ausweisungsverfügung nicht entgegenstehe, da sie im Wesentlichen auf nach diesem Urteil datierenden Gegebenheiten beruhe, insbesondere auf dem Urteil des Amtsgerichts vom 9. Juli 2007 (siehe Rdnr. 11) und dem Urteil des Landgerichts vom 9. Dezember 2010 (siehe Rdnr. 13). Rechtsgrundlage der Ausweisungsverfügung seien § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Artikel 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 (siehe Rdnr. 30). Die Behörde habe zutreffend festgestellt, dass der Beschwerdeführer gegenwärtig eine konkrete Gefahr für die Grundinteressen Deutschlands darstelle und dass seine Ausweisung für die Wahrung dieser Interessen unerlässlich sei.

21. Das Verwaltungsgericht stützte seine Schlussfolgerungen im Wesentlichen auf die Schwere, die Häufigkeit und den Drogenbezug der Straftaten sowie auf die Erwartung, dass der Beschwerdeführer wahrscheinlich erneut ähnliche Straftaten begehen werde. In diesem Zusammenhang verwies das Gericht auf seine zahlreichen Verurteilungen wegen Betäubungsmitteldelikten und das häufige Scheitern seiner Drogentherapien. Nicht einmal günstige Umstände wie die Drogentherapie ab August 2008, die Strafrestaussetzung, weitere Therapien, die bevorstehende Vaterschaft und schließlich die Geburt seines Kindes hätten zu einer Wende im Leben des Beschwerdeführers geführt. Außerdem habe zu diesem Zeitpunkt die behandelnde Klinik die Gefahr eines Rückfalls des Beschwerdeführers als hoch eingestuft.

22. Die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Tochter stehe unter dem Schutz von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention. Diese Beziehung habe sich aber aufgrund der Inhaftierung des Beschwerdeführers nur wenige Monate nach der Geburt seiner Tochter nicht tiefergehend weiterentwickeln können. Dasselbe gelte für die Beziehung zu seiner Herkunftsfamilie, insbesondere zu seiner Schwester. Auch habe er den aktuellen Status seiner Beziehung zu J. nicht darlegen können. Nach anfänglich häufigen Haftbesuchen durch J. und die gemeinsame Tochter sei dieser Kontakt, nachdem J. ein zweites Kind von einem anderen Vater zur Welt gebracht habe, eher selten geworden. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer kurz vor dem Hauptschulabschluss stehe (siehe Rdnr. 14), würde keine positivere Prognose rechtfertigen. Da es ihm an der erforderlichen Berufsausbildung fehle, seien seine Aussichten, eine Arbeit zu finden, weiterhin eher spärlich. Die Behörden hätten die Rechte des Beschwerdeführers sowie den Umstand, dass er in Deutschland geboren sei und Familie in Deutschland habe, insbesondere seine Tochter und seine Schwester, in nicht zu beanstandender Weise berücksichtigt. Unter expliziter Bezugnahme auf Artikel 8 der Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die Argumente, die der Ausweisungsverfügung zugrunde lägen, zu ihrer Rechtfertigung geeignet seien, auch wenn die Ausweisung eine Härte für die nicht mit dem Beschwerdeführer in häuslicher Gemeinschaft lebende Tochter darstelle. Den Interessen des Beschwerdeführers werde durch eine Befristung des Wiedereinreiseverbots hinreichend Rechnung getragen, zudem könne er einen Antrag auf weitere Verkürzung dieser Frist stellen, wenn sich die für ihre Festsetzung maßgebenden Tatsachen ändern sollten.

23. Der Beschwerdeführer sei außerdem in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mangelhaft integriert. Er sei nie einer Arbeit nachgegangen und habe weitgehend von Sozialleistungen gelebt. Was die Schwierigkeiten anbelange, denen sich der Beschwerdeführer in der Türkei gegenübersehen könne, so seien diese überwindbar. Im Hinblick auf seine Behauptung, des Türkischen nicht mächtig zu sein, habe sich bei den polizeilichen Ermittlungen im Zusammenhang mit seinen Straftaten gezeigt, dass der Beschwerdeführer bei den Betäubungsmittelgeschäften mühelos in der Lage gewesen sei, zwischen der deutschen und der türkischen Sprache hin- und herzuwechseln. Ferner sei festgestellt worden, dass er auch sonst mündlich auf Türkisch kommuniziert habe, beispielsweise als er zweimal aus dem Gefängnis heraus mit seinem Vater telefoniert habe. In der mündlichen Verhandlung habe er außerdem eingeräumt, dass seine sprachlichen Fähigkeiten sich seit 2005 verbessert hätten. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer mit den türkischen Lebensverhältnissen vertraut, da er als Kind zweimal die Türkei besucht habe. Sein Großvater habe eine eher traditionelle Haltung vertreten und er habe zur Verbesserung seiner Türkischkenntnisse seit 2005 viel Zeit mit seiner Familie verbracht. Er würde in der Türkei nicht ohne Unterstützung dastehen, auch wenn das Verhältnis zu seinem Vater möglicherweise angespannt sei und andere Kontakte lediglich über seine Schwester herzustellen sein würden.

24. Mit Beschluss vom 25. März 2015 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung ab, wobei es sich den Ausführungen des Verwaltungsgerichts anschloss, aber auch auf die Entwicklungen einging, die sich seither ergeben hatten.

25. Am 7. Oktober 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 826/15).

E. Weitere Entwicklungen

26. Der am 9. Oktober 2015 unternommene Versuch einer Abschiebung des Beschwerdeführers blieb erfolglos, weil der Beschwerdeführer nicht im Besitz eines gültigen Passes war.

27. Am 17. Dezember 2015 stellte der Beschwerdeführer einen Asylantrag und machte als Abschiebehindernis die Gefahr einer Retraumatisierung geltend. Für das Asylverfahren erhielt er eine vorübergehende Aufenthaltsgestattung. Dem Gerichtshof wurden keine Informationen zum gegenwärtigen Stand dieses Verfahrens vorgelegt.

28. Am 17. März 2016 wies die zuständige Behörde einen Antrag des Beschwerdeführers auf weitere Reduzierung der Dauer des Wiedereinreiseverbots zurück. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer Widerspruch beim Verwaltungsgericht ein. Es wurden keine Informationen zum gegenwärtigen Stand dieses Verfahrens übermittelt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

29. Das Einreise- und Aufenthaltsrecht für Ausländer ist im Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. Nach § 55 Abs. 1 AufenthG in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Nach § 56 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer, der eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Diese Anforderung gilt in der Regel in Fällen nach § 53 AufenthG als erfüllt, d. h. wenn der Ausländer rechtskräftig wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.

30. Ein paralleler und zusätzlicher Schutz vor Abschiebung kann aus Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80) abgeleitet werden. Nach Artikel 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Nach Artikel 14 ARB 1/80 gilt Artikel 7 vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union leiten die deutschen Gerichte aus diesen Vorschriften im Wesentlichen ab, dass eine nach Artikel 7 ARB assoziationsberechtigte Person nur unter der Bedingung ausgewiesen werden kann, dass ihr Verhalten gegenwärtig eine konkrete Gefahr für ein Grundinteresse Deutschlands darstellt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (vgl. BVerwG 1 VR 3/18, Beschluss vom 22. Mai 2018).

31. § 11 AufenthG in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sieht vor, dass ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, weder erneut nach Deutschland einreisen noch sich in Deutschland aufhalten darf. Ihm darf keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Auf Antrag können diese Rechtsfolgen der Ausweisung zeitlich befristet werden. Bei der Fristsetzung sind die Umstände des Falles eingehend zu prüfen; die Frist darf nur dann fünf Jahre überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde oder wenn er die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdet. Sie soll zehn Jahre nicht überschreiten. Die Frist beginnt mit der Ausreise des Ausländers. Vor Ablauf dieser Frist kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, für einen kurzen Zeitraum nach Deutschland einzureisen, wenn diese Zeit aus zwingenden Gründen benötigt wird oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

32. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Ausweisung ihn in seinem Recht auf Privat- und Familienleben nach Artikel 8 der Konvention verletze, der wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

33. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

I. ZULÄSSIGKEIT

34. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

II. BEGRÜNDETHEIT

A. Die Stellungnahmen der Parteien

1. Der Beschwerdeführer

35. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Ausweisung nicht nur einen Eingriff in sein „Privatleben“, sondern auch in sein „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstelle, da er eine sehr enge Beziehung zu seiner Tochter habe. Er machte geltend, dass es sich nicht um einen nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigten Eingriff handele, da der Eingriff unverhältnismäßig sei. Er sei mehrfachabhängig gewesen, als er die Straftaten zur Finanzierung seiner Sucht begangen habe. Durch die Art seiner Straftaten sei niemandem schwerwiegender Schaden entstanden. Seit 2009 sei er nicht mehr straffällig geworden. Er habe seitdem vielmehr seinen Schulabschluss gemacht (siehe Rdnr. 14) und erfolgreich gegen seine Mehrfachabhängigkeit angekämpft.

36. Er habe sein gesamtes Leben in Deutschland verbracht und verfüge über stabile soziale, wirtschaftliche und familiäre Bindungen an Deutschland. Er habe mit einer Deutschen eine Familie gegründet und spreche fließend Deutsch. Das überwiegende Interesse seiner Tochter sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Sie würde unter seiner Abschiebung erheblich leiden. Er habe stets eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt, sei von Geburt an in ihre Erziehung eingebunden gewesen und habe sich seit seiner Entlassung fast täglich um sie gekümmert. Der Umgang mit seiner Tochter sei insbesondere seit Oktober 2016 schwierig geworden, weil die Mutter grundlos versucht habe, den Kontakt zu unterbinden. Deswegen habe er beim Amtsgericht zur Durchsetzung seines Umgangsrechts Klage eingereicht und Umgangskontakte anfänglich einmal wöchentlich, später zweimal wöchentlich und an jedem zweiten Wochenende sowie die gemeinsame elterliche Sorge beantragt.

37. Demgegenüber fehle es ihm völlig an Bindungen an die Türkei. Er beherrsche die Sprache nicht gut und habe keinerlei soziale Verbindungen in das Land. Sein psychischer Gesundheitszustand sei fragil, bedürfe kontinuierlicher Behandlung und würde durch seine Abschiebung in die Türkei nachteilig beeinflusst werden; dort würde er einem erhöhten Risiko weiterer Traumatisierung ausgesetzt sein, da sein Vater, zu dem er keinen Kontakt habe und der seine Mutter getötet habe, dort lebe.

2. Die Regierung

38. Die Regierung erkannte an, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers einen Eingriff in sein „Privatleben“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstellt, und führte aus, dass es dabei dahinstehen könne, ob das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seiner Tochter als „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention zu betrachten sei. Es handele sich in jedem Fall um einen nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigten Eingriff. Die innerstaatlichen Gerichte hätten die private und familiäre Situation des Beschwerdeführers vollumfänglich berücksichtigt und die Interessen des Beschwerdeführers sorgfältig gegen die Interessen des Staates abgewogen.

39. Die von dem Beschwerdeführer begangenen Straftaten wögen aufgrund seiner Betätigung im Drogengeschäft und seines Hanges zu Gewalttaten, der hohen Anzahl an Straftaten sowie der starken Ausprägung und langen Dauer seines kriminellen Lebenswandels wie auch wegen seines wiederholten Unvermögens, nach den strafrechtlichen Verurteilungen und nach einer Drogentherapie sein Verhalten zu ändern, schwer. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf seine Mehrfachabhängigkeit berufen, um seine Straftaten zu relativieren, denn diese Abhängigkeit sei von den Strafgerichten bei der Strafzumessung bereits berücksichtigt worden. Die Verwaltungsgerichte seien nachvollziehbar zu dem Schluss gelangt, dass bei dem Beschwerdeführer eine Rückfallgefahr bestehe.

40. Die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner deutschen Tochter und das Wohl des Kindes seien hinreichend berücksichtigt worden. Es bestünden Zweifel an der Intensität dieser Beziehung, da der Beschwerdeführer und seine Tochter nur für sehr kurze Zeit zusammengelebt und sich anschließend nur gelegentlich gesehen hätten. Seine Behauptung, er spiele eine wesentliche Rolle im Leben seiner Tochter, habe der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt. Was die Unterbindung des Umgangs durch die Mutter des Kindes anbelange, so habe diese gegenüber dem Jugendamt ernstliche Zweifel an der Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Betreuung des Kindes zum Ausdruck gebracht. Die zentrale Rolle im Leben seiner Tochter spiele offensichtlich ihre Mutter. Der Beschwerdeführer könne durch Briefe oder verschiedene elektronische Kommunikationsformen Kontakt zu seiner Tochter halten und das für ihn geltende Wiedereinreiseverbot sei auf fünf Jahre befristet. Überdies sei die Ausweisung des Beschwerdeführers bereits zum Zeitpunkt der Familiengründung absehbar gewesen.

41. Auch wenn der Beschwerdeführer in Deutschland geboren und aufgewachsen sei, habe er keine starken sozialen, kulturellen oder familiären Bindungen an das Land. Er sei nicht in die deutsche Gesellschaft integriert, sei arbeitslos, verfüge nicht über eine Berufsausbildung und habe keine Aussicht darauf, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sein soziales Netzwerk beschränke sich auf die unmittelbaren Familienbande und das kriminelle Milieu. Zwar verfüge er auch nicht über ausgeprägte Verbindungen in die Türkei, aber er sei bei seinen traditionell orientierten Großeltern aufgewachsen, die ihn mit der türkischen Kultur vertraut gemacht hätten. Er beherrsche die türkische Sprache gut. Seine Möglichkeiten, dort Arbeit zu finden, seien nicht schlechter als in Deutschland. Er könne seine medizinische Behandlung in der Türkei fortsetzen und es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Lebensumstände in der Türkei sich konkret negativ auf seinen Gesundheitszustand auswirken würden.

B. Würdigung durch den Gerichtshof

42. Die maßgeblichen allgemeinen Grundsätze wurden jüngst in der Rechtssache Krasniqi ./. Österreich (Individualbeschwerde Nr. 41697/12, Rdnrn. 46 bis 49, 25. April 2017) zusammengefasst.

43. Der Gerichtshof merkt an, dass zwischen den Parteien nicht streitig ist, dass der Beschwerdeführer sich auf den Begriff des „Privatlebens“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention berufen kann und dass die gegen ihn erlassene Ausweisungsverfügung einen Eingriff in dieses Recht darstellte. Streitig ist allerdings, inwiefern der Beschwerdeführer sich auf den Begriff des „Familienlebens“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention beziehen kann. Diesbezüglich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Frage in Anbetracht der Situation zu dem Zeitpunkt bestimmt werden muss, als die Ausweisung rechtskräftig wurde, was gemäß innerstaatlichem Recht (vgl. K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 31753/02, Rdnr. 57, 28. Juni 2007) am 25. März 2015 eintrat, als das Oberverwaltungsgericht die Zulassung der Berufung ablehnte. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Beschwerdeführer hinreichend belegt hat, dass er eine Beziehung zu seiner Tochter unterhielt, die Familienleben im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstellte (vgl. Paradiso und Campanelli ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 25358/12, Rdnr. 140, 24. Januar 2017), indem er insbesondere dargetan hat, dass er in den vergangenen Jahren – obwohl er in diesem Zeitraum auch länger inhaftiert war – regelmäßig Kontakt zu ihr gehabt hat.

44. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Privat- und Familienleben stellt eine Konventionsverletzung dar, wenn er die Voraussetzungen von Artikel 8 Abs. 2 nicht erfüllt. Es gilt somit zu prüfen, ob er „gesetzlich vorgesehen“, durch eines oder mehrere der in dieser Bestimmung genannten rechtmäßigen Ziele gerechtfertigt und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Nicht streitig ist, dass die Entscheidung zur Anordnung der Ausweisung des Beschwerdeführers auf den maßgeblichen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes beruhte und Ziele verfolgte, die vollumfänglich mit der Konvention vereinbar waren , namentlich den Schutz der öffentlichen Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten.

45. Es bleibt somit zu beurteilen, ob der Entzug der Aufenthaltserlaubnis und die Ausweisung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ waren, d. h., ob diese Maßnahmen durch ein dringendes soziales Bedürfnis begründet waren und in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten rechtmäßigen Zielen standen.

46. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer von 1996 bis 2010 wiederholt wegen zahlreicher schwerer Straftaten – insbesondere im Zusammenhang mit Betäubungsmittelhandel und zum Teil unter Einsatz von Gewalt – verurteilt wurde (siehe Rdnrn. 9 bis 13). Der Schweregrad dieser Straftaten lässt sich an den Haftstrafen ablesen. Der Gerichtshof hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf das Leben von Menschen nachvollziehen kann, warum die Behörden mit großer Entschlossenheit gegen diejenigen vorgehen, die aktiv zur Verbreitung dieses Übels beitragen (siehe u. a. Salem ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 77036/11, Rdnr. 66, 1. Dezember 2016; S. /. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 45971/08, Rdnr. 27, 19. März 2013). Der Beschwerdeführer hat zumindest einen erheblichen Teil seiner Straftaten als strafmündiger Erwachsener begangen. Deshalb und aufgrund der Art und Schwere der Taten ist es ausgeschlossen, diese lediglich als typische Jugendverfehlungen einzustufen (K. ./ Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 31753/02, Rdnr. 62, 28. Juni 2007). Und schließlich muss berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer weiterhin Straftaten beging, obwohl bereits 2002 zum ersten Mal seine Ausweisung verfügt worden und die diesbezügliche Entscheidung erst am 14. Januar 2005 vom Oberverwaltungsgericht aufgehoben worden war (vgl. T. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41548/06, Rdnr. 58, 13. Oktober 2011). Vor diesem Hintergrund kann der von den innerstaatlichen Stellen gezogene Schluss, die Straftaten des Beschwerdeführers seien besonders schwerwiegend, nicht infrage gestellt werden.

47. Im Hinblick auf die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Deutschland stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer 1980 in Deutschland geboren wurde und sein gesamtes Leben dort verbracht hat. Sein Aufenthalt in Deutschland war demnach von erheblicher Dauer.

48. Im Hinblick auf das Verhalten des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass dieser im Jahr 2009 zum letzten Mal straffällig geworden ist und Ende 2014 aus der Haft entlassen wurde. Zwar ist er seitdem nicht erneut straffällig geworden, aber es muss angemerkt werden, dass er einen erheblichen Teil dieser Zeitspanne in Haft verbracht hat. Die innerstaatlichen Stellen waren der Ansicht, dem Beschwerdeführer seien bereits mehrfach Chancen zur Änderung seines Verhaltens eingeräumt worden und er habe es versäumt, diese zu nutzen, selbst wenn günstige Umstände wie eine Beziehung und die Geburt seiner Tochter Anlass zu einer Wende hätten geben können, und dass sich in seinem Leben eine Abfolge von Straftaten, Sanktionen, Resozialisierung und verhältnismäßig kurzen Zeitspannen mit gebessertem Verhalten vor dem Begehen weiterer Straftaten verstetigt habe. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass sein Verhalten seit 2009, einschließlich des erlangten Hauptschulabschlusses und der Auseinandersetzung mit seinen psychischen Problemen und seiner Mehrfachabhängigkeit, nicht den Schluss zuließ, dass keine Gefahr mehr bestehe, dass er weitere Straftaten begehen werde. Der Gerichtshof hält diese Schlussfolgerung nicht für unangemessen.

49. Im Hinblick auf die familiäre Situation des Beschwerdeführers und das Wohl des Kindes ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer nicht mit dem Kind und der Kindesmutter, die beide deutsche Staatsangehörige sind, in häuslicher Gemeinschaft lebt, und dass ein solches Zusammenleben nur für einen kurzen, etwa zweimonatigen Zeitraum zwischen der Geburt des Kindes im September 2009 und seiner Inhaftierung im November 2009 stattgefunden hat. In der Zeit der Haft und Therapie des Beschwerdeführers war ihre Beziehung eingeschränkt. Die innerstaatlichen Behörden waren der Auffassung, dass die Tochter bei ihrer Mutter lebt, die seit der Geburt des Kindes das alleinige Sorgerecht ausgeübt hat, und zogen den Schluss, dass die Mutter die zentrale Rolle im Leben des Kindes spiele. Zwar ist der Beschwerdeführer in ihre Erziehung eingebunden und seine Abschiebung aus Deutschland hätte mit Sicherheit Auswirkungen auf seine Tochter, es spricht jedoch nichts dagegen, dass der Beschwerdeführer und seine Tochter ihre Beziehung über verschiedene Kommunikationsmittel fortsetzen können, und der Beschwerdeführer hat auch nicht dargetan, dass es unmöglich wäre, dass seine Tochter ihn, zumindest in Begleitung ihrer Mutter, in der Türkei besuche. Er hat ferner auch nicht dargelegt, dass die Belange des Kindes durch seine Ausweisung anderweitig nachteilig berührt würden. Außerdem ist das Wiedereinreiseverbot auf fünf Jahre befristetet und er kann bei Vorliegen überzeugender Gründe eine Einreiseerlaubnis für einen kurze Zeitspanne beantragen (siehe Rdnr. 31).

50. Im Hinblick auf die Stabilität seiner sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland haben die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer in Deutschland geboren wurde und zeit seines Lebens in Deutschland gelebt hat. Insofern bezweifelt der Gerichtshof nicht, dass der Beschwerdeführer starke Bindungen an Deutschland hat (K., a. a. O., Rdnr. 64). Die innerstaatlichen Stellen haben aber auch betont, dass der Beschwerdeführer in seinem Gastland nicht nachhaltig integriert sei, insbesondere angesichts der fehlenden Berufsausbildung, des Umstands, dass er nie gearbeitet und im Wesentlichen von Sozialleistungen gelebt habe sowie der wahrscheinlich geringen Aussichten, künftig eine Arbeit zu finden. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass nicht einmal ein an sich bestehendes Einbürgerungsrecht einer Abschiebung entgegensteht (ebda).

51. Im Hinblick auf die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an die Türkei haben die innerstaatlichen Gerichte geschlossen, dass der Beschwerdeführer die Sprache gut beherrsche und mit den türkischen Lebensverhältnissen vertraut sei, da er von seinen Großeltern in einem eher traditionellen Umfeld erzogen worden sei. Der Gerichtshof schließt sich dieser Einschätzung zwar an, nimmt jedoch zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer die Türkei nur zwei Mal als Kind besucht hat. Was die behauptete Verschlechterung seines Gesundheitszustands bei einer Rückkehr in sein Heimatland anbelangt, die bei der Abwägung seines Privatlebens ebenfalls zu berücksichtigen ist (vgl. Bensaid ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 44599/98, Rdnr. 48, ECHR 2001‑I), erkennt der Gerichtshof an, dass der Beschwerdeführer traumatisiert ist und eine kontinuierliche Behandlung in einem vertrauten Umfeld bevorzugt. Er hat allerdings versäumt, genauer darzulegen, warum er seine Behandlung nicht in der Türkei fortsetzen kann bzw. warum die Ausweisung das Risiko einer weiteren Traumatisierung erheblich erhöhen würde.

52. Nach alledem erkennt der Gerichtshof an, dass die innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen und explizit die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien berücksichtigt haben. Unter Berücksichtigung der Schwere der von dem Beschwerdeführer begangenen Betäubungsmitteldelikte und angesichts der Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Kontrolle und Regelung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet ist der Gerichtshof überdies der Auffassung, dass es relevante und ausreichende Gründe für den Eingriff gab und dieser verhältnismäßig war, da ein gerechter Ausgleich zwischen dem Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens auf der einen Seite und der Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten auf der anderen Seite geschaffen wurde. Unter diesen Umständen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention geschützte Recht des Beschwerdeführers auf Privat- und Familienleben nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt war.

53. Folglich liegt keine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vor.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. Dezember 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                             André Potocki
Stellvertretender Sektionskanzler               Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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