WILLIAMSON ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 64496/17

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 64496/17
W. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 8. Januar 2019 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 28. August 2017 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, W., ist britischer Staatsangehöriger und lebt in K. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn Weiler, Rechtsanwalt in Böbrach, vertreten.

2. Der von dem Beschwerdeführer vorgetragene Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Der Beschwerdeführer ist ein ehemaliges Mitglied der Bruderschaft Saint Pius X., einer internationalen Priestervereinigung, die 1970 von dem inzwischen verstorbenen Erzbischof Marcel Lefebvre hauptsächlich als Gegenreaktion auf die vom II. Vatikanischen Konzil verabschiedeten Kirchenreformen gegründet wurde. Die Beziehungen zwischen der Bruderschaft und dem Heiligen Stuhl gestalten sich seit Jahrzehnten schwierig, insbesondere kam es zu Verwerfungen, als Erzbischof Lefebvre im Jahr 1988 ohne päpstlichen Auftrag und ungeachtet einer formellen kanonischen Ermahnung und einer persönlichen Warnung durch Papst Johannes Paul II., dass ihm dafür die Exkommunikation drohe, die Weihe von vier Bischöfen vollzog, zu denen auch der Beschwerdeführer zählte. Im Ergebnis wurden die auf diesem Wege geweihten Priester, einschließlich des Beschwerdeführers, von der Kongregation für die Bischöfe für automatisch nach dem katholischen Kirchenrecht exkommuniziert erklärt. Am 21. Januar 2009 entschied die Kongregation für die Bischöfe, die Exkommunikation des Beschwerdeführers und der anderen noch lebenden Bischöfe der Bruderschaft St. Pius X. aufzuheben. Diese Entscheidung fand weltweit große Beachtung in den Medien. 2012 wurde der Beschwerdeführer aus der Piusbruderschaft ausgeschlossen.

A. Das Interview des Beschwerdeführers mit SVT

4. Am 1. November 2008 interviewte ein Journalist des schwedischen Fernsehsenders SVT-1 den Beschwerdeführer für die im Bereich des investigativen Journalismus angesiedelte Sendung „Uppdrag granskning“ („Auftrag: „Nachforschung“). Das Interview wurde in Deutschland, im Priesterseminar der Piusbruderschaft in U., aufgezeichnet, wo der Beschwerdeführer sich vorübergehend aufhielt, um einen schwedischen Priester zum Diakon zu weihen. Der Beschwerdeführer war zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschland wohnhaft.

5. Der Journalist und der Beschwerdeführer hatten sich im Vorfeld darauf verständigt, sich auf religiöse Fragen zu konzentrieren. Nachdem es bei dem Interview etwa fünfundvierzig Minuten lang ausschließlich um Glaubensangelegenheiten gegangen war, wechselte der Journalist das Thema und es entspann sich folgender Dialog:

„Journalist: Bischof W., sind das Ihre Worte: `Da ist kein einziger Jude durch Gaskammern getötet worden. Es waren alles Lügen, Lügen, Lügen.´ Sind das Ihre Worte?

Beschwerdeführer: (nach einer Pause) Sie beziehen sich auf Kanada, glaube ich, ja, vor vielen Jahren. Ich glaube, dass die historischen Belege, die historischen Belege stark, sehr stark dagegen sprechen, dass sechs Millionen Juden vorsätzlich in Gaskammern vergast wurden als eine absichtsvolle Politik von Adolf Hitler.

Journalist: Aber Sie sagen, dass nicht ein Jude getötet wurde.

Beschwerdeführer: In Gaskammern. Ich denke…

Journalist: Also [gab es] keine Gaskammern?

Beschwerdeführer: Ich glaube, dass es keine Gaskammern gab, ja. Ich glaube, soweit ich die Belege studiert habe, ich gehe nicht nach Gefühlen, ich richte mich nach… soweit ich die Belege verstanden habe, glaube ich zum Beispiel, dass Leute, die gegen das, was heutzutage weitestgehend über `den Holocaust´ geglaubt wird, ich denke, dass die Leute, diese Leute, schlussfolgern – die Revisionisten, wie sie genannt werden – ich glaube, die Seriösesten schlussfolgern, dass zwischen zwei- und dreihunderttausend Juden in Nazikonzentrationslagern umgekommen sind, aber nicht einer von ihnen durch Vergasung in einer Gaskammer. Sie haben vielleicht vom Leuchter-Report gehört? Fred Leuchter war ein Experte für Gaskammern. Er entwickelte drei Gaskammern für drei Staaten, drei der fünfzig US-Bundesstaaten, für die Hinrichtung von Verbrechern. Er wusste also, worum es ging. Und er untersuchte, was an angeblichen Gaskammern in Deutschland, irgendwann in den achtziger Jahren, was von den angeblichen Gaskammern übrig geblieben ist, das Krematorium von Birkenau-Auschwitz zum Beispiel, und seine Schlussfolgerung, seine Experten-Schlussfolgerung war, dass es unmöglich ist, dass diese jemals dafür gedient haben können, eine große Anzahl von Menschen zu vergasen. Weil Blausäuregas sehr gefährlich ist. Wenn Sie, mal angenommen, Sie vergasen dreihundert Leute, die Sie in eine Kammer gepfercht haben und Sie vergasen diese, und wenn sie Kleider tragen, also wenn sie zum Beispiel Kleider tragen, so ist es sehr gefährlich, da reinzugehen und die Leichen herauszuziehen. Weil nur eine Spur des Gases, das in der Kleidung gefangen ist, das in der Kleidung bleibt, würde die Person töten. Es ist extrem gefährlich. Um zu… wenn Sie die Leute vergast haben, muss man es loswerden, muss das Gas herausgelassen werden, damit man die Kammer wieder betreten kann, um sie erneut nutzen zu können. Um das Gas herauszulassen, brauchen Sie einen hohen Schornstein. Wenn es ein kurzer Schornstein ist, dann strömt das Gas auf den Gehweg und tötet jeden, der vorbeikommt. Sie brauchen also einen hohen Schornstein, ja? Ich habe vergessen, wie hoch er seiner Meinung nach sein muss. Wenn Sie… Wenn dort ein hoher Schornstein gewesen wäre, dann wäre der Schatten zu jeder, die meiste Zeit des Tages, auf den Boden gefallen und die alliierten Fliegerfotografen, die über die Lager flogen, hätten den Schatten des Schornsteins aufgenommen. Es gab aber niemals solche Schatten. Es gab keinen solchen Schornstein. Was gemäß der Aussage von Fred Leuchter bedeutet, dass es keine Gaskammern gegeben haben kann. Er schaut auf die Türen und sagt: Die Tür muss absolut luftdicht sein. Sonst entweicht auch wieder Gas und tötet die Menschen draußen. Die Türen der Gaskammern, die sie in Auschwitz den Touristen zeigen, sind absolut nicht luftdicht, absolut nicht!

Journalist: Was Sie jetzt sagen ist, dass der Holocaust niemals stattgefunden hat, nicht in der Weise, wie es die Historiker heute sagen.

Beschwerdeführer: Ich sage, ich richte mich danach, was meiner Beurteilung nach die historischen Belege sind entsprechend den Aussagen von Leuten, die diese Belege begutachtet und untersucht haben. Ich glaube, dass ich mich dem, was sie schlussfolgern, anschließe… wenn sie ihre Schlussfolgerung ändern würden, dann müsste ich mich auch ihrer Schlussfolgerung anschließen, weil ich glaube, dass sie gemäß den Belegen urteilen. Ich glaube, dass zwei- bis dreihunderttausend Juden in Nazikonzentrationslagern umgekommen sind. Aber nichts dergleichen… keiner von ihnen durch eine Gaskammer. Ich weiß nicht, ob Sie wissen…

Journalist: Wenn das nicht Antisemitismus ist, was ist dann Antisemitismus?

Beschwerdeführer: Antisemitismus? Wenn Antisemitismus schlecht ist, dann richtet sich das gegen die Wahrheit. Wenn etwas wahr ist, dann ist es nicht schlecht. Mich interessiert der Begriff `Antisemitismus´ nicht, ich meine, das Wort ist sehr gefährlich.

Journalist: Der Bischof nennt Sie einen Antisemiten…

Beschwerdeführer: Der Bischof kann mich einen Dinosaurier nennen, er kann mich einen Idioten nennen, er kann mich nennen, wie er will. Das ist keine Frage von Beschimpfungen. Das ist eine Frage der historischen Wahrheit. Historische Wahrheit richtet sich nach Belegen, nicht nach Gefühlen. Es hat sicherlich eine massive Ausbeutung gegeben. Deutschland hat Milliarden über Milliarden Deutsche Mark gezahlt, und jetzt Euros, weil die Deutschen einen Schuldkomplex wegen der von ihnen vergasten sechs Millionen Juden haben. Aber ich glaube nicht, dass sechs Millionen Juden vergast wurden. Jetzt seien Sie vorsichtig, ich bitte Sie, das ist gegen das Gesetz in Deutschland, wenn hier ein deutscher…, jemand vom deutschen Staat wäre, dann könnten Sie mich ins Gefängnis werfen lassen, bevor ich Deutschland verlasse. Ich hoffe, das ist nicht Ihre Absicht. […]“

6. Am 21. Januar 2009 strahlte SVT-1 in der Sendung „Uppdrag granskning“ die Interviewpassage aus. Andere Teile des Interviews mit dem Beschwerdeführer wurden nicht gezeigt. Die Sendung war im Internet über SVT Play (den Video-on-demand-Dienst auf der SVT-Website) für einen Zeitraum von dreißig Tagen frei zugänglich. Außerdem wurden die genannten Interviewpassagen am 21. Januar 2009 auf dem schwedischen Bezahlsender SVT World gezeigt, der per Satellit in Europa empfangen werden konnte und mehrere Tausend Abonnenten in Deutschland hatte. Spätestens ab dem 23. Januar 2009 war das Interview mit dem Beschwerdeführer auf der Videoplattform YouTube verfügbar.

7. Nach der Aufzeichnung des Interviews bot der Journalist, der den Beschwerdeführer interviewt hatte, die Aufnahme einem Journalisten des deutschen Magazins „V.“ an, der zuvor über die Priesterbruderschaft St. Pius X. berichtet hatte. Am 19. Januar 2009, noch vor der Fernsehausstrahlung des Interviews, veröffentlichte „V.“ einen Artikel, in dem die Äußerungen des Beschwerdeführers zur Existenz von Gaskammern während des NS-Regimes wortwörtlich zitiert wurden. In der Folge berichteten zahlreiche große deutsche Tageszeitungen, Fernseh- und Radiosender über die Äußerungen des Beschwerdeführers.

8. Am 28. Januar 2009 beantragte der Beschwerdeführer bei den deutschen Zivilgerichten den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der die Entfernung der Interviewaufzeichnung von der SVT-Website angeordnet, die Nutzung des mit dem Beschwerdeführer geführten Interviews für andere Zwecke als die der Ausstrahlung von „Uppdrag granskning“ auf dem Sender SVT-1 untersagt und SVT verpflichtet werden sollte, die Verbreitung der Interviewaufzeichnung im Internet zu unterlassen. Der Beschwerdeführer trug in erster Linie vor, dass seine Einwilligung in die Ausstrahlung des Interviews nur in Verbindung mit der Ausstrahlung der Sendung „Uppdrag granskning“ im schwedischen Fernsehen erteilt worden sei. Am 6. Februar 2009 lehnte das Landgericht A. diesen Antrag ab und befand im Wesentlichen, dass die Verbreitung der in Rede stehenden Interviewpassagen auch über das Internet durch die grundsätzliche Zustimmung des Beschwerdeführers zu dem Interview gedeckt gewesen sei.

B. Das erste strafrechtliche Verfahren

9. Am 22. Januar 2009 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet. Am 22. Oktober 2009 erließ das Amtsgericht einen Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer, in dem er wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je 100 Euro verurteilt wurde. Auf Einspruch des Beschwerdeführers hin hielt das Amtsgericht eine Hauptverhandlung ab und verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 16. April 2010 wegen Volksverhetzung zu einer nunmehr herabgesetzten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 100 Euro. Mit Urteil vom 11. Juli 2011 hielt das Landgericht B. die Verurteilung des Beschwerdeführers aufrecht, setzte jedoch die Strafe auf 100 Tagessätze zu je 65 Euro herab. Am 22. Februar 2012 hob das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts auf und stellte das Verfahren nach § 206a StPO (siehe Rdnr. 17) ein, und zwar mit der Begründung, dass der Strafbefehl, mit dem das Verfahren seinen Anfang genommen habe, nicht den Erfordernissen entsprochen habe, da in ihm nicht alle relevanten, die Tat im strafprozessualen Sinne darstellenden Sachverhalte beschrieben gewesen seien.

C. Das in Rede stehende strafrechtliche Verfahren

10. Am 2. Oktober 2012 erließ das Amtsgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen neuen Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer, in dem er wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je 65 Euro verurteilt wurde. Auf Einspruch des Beschwerdeführers hin hielt das Amtsgericht am 16. Januar 2013 eine Hauptverhandlung ab. Mit Urteil vom selben Tage verurteilte es den Beschwerdeführer wegen Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB (siehe Rdnr. 16) zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 20 Euro.

11. Nach einem weiteren Rechtsmittel des Angeklagten hielt das Landgericht B. eine zweitägige Hauptverhandlung ab und bestätigte mit Urteil vom 23. September 2013 die Verurteilung des Beschwerdeführers einschließlich des Strafmaßes. Der Beschwerdeführer brachte in erster Linie vor, er habe erwartet, dass das Interview nur im schwedischen Fernsehen ausgestrahlt werde. Das Landgericht nahm die Interviewpassage in Augenschein und gab sie wortwörtlich im Urteil wieder. Es war der Ansicht, dass die Äußerung des Beschwerdeführers, mit der er bestritt, dass es während des NS-Regimes Gaskammern gegeben habe und dass in diesen Gaskammern Juden getötet worden seien, eine Leugnung der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermordhandlungen dargestellt und seine Aussage, wonach zwei- oder dreihunderttausend Juden in Nazikonzentrationslagern umgekommen seien, solche Völkermordhandlungen verharmlost habe. Der Beschwerdeführer habe diese Äußerungen „öffentlich“ getätigt, da die Interviewpassage in Deutschland über das Internet (SVT Play und YouTube) sowie auf dem Sender SVT World, der in Deutschland Abonnenten habe (siehe Rdnr. 6), gesehen werden konnte. Seine Leugnung und Verharmlosung des an den Juden begangenen Völkermordes habe das Andenken der jüdischen Opfer verunglimpft und sei geeignet gewesen, den öffentlichen Frieden in Deutschland erheblich zu stören.

12. Indem es feststellte, der Beschwerdeführer habe seine Äußerungen öffentlich getätigt und diesbezüglich mit bedingtem Vorsatz (Eventualvorsatz, siehe Rdnr. 16) gehandelt, war das Landgericht ferner der Auffassung, dass zwischen dem Beschwerdeführer und dem Journalisten keine konkreten Absprachen zu Verwendungs- bzw. Verwertungsbeschränkungen der Interviewaufzeichnung stattgefunden hätten, und zwar weder vor dem Interview, noch nachdem der Journalist das Thema gewechselt und eine frühere Äußerung des Beschwerdeführers zur Existenz von Gaskammern während des NS-Regimes ins Spiel gebracht habe. Der Beschwerdeführer habe den Journalisten lediglich gegen Ende des in Rede stehenden Gesprächs darum gebeten, „vorsichtig“ zu sein, und selbst festgestellt, dass die Äußerungen in Deutschland gegen das Gesetz verstießen und er deswegen vor dem Verlassen des Landes inhaftiert werden könne (siehe Rdnr. 5). Nach Auffassung des Landgerichts konnte diese Aussage nur dahingehend verstanden werden, dass der Beschwerdeführer erkannt habe, dass seine Äußerungen in Deutschland verbreitet werden könnten, und dass ihm bewusst gewesen sei, dass diese Äußerungen in Deutschland (anders als in Schweden) strafbar waren. Im Zeitpunkt seiner Äußerungen sei dem Beschwerdeführer bewusst gewesen und er habe in Kauf genommen, dass diese von einem größeren Personenkreis auch in Deutschland über Satellitenfernsehen oder Internet gesehen werden konnten, nicht zuletzt weil er zur maßgeblichen Zeit selbst das Internet genutzt habe. Ihm sei klar gewesen, dass seine Äußerungen weltweit, aufgrund der Vergangenheit des Landes insbesondere jedoch in Deutschland, auf Interesse stoßen können, dies umso mehr, als das Interview in Deutschland stattgefunden habe und zum damaligen Zeitpunkt mit Benedikt XVI. ein Deutscher Papst gewesen sei. Sein späterer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor den deutschen Zivilgerichten (siehe Rdnr. 8) könne zu keiner anderen Beurteilung führen.

13. Eine Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts sei in diesem Fall gegeben, weil die Straftat nach §§ 3 und 9 Abs. 1 Alternativen 1 und 3 StGB (siehe Rdnr. 16) in Deutschland begangen worden sei. Die von dem Beschwerdeführer im Rahmen des Interviews getätigten Äußerungen, die in Deutschland aufgezeichnet worden seien – wobei die Aufzeichnung im technischen Sinne für sich gesehen nur eine Vorbereitungshandlung gewesen sei –, hätten zur Erfüllung des Straftatbestands durch den Beschwerdeführer genügt und den Schwerpunkt der Tathandlung gebildet. Außerdem sei der Erfolg der Tathandlung in Deutschland eingetreten, wobei die strafrechtliche Verantwortung des Beschwerdeführers sich aus dem Umstand ableite, dass seine Äußerungen geeignet gewesen seien, den öffentlichen Frieden in Deutschland zu stören (abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt).

14. Am 10. April 2014 verwarf das Oberlandesgericht die Revision des Beschwerdeführers, da es in dem Urteil des Landgerichts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers zu erkennen vermochte. Am 24. April 2014 wies es eine Gehörsrüge des Beschwerdeführers und eine gegen dieses Urteil gerichtete Berufung ab.

15. Am 7. März 2017 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1269/14).

D. Das einschlägige innerstaatliche Recht

16. Gemäß § 3 Strafgesetzbuch (StGB) gilt deutsches Strafrecht für Taten, die auf deutschem Territorium begangen werden (Inlandstaten). Nach § 9 Abs. 1 StGB gilt eine Tat als u. a. an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat (Alternative 1) oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist (Alternative 3). Laut § 130 Abs. 3 StGB ist das Leugnen oder Verharmlosen von unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermordhandlungen, öffentlich oder in einer Versammlung, in einer den öffentlichen Frieden störenden Weise, als Volksverhetzung strafbar. Nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte handelt eine Person, die den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als Ergebnis ihres Handelns ernsthaft für möglich hält und in Kauf nimmt, bedingt vorsätzlich (siehe u. v. a. BGH 4 StR 84/15, Urteil vom 14. Januar 2016).

17. § 206a Strafprozessordnung (StPO) sieht die Möglichkeit der Einstellung eines Strafverfahrens vor, wenn sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis herausstellt. Wird das Verfahrenshindernis später beseitigt, kann das Strafverfahren fortgesetzt oder ein neues Strafverfahren eingeleitet werden.

RÜGE

18. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 10 der Konvention, dass durch seine strafrechtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei. Er trug insbesondere vor, dass das deutsche Strafrecht auf die in Rede stehenden Äußerungen nicht anwendbar sei, da die Straftat nicht in Deutschland begangen worden sei: Eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung habe erst entstehen können, als die Äußerungen „öffentlich“ geworden seien, also erst, als sie in Schweden – wo diese Äußerungen nicht strafbewehrt seien – ausgestrahlt und als sie ins Internet gestellt worden seien. Überdies habe er eine Ausstrahlung seiner Äußerungen in Deutschland nie beabsichtigt und alles in seiner Macht stehende unternommen, um deren Ausstrahlung dort zu verhindern.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

19. Artikel 10 der Konvention lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. […]

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten […].“

20. Die frühere Kommission und der Gerichtshof waren mit zahlreichen Rechtssachen nach Artikel 10 der Konvention befasst, bei denen es um Holocaustleugnung und andere Äußerungen im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Verbrechen ging, wobei diese Beschwerden für unzulässig erklärt wurden, weil sie entweder offensichtlich unbegründet oder im Hinblick auf Artikel 17 ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar waren (siehe Perinçek ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 27510/08, Rdnrn. 196 bis 197 und 209 bis 212, ECHR 2015 (Auszüge), m. w. N.).

21. Der Gerichtshof stellt fest, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles die Beschwerde in jedem Fall unzulässig ist. Soweit sich der Beschwerdeführer auf Artikel 10 der Konvention berufen kann, stellte seine strafrechtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung zweifelsohne einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Ein solcher Eingriff ist, wenn er nicht die Erfordernisse aus Artikel 10 Abs. 2 der Konvention erfüllt, eine Konventionsverletzung.

22. Die Rüge des Beschwerdeführers stellt im Kern nicht darauf ab, dass seine Äußerungen von den deutschen Gerichten (die die Interviewpassage wortwörtlich im Urteil wiedergaben, siehe Rdnr. 11) falsch verstanden worden wären, sondern dass diese Gerichte im Hinblick auf den Ort der Tatbegehung, die Anwendbarkeit des deutschen Rechts und die Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB fälschlicherweise das innerstaatliche Recht angewendet hätten. Insbesondere sei die Feststellung, er habe in der Absicht gehandelt, dass die in Rede stehenden Äußerungen in Deutschland ausgestrahlt würden, nicht zutreffend. Folglich sei er in der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung, die in dem einem Mitgliedstaat rechtmäßig gewesen sei, in einem anderen, wo diese nicht rechtmäßig gewesen sei, eingeschränkt worden.

23. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in erster Linie die nationalen Behörden, insbesondere die Gerichte, das innerstaatliche Recht auslegen und anwenden müssen und dass seine Aufgabe lediglich darin besteht, die von den zuständigen innerstaatlichen Gerichten im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Dabei muss er sich davon überzeugen, dass die nationalen Behörden ihre Entscheidungen auf eine angemessene Beurteilung der erheblichen Tatsachen gestützt haben (siehe M’Bala M’Bala ./. Frankreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 25239/13, Rdnr. 30, ECHR 2015 (Auszüge), m. w. N.).

24. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Gerichtshof insbesondere den Umstand, dass der Beschwerdeführer eingewilligt hatte, das Interview in Deutschland zu geben, obwohl er zu diesem Zeitpunkt nicht dort wohnhaft war (siehe Rdnr. 4), wobei ihm bekannt war, dass die Äußerungen, die er tätigte, in Deutschland strafbar waren (siehe Rdnr. 5). Er hat sich während des Interviews nicht dahingehend geäußert, dass er darauf bestehe, dass es nicht in Deutschland ausgestrahlt werde, und hat sich mit dem Journalisten oder dem Fernsehsender nicht darüber verständigt, wie die Veröffentlichung des Interviews ablaufen würde. Er hat sich auf einen Hinweis an den Journalisten beschränkt, dieser möge „vorsichtig“ sein, da die Äußerungen in Deutschland strafbar seien und vor Verlassen des Landes strafrechtlich geahndet werden könnten (siehe Rdnr. 5). Dem Beschwerdeführer muss klar gewesen sein, dass das Interview in Deutschland insbesondere über Video-on-demand-Dienste oder über ein Abonnement des schwedischen Auslandssenders gesehen werden konnte. Folglich befindet der Gerichtshof, dass das Landgericht die erheblichen Tatsachen angemessen beurteilt hat, insofern die Sachverhaltsfeststellung auf § 9 Abs. 1 Alternative 1 StGB beruht, d. h. dass die Tat in Deutschland begangen wurde, weil der Schwerpunkt der Tathandlung, das Interview, dort stattfand; ferner dass die Äußerungen des Beschwerdeführers auch im Hinblick auf Deutschland „öffentlich“ getätigt wurden, den diesbezüglichen bedingten Vorsatz des Beschwerdeführers, die Tatbegehung in Deutschland und die Anwendbarkeit des deutschen Rechts (siehe Rdnrn. 12 bis 13 und 16). Der Gerichtshof ist überzeugt, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers gesetzlich vorgeschrieben war – insbesondere von § 130 Abs. 3 StGB – und die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts hauptsächlich auf der Grundlage der §§ 3 und 9 Abs. 1 StGB (siehe Rdnr. 16) vorhersehbar war und dem rechtmäßigen Ziel der Verhinderung einer Störung des öffentlichen Friedens in Deutschland und somit der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten diente.

25. Folglich muss der Gerichtshof prüfen, ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Die einschlägigen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs fest etabliert und wurden in Perinçek (a. a. O., Rdnrn. 196 bis 197) zusammengefasst.

26. Das Landgericht, das die Interviewpassage in Augenschein nahm und sie wortwörtlich im Urteil wiedergab, war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer explizit bestritten habe, dass es während des NS-Regimes Gaskammern gegeben habe und dass in diesen Gaskammern Juden getötet worden seien, und ausdrücklich erklärt habe, dass nicht mehr als zwei- bis dreihunderttausend Juden in nationalsozialistischen Konzentrationslagern umgekommen seien, womit er folglich die entsprechenden Völkermordhandlungen verharmlost habe (siehe Rdnrn. 5 und 11). Es befand, dass sein Leugnen und Verharmlosen des an den Juden begangenen Völkermordes das Andenken der jüdischen Opfer verunglimpft habe und geeignet gewesen sei, den öffentlichen Frieden in Deutschland erheblich zu stören. Der Gerichtshof sieht keine Veranlassung, dieser Einschätzung zu widersprechen und hält es für bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer sich weder vom Inhalt seiner Äußerungen distanziert, noch eine Fehlinterpretation dieses Inhalts durch die deutschen Gerichten geltend gemacht hat. Er hat lediglich im Nachgang versucht, durch Antrag auf Erlass einer Unterlassungsanordnung (siehe Rdnr. 8) gegen die Ausstrahlung und Verfügbarkeit des Interviews in Deutschland vorzugehen, um der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entgehen. Dies legt für den Gerichtshof den Schluss nahe, dass der Beschwerdeführer beabsichtigte, sein Recht auf freie Meinungsäußerung zur Förderung von Ideengut einzusetzen, das dem Wortlaut und dem Geist der Konvention zuwiderläuft. Dies spielt eine gewichtige Rolle bei der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs (siehe Perinçek, a. a. O., Rdnrn. 209 bis 212).

27. Das Landgericht befand ferner, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich gehandelt habe, da er, obwohl ihm die Strafbarkeit seiner Äußerungen in Deutschland bekannt gewesen sei, keine konkreten Absprachen zu Verwendungs- bzw. Verwertungsbeschränkungen der Interviewaufzeichnung getroffen habe und ihm demnach bewusst war, dass das Interview in Deutschland verbreitet und angesehen werden konnte (siehe Rdnr. 12). Es stellte fest, ihm sei klar gewesen, dass seine Äußerungen weltweit, aufgrund der Vergangenheit des Landes insbesondere jedoch in Deutschland, auf Interesse stoßen können, umso mehr, als das Interview in Deutschland stattgefunden habe und zum damaligen Zeitpunkt mit Benedikt XVI. ein Deutscher Papst gewesen sei. Der Gerichtshof sieht keine Veranlassung, von dieser Einschätzung abzuweichen und weist erneut darauf hin, dass er bei der Prüfung, ob ein dringendes soziales Bedürfnis für einen Eingriff in Konventionsrechte besteht, stets den historischen Kontext der Hohen Vertragspartei besonders berücksichtigt hat und dass bei Staaten, die die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten erlebt haben, im Lichte ihrer historischen Rolle und Erfahrung von einer besonderen moralischen Verantwortung ausgegangen werden kann, sich von den massenhaften Gräueltaten der Nationalsozialisten zu distanzieren (siehe Perinçek, a. a. O., Rdnrn. 242 bis 243, m. w. N.; siehe auch N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35285/16, 13. März 2018). Angesichts des Umstands, dass dem Beschwerdeführer mit 90 Tagessätzen zu je 20 Euro eine sehr milde Strafe auferlegt wurde, befindet der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Behörden, die relevante und hinreichende Gründe angeführt haben, ihren Ermessensspielraum folglich nicht überschritten haben. Der Eingriff war daher in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“.

28. Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention ist. Sie ist daher nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention für unzulässig zu erklären.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 31. Januar 2019.

Claudia Westerdiek                          André Potocki
Kanzlerin                                         Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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