EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 5318/17
B. gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 8. Januar 2019 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin
André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
und Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 13. Januar 2017 erhoben wurde,
im Hinblick auf die am 8. Oktober 2018 von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde im Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT UND VERFAHREN
1. Der 1957 geborene Beschwerdeführer, Herr B., ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in W.. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten.
2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, die ihm den Umgang mit seiner Tochter verweigerten, seine Rechte aus Artikel 8 der Konvention verletzten.
4. Die Beschwerde wurde der Regierung übermittelt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
5. Der Beschwerdeführer rügte die Entscheidungen der deutschen Familiengerichte, die ihm keinen Umgang mit seiner leiblichen Tochter gewährten, sondern lediglich zwei Mal im Jahr eine Auskunftserteilung über sie zuerkannten. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention.
6. Nachdem mehrere Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Sie brachte vor, dass die Entscheidungen der Familiengerichte in der vorliegenden Rechtssache nicht mit einer wenige Monate später ergangenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Einklang stünden. Daher beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
7. Die Erklärung lautete wie folgt:
Die Bundesregierung erkennt an, dass der Beschwerdeführer durch die Beschlüsse des Amtsgerichts A. vom 7. März 2016, Az.: 50 F 608/13 UG, und des Oberlandesgerichts A. vom 20. Juli 2016, Az.: 6 UF 98/16, in seinen Rechten aus Art. 8 EMRK verletzt wurde.
Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof die Entschädigungsforderungen des Beschwerdeführers in Höhe von 8.700,00 Euro anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 8.700,00 Euro würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das betreffende Bundesland., insbesondere die Entschädigung des Beschwerdeführers (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten. Einen Betrag von 8.700,00 Euro hält die Bundesregierung im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen für angemessen.
Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1c) der Konvention aus dem Register gestrichen wird. Die Anerkennung der Verletzung von Art. 8 EMRK der Konvention sowie der Entschädigungsforderung in Höhe von 8.700,00 Euro durch die Bundesregierung stellt einen „anderen Grund“ im Sinne dieser Vorschrift dar.“
8. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2018 erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht einverstanden sei, weil eine Entscheidung zur Streichung der Beschwerde im Register ihm nicht die Möglichkeit einer Klage zur Wiederaufnahme des Verfahrens vor den Familiengerichten gemäß § 580 Abs. 1 Nr. 8 ZPO eröffnen würde. Nur ein Urteil des Gerichtshofs würde ihn zu einer Restitutionsklage nach dieser Bestimmung berechtigen. Folglich könnte der Beschwerdeführer im Falle einer Streichung der Beschwerde im Register weiterhin keinen Umgang mit seiner Tochter haben, auch wenn die Regierung eine Verletzung des Artikels 8 der Konvention anerkenne.
9. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
10. Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
11. Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof die Erklärung im Lichte der Grundsätze geprüft, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere aus dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75-77, ECHR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03, 18. September 2007).
12. Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen, darunter einige gegen Deutschland, seine Praxis in Bezug auf Rügen festgelegt, die im Hinblick auf Verletzungen des Rechts eines leiblichen Vaters auf Umgang mit seinen Kindern und die Vereinbarkeit des Entscheidungsfindungsprozesses mit Artikel 8 der Konvention erhoben wurden (siehe z. B. F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 16112/15, 26. Juli 2018; S../. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17080/07, 15. September 2011; und Anayo./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20578/07, 21. Dezember 2010).
13. Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme – die dem in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochenen Betrag entspricht – ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine Fortsetzung der Prüfung dieser Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c).
14. Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema gewiss, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine). In diesem Zusammenhang möchte der Gerichtshof hinzufügen, dass er nicht davon überzeugt ist, dass der Beschwerdeführer eine erneute Prüfung seines Antrags auf Umgang mit seiner Tochter ausschließlich mit Hilfe eines auf einer Verletzung beruhenden Urteils des Gerichtshofs erwirken kann (siehe im Gegensatz dazu und sinngemäß D. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 35778/11, Rdnr. 25, 26. Juli 2018). Der Beschwerdeführer kann jederzeit eine Änderung der Umgangsentscheidung beantragen oder die Einleitung eines neuen Umgangsverfahrens vorschlagen, da nach deutschem Recht Entscheidungen über Kindschaftssachen mit Dauerwirkung, z. B. über das Umgangsrecht, zwar formell rechtskräftig werden, aber nicht in materielle Rechtskraft erwachsen (vgl. S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 61595/15, Rdnrn. 7, 10 und 17, 25. September 2018).
15. Nach Ansicht des Gerichtshofs sollte der von der Regierung angebotene Betrag binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention gezahlt werden. Erfolgt die Zahlung innerhalb dieser Frist nicht, fallen für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.
16. Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).
17. Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig wie folgt:
Er nimmt den Wortlaut der Erklärungen der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 8 der Konvention zur Kenntnis und ordnet folglich an,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach Bekanntgabe dieser Entscheidung 8.700 € (achttausendsiebenhundert Euro) für den materiellen und immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;
b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung für den oben genannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
er beschließt, die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register zu streichen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 31. Januar 2019.
Milan Blaško André Potocki
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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