RECHTSSACHE WUNDERLICH ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 18925/15

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE W. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 18925/15)
URTEIL
STRASSBURG
10. Januar 2019

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache W. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 27. November 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 18925/15) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, W. und W. („die Beschwerdeführer“), am 16. April 2015 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten.

2. Die Beschwerdeführer wurden von Herrn. C., Rechtsanwalt aus W., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerdeführer trugen vor, dass die deutschen Behörden mit dem Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts, darunter auch des Aufenthaltsbestimmungsrechts, durch die Übertragung dieser Teile auf das Jugendamt und durch die Vollstreckung des Entzugs in Form der zwangsweisen Trennung der Kinder von den Beschwerdeführern und ihrer Heimunterbringung für die Dauer von drei Wochen ihre Rechte aus Artikel 8 der Konvention verletzt hätten.

4. Am 30. August 2016 wurde die Regierung über die Rüge nach Artikel 8 der Konvention erstens hinsichtlich der Entscheidung über den Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts und zweitens hinsichtlich der zwangsweise herbeigeführten behördlichen Inobhutnahme der Kinder der Beschwerdeführer im August 2013 in Kenntnis gesetzt. Im Übrigen wurde die Beschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für unzulässig erklärt.

5. Es gingen schriftliche Stellungnahmen des European Centre for Law and Justice und des Ordo Iuris – Institute for Legal Culture ein, die vom Vizepräsidenten ermächtigt worden waren, sich als Drittbeteiligte am Verfahren zu beteiligen (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Die 19.. geborene Beschwerdeführerin W. und der 19.. geborene Beschwerdeführer W. sind Eheleute.

7. Die Beschwerdeführer sind die Eltern von vier Kindern: M. (geboren 19..), J. (geboren 20..), H. (geboren 20..) und S. (geboren 20..).

8. Die Beschwerdeführer lehnen das staatliche Schulwesen und die Schulpflicht ab und wollen ihre Kinder selbst zu Hause unterrichten. Im Jahr 2005 wurde die älteste Tochter M. schulpflichtig. Die Beschwerdeführer lehnten die Anmeldung an einer Schule ab. Gegen die Beschwerdeführer wurden mehrere Bußgeld- und Strafverfahren wegen der Nichteinhaltung der Vorschriften zur Schulpflicht geführt. Die Beschwerdeführer akzeptierten die Entscheidungen und zahlten die Bußgelder und Geldstrafen, änderten ihr Verhalten aber nicht.

9. Von 2008 bis 2011 befanden sich die Beschwerdeführer mit ihren Kindern im Ausland. 2011 kehrten sie dauerhaft nach Deutschland zurück, meldeten ihre Kinder aber in keiner Schule an.

B. Die in Rede stehenden Verfahren

10. Mit Schreiben vom 13. Juli 2012 teilte das Staatliche Schulamt dem zuständigen Familiengericht mit, dass die Beschwerdeführer den Schulbesuch ihrer Kinder gezielt und beharrlich verweigern würden, und übersandte eine chronologische Auflistung bisheriger Bußgeldbescheide und strafrechtlicher Ermittlungen gegen die Beschwerdeführer, u. a. wegen des Schlagens einer der Töchter, sowie weiterer Vorfälle seit 2005. Das Staatliche Schulamt gelangte zu dem Schluss, die Kinder wüchsen fern jeglicher sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen in einer „Parallelwelt“ auf und erhielten keinerlei Zuwendung, die es ihnen ermöglichen würde, am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilzuhaben. Es regte daher eine gerichtliche Maßnahme nach § 1666 BGB (siehe Rdnr. 25) an und führte zur Begründung aus, dass das Wohl der Kinder durch die systematische Verhinderung der Möglichkeit einer Teilhabe am „normalen“ Leben gefährdet sei. Das Jugendamt unterstützte den Antrag des Staatlichen Schulamts. Nach Auffassung des Jugendamts gefährdete die beharrliche Weigerung der Beschwerdeführer das Wohl der Kinder.

11. Das Familiengericht leitete ein Verfahren ein und hörte die Beschwerdeführer, ihre Kinder und das Jugendamt an. Weiterhin bestellte das Gericht einen Verfahrensbeistand für die Kinder. In der mündlichen Verhandlung am 6. September 2012 erklärten die Beschwerdeführer, sie hätten die wegen Verletzung der Schulpflicht verhängten Bußgeldbescheide beglichen und würden trotz staatlicher Sanktionen die Kinder weiter zu Hause unterrichten. Bereits in einer früheren schriftlichen Stellungnahme hatten die Beschwerdeführer bekräftigt, sie wollten ihre Kinder nicht zur Schule schicken, und erklärt, die Behörden müssten die Kinder aus der Familie herausreißen und ihnen völlig wegnehmen, wenn sie jemals die öffentliche Schule besuchen sollten. Die Kinder erklärten in der Sitzung, dass der Unterricht überwiegend durch die Mutter für alle vier Kinder erfolge; der Unterricht beginne üblicherweise um 10:00 Uhr und ende um 15:00 Uhr, dazwischen gebe es eine Pause für das Mittagessen, das von der Mutter zubereitet werde.

12. Am 6. September 2012 entzog das Familiengericht den Beschwerdeführern das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten sowie das Recht zur Antragstellung bei Ämtern und Behörden für ihre Kinder und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt. Außerdem gab es den Beschwerdeführern die Herausgabe der Kinder an das Jugendamt zur Durchsetzung der Schulpflicht auf und ermächtigte das Jugendamt zur Anwendung von Gewalt, sofern erforderlich. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die beharrliche Weigerung der Kindeseltern, ihre Kinder der öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, nicht nur § 67 des Schulgesetzes des betroffenen Bundeslandes (siehe Rdnr. 31) verletze, sondern auch einen Missbrauch der elterlichen Sorge darstelle, der das Wohl der Kinder nachhaltig gefährde. Unabhängig davon, ob der Hausunterricht der Kinder eine hinreichende Wissensvermittlung gewährleiste, hindere der fehlende Schulbesuch die Kinder daran, in das Gemeinschaftsleben hineinzuwachsen und soziale Fertigkeiten wie Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung zu erlernen. Zum Erwerb dieser Fertigkeiten sei es notwendig, die Kinder auch anderen Einflüssen als denen des Elternhauses auszusetzen. Mildere Mittel, schloss das Gericht, stünden nicht zur Verfügung. Aufgrund der beharrlichen Weigerung der Beschwerdeführer, ihre Kinder zur Schule zu schicken, könne nur durch den Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts der durchgehende Schulbesuch der Kinder gewährleistet und Schaden durch den Heimunterricht von ihnen abgewendet werden.

13. Die Beschwerdeführer legten gegen diesen Beschluss Beschwerde ein.

14. Mit Schreiben vom 15. November 2012 kündigte das Jugendamt den Beschwerdeführern an, am 22. November 2012 eine Lernstandserhebung durchführen zu wollen, und bat die Beschwerdeführer, die Kinder am selbigen Tag zur Abholung bereit zu halten. Am 22. November 2012 versuchte ein Mitarbeiter des Jugendamts als Vormund der Kinder diese dem Staatlichen Schulamt zur Leistungsüberprüfung zuzuführen. Die Kinder weigerten sich mitzukommen. Auch ein weiterer Versuch am selben Tag, die Kinder mit zwei Mitarbeitern des Ordnungsamts und einer Polizeistreife einer Lernstandserhebung zuzuführen, scheiterte an der Weigerung der Kinder. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2012 wurden den Beschwerdeführern zwei Termine (19. Dezember 2012 und 17. Januar 2013) für eine Lernstandserhebung der Kinder im Haus der Familie mitgeteilt. Die Beschwerdeführer legten dem Staatlichen Schulamt Erklärungen vor, nach denen die Kinder sich an der Lernstandserhebung nicht beteiligen wollten. Mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 teilte das Staatliche Schulamt dem Rechtsanwalt der Beschwerdeführer mit, dass zur Sicherstellung des Schulbesuchs der Kinder unter anderem im Vorfeld eine Lernstandserhebung notwendig sei. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass auf die Durchführung einer solchen Lernstandserhebung am 19. Dezember 2012 verzichtet worden sei, aber der Termin am 17. Januar 2013 aufrecht erhalten bliebe. Zum Termin im Januar 2013 wurden die Mitarbeiter des Staatlichen Schulamts jedoch nicht ins Haus gelassen. Der Vater sprach mit den Mitarbeitern und erläuterte, dass er die Entscheidung des Familiengerichts für rechtswidrig halte und lediglich er selbst die Befugnis habe, über den Schulbesuch seiner Kinder zu entscheiden.

15. Am 25. April 2013 wies das Oberlandesgericht die Beschwerde der Kindeseltern zurück, präzisierte aber, dass die Beschwerdeführer das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder für die Zeit der Schulferien in dem betroffenen Bundesland behielten. Das Oberlandesgericht stellte zunächst fest, dass bis zu diesem Zeitpunkt kein Schulbesuch der Kinder erfolgt sei, obwohl die Vollziehung des Beschlusses nicht ausgesetzt worden sei. Außerdem stellte es fest, dass sämtliche Versuche, eine Lernstandserhebung durchzuführen, am Widerstand der Kinder und der Eltern gescheitert seien. Zur Rechtslage führte das Oberlandesgericht aus, dass der Beschluss des Teilentzugs der elterlichen Sorge nach §§ 1666 und 1666a BGB (siehe Rdnrn. 25 und 26) voraussetze, dass eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vorliege und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage seien, diese Gefahr abzuwenden. Ob eine Gefährdung vorliege, sei im Rahmen eines Abwägungsprozesses zu prüfen, in dem die Rechte und Interessen der Kinder und der Eltern sowie das Interesse der Gesellschaft zu berücksichtigen seien. Insbesondere sei der Entzug der elterlichen Sorge nicht damit begründbar, den Kindern solle bestmögliche Bildung zukommen, sondern lediglich damit, dass eine Gefährdung der Kinder verhindert werden solle. Unter Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache schloss das Oberlandesgericht, dass die beharrliche Weigerung der Beschwerdeführer, für den Schulbesuch ihrer Kinder Sorge zu tragen, das Kindeswohl gefährde. Die konkrete Kindeswohlgefährdung liege in dem Festhalten der Kinder in einem „symbiotischen“ Familiensystem und der Versagung einer Form von Bildung, die den anerkannten und für den weiteren Werdegang innerhalb der Gesellschaft grundlegenden Standards entspreche. Der von den Beschwerdeführern erteilte Unterricht könne den fehlenden Schulbesuch nicht ausgleichen. Ein einschließlich der Mittagspause fünfstündiger Hausunterricht, der für alle vier Kinder gleichzeitig durchgeführt werde, könne nicht ausreichend sein, um jedem Kind ein seinem Alter entsprechendes Bildungsangebot zu offerieren. Zudem würden die Kinder keinen Sportverein, keine Musikschule und auch keine ähnliche Einrichtung besuchen, wo weitere, für die Kinder wichtige Kompetenzen erlernt werden könnten. Aus dem gesamten Vortrag der Beschwerdeführer ergebe sich außerdem, dass es diesen vornehmlich um eine starke Bindung der Kinder an die Eltern unter Ausschluss Dritter gehe. Weiterhin würden sie mit ihrer beharrlichen Weigerung ihren Kindern vermitteln, unliebsame Regelungen des Gemeinschaftslebens müssten nicht beachtet werden. Mildere Maßnahmen, schloss das Oberlandesgericht, stünden nicht zur Verfügung, denn aus dem bisherigen Verhalten und den Stellungnahmen der Beschwerdeführer ergebe sich, dass der Erlass von bloßen Geboten unwirksam gewesen wäre. Folglich sei der Teilentzug der elterlichen Sorge durch das Familiengericht korrekt gewesen.

16. Am 9. Oktober 2014 lehnte das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen. Die Entscheidung wurde den Beschwerdeführern am 16. Oktober 2014 zugestellt.

17. In einem späteren Verfahren (siehe Rdnr. 23) übertrug das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 15. August 2014 das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Beschwerdeführer zurück.

C. Die Herausnahme der Kinder aus der Familie

18. Für den 26. August 2013 lud das Jugendamt zu einem Gespräch zwischen den Beschwerdeführern, ihrem Anwalt, dem Jugendamt und dem Staatlichen Schulamt. In dem Gespräch machten die Beschwerdeführer deutlich, dass sie eine Beschulung der Kinder außerhalb der Familie grundsätzlich ablehnten. Außerdem erklärte Herr W. unter anderem, er betrachte Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern.

19. Am 29. August 2013 wurden die Kinder der Beschwerdeführer aus der Familie herausgenommen und in einem Kinderheim untergebracht. Sie mussten jeweils einzeln mit Hilfe der Polizei aus dem Haus getragen werden, nachdem sie den durch den Gerichtsvollzieher erfolgten Aufforderungen, freiwillig mitzukommen, nicht gefolgt waren.

20. Am 12. und am 16. September 2013 wurden während zwei Schulterminen jeweils neunzigminütige Lernstandserhebungen durchgeführt, um den Schul- und Unterrichtsbedarf der Kinder zu bestimmen.

21. In ihren schriftlichen Stellungnahmen vom 10. September 2013 zu einem anderen Verfahren vor dem Familiengericht stimmten die Beschwerdeführer der Beschulung der Kinder zu. Am 19. September 2013 hörte das Familiengericht die Beschwerdeführer, ihre Kinder und eine Mitarbeiterin des Staatlichen Schulamts an. In der Folge wurden die Kinder am selben Tag wieder an die Beschwerdeführer herausgegeben, da die Beschwerdeführer sich nunmehr gewillt zeigten, ihre Kinder beschulen zu lassen.

D. Weiterer Fortgang

22. Nach ihrer Rückführung am 19. September 2013 wurden die Kinder im Schuljahr 2013/2014 beschult. Am 16. Mai 2014 erstattete das Staatliche Schulamt Strafanzeige gegen die Beschwerdeführer wegen Nichteinhaltung der Vorschriften zur Schulpflicht. Am 25. Juni 2014 meldeten die Beschwerdeführer ihre Kinder wieder von der Schule ab.

23. In einem Parallelverfahren übertrug das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 15. August 2014 das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Beschwerdeführer zurück. Entsprechend seinen Ausführungen im Beschluss vom 25. April 2013 (siehe Rdnr. 15) befand das Oberlandesgericht, dass die beharrliche Weigerung der Beschwerdeführer, ihre Kinder zur Schule zu schicken, eine Kindeswohlgefährdung darstelle und dass weder der zeitweilige Schulbesuch noch die durchgeführte Lernstandserhebung zu einer anders lautenden Schlussfolgerung geführt hätten. Jedoch hätten sich die Gegebenheiten im Vergleich zum August 2013 geändert. Damals hätten laut Informationen des Jugendamts verschiedene Faktoren zur Herausnahme der Kinder aus der Familie geführt: eine Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Kinder durch den Kindesvater habe nicht ausgeschlossen werden können; das Scheitern der Versuche, die Kinder unter Einbeziehung der Polizei der Schule zuzuführen, habe die Gefahr geborgen, dass die Kinder verinnerlichten, Gesetze hätten für sie keine Gültigkeit; Versuche, eine Lernstandserhebung durchzuführen, seien am Widerstand der Beschwerdeführer gescheitert; und es habe nach damaligem Kenntnisstand Grund zur Befürchtung bestanden, dass die Kinder außerhalb der Familie keinerlei Kontakt zu anderen Personen hatten. Anhand der seit der Herausnahme der Kinder durch das Jugendamt erhobenen Informationen sei nun auszuschließen, dass den Kindern durch die Eltern eine Gefährdung ihrer körperlichen Unversehrtheit drohe. Die Lernstandserhebung habe zudem ergeben, dass der Wissensstand der Kinder nicht besorgniserregend sei und dass die Kinder nicht gegen ihren Willen vom Schulbesuch abgehalten würden. Da eine dauerhafte Fremdunterbringung der Kinder die einzige Möglichkeit wäre, eine fortdauernde Beschulung der Kinder sicherzustellen, sei eine solche Maßnahme nicht mehr verhältnismäßig, da die Folgen für die Kinder schwerer wiegen würden als der Heimunterricht durch die Kindeseltern. Das Oberlandesgericht betonte allerdings, dass aus dieser Entscheidung nicht der Schluss zu ziehen sei, dass den Beschwerdeführern der Heimunterricht der Kinder gestattet sei. Es stellte in diesem Zusammenhang fest, dass das Staatliche Schulamt bereits Strafanzeige gegen die Beschwerdeführer wegen Nichteinhaltung der Vorschriften zur Schulpflicht erstattet habe, was zu einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten Dauer führen könne.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Grundgesetz (GG)

24. Artikel 6 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. […]“

B. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

25. § 1666 BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

[…]

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,

2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,

3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,

4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,

5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,

6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.“

26. § 1666a BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […]

(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.“

27. § 1696 BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(2) Eine Maßnahme nach den §§ 1666 bis 1667 oder einer anderen Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die nur ergriffen werden darf, wenn dies zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung oder zum Wohl des Kindes erforderlich ist (kindesschutzrechtliche Maßnahme), ist aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist.“

28. Nach einem früheren Beschluss des Bundesgerichtshofs (XII ZB 42/07, 17. Oktober 2007) stellt die beharrliche Weigerung der Eltern, ihre Kinder der öffentlichen Grundschule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, einen Missbrauch der elterlichen Sorge dar, der das Wohl der betroffenen Kinder gefährdet und Maßnahmen des Familiengerichts nach §§ 1666 und 1666a BGB erfordert. Der teilweise Entzug des elterlichen Sorgerechts und die Anordnung einer Pflegschaft seien im Grundsatz geeignet, einem solchen Missbrauch der elterlichen Sorge entgegenzuwirken. Der Bundesgerichtshof gelangte ferner zu dem Schluss, unter Umständen könne es angemessen sein, einen Pfleger zu ermächtigen, die Herausgabe der Kinder notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchung der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei zu erzwingen.

C. Schulgesetz des betroffenen Bundeslandes

29. § 56 des Schulgesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Schulpflicht besteht für alle Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Lande X. ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Ausbildungs- oder Arbeitsstätte haben.

(2) Die Schulpflicht ist durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen. Ausländische Schülerinnen und Schüler können die Schulpflicht auch an als Ergänzungsschulen staatlich anerkannten Schulen in freier Trägerschaft erfüllen, die auf das Internationale Baccalaureat oder Abschlüsse eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union vorbereiten. Über Ausnahmen entscheidet die Schulaufsichtsbehörde. Sie setzen einen wichtigen Grund voraus.

[…]“

30. § 60 des Schulgesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Die Vollzeitschulpflicht wird durch den Besuch einer öffentlichen Schule der Grund- und Mittelstufe (Primar- und Sekundarstufe I) erfüllt.

(2) Die Vollzeitschulpflicht kann durch den Besuch einer Ersatzschule erfüllt werden. Anderweitiger Unterricht außerhalb der Schule darf nur aus zwingenden Gründen von der Schulaufsichtsbehörde gestattet werden.

[…]“

31. Die maßgeblichen Teile des § 67 des Schulgesetzes lauten wie folgt:

„(1) Die Eltern sind dafür verantwortlich, dass die Schulpflichtigen am Unterricht und an den Unterrichtsveranstaltungen der Schule regelmäßig teilnehmen. Sie sind verpflichtet, die Schulpflichtigen bei der zuständigen Schule an- und abzumelden, erforderlichenfalls zur Entscheidung über die Schulaufnahme vorzustellen und sie für den Schulbesuch angemessen auszustatten.

[…]“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

32. Die Beschwerdeführer rügten, dass die deutschen Behörden mit dem Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts, darunter auch des Aufenthaltsbestimmungsrechts, durch die Übertragung dieser Teile auf das Jugendamt und durch die Vollstreckung des Entzugs in Form der zwangsweisen Trennung der Kinder von den Beschwerdeführern und ihrer Heimunterbringung für die Dauer von drei Wochen ihr Recht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention verletzt hätten. Artikel 8 lautet wie folgt:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […].

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

33. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

34. Die Regierung trug vor, dass die Beschwerde im Hinblick auf die Entscheidung des Jugendamts, die Kinder, in Ausübung des ihm übertragenen Aufenthaltsbestimmungsrechts, vom 29. August bis zum 19. September 2013 in Obhut zu nehmen, unzulässig sei. Die im April 2015 beim Gerichtshof eingegangene Beschwerde sei nach Ablauf der in Artikel 35 Abs. 1 der Konvention festgesetzten Sechsmonatsfrist eingegangen, die mit der Heimunterbringung der Kinder zwischen dem 29. August und dem 19. September 2013 begonnen habe.

35. Die Beschwerdeführer traten diesem Vorbringen entgegen.

36. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Sechsmonatsfrist nach Artikel 35 Abs. 1 die zeitliche Grenze für die Prüfung durch den Gerichtshof zieht und Privatpersonen und Behörden auf die Frist hinweist, nach deren Ablauf eine solche Prüfung nicht mehr möglich ist. Das Bestehen einer solchen Frist begründet sich im Willen der Hohen Vertragsparteien, zu verhindern, dass frühere Urteile ständig in Frage gestellt werden, und ist Ausdruck des berechtigten Bemühens um Ordnung, Stabilität und Rechtsfrieden (siehe Sabri Güneş ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 27396/06, Rdnr. 40, 29. Juni 2012, m. w. N.). Artikel 47 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bestimmt das Datum der Beschwerdeerhebung näher und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„Für die Zwecke des Artikels 35 Absatz 1 der Konvention ist als Datum der Beschwerdeerhebung in der Regel das Datum anzusehen, zu dem ein Beschwerdeformular beim Gerichtshof eingereicht worden ist, das den Erfordernissen nach diesem Artikel entspricht. Als Absendetag gilt das Datum des Poststempels.“

37. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Herausnahme der Kinder aus der Familie die Vollstreckung des Beschlusses des Familiengerichts vom 6. September 2012 darstellte und folglich untrennbar mit diesem verbunden ist. Die Beschwerdeführer legten gegen diesen Beschluss Beschwerde ein und erschöpften die innerstaatlichen Rechtsbehelfe mit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde, die nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde den Beschwerdeführern am 16. Oktober 2014 (siehe Rdnr. 16) zugestellt. Das ordnungsgemäß ausgefüllte Beschwerdeformular der Beschwerdeführer mit Kopien aller relevanten Unterlagen wurde am 16. April 2015 an den Gerichtshof gesandt. Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die Beschwerde der Beschwerdeführer innerhalb der Sechsmonatsfrist eingereicht worden ist.

38. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Rüge nicht im Sinne des Artikels 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet oder aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

39. Die Beschwerdeführer trugen vor, die deutschen Behörden hätten in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung des Familienlebens nicht nur durch den Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts und deren Übertragung auf das Jugendamt, sondern auch durch die Vollstreckung des Beschlusses und die Heimunterbringung der Kinder für die Dauer von drei Wochen eingegriffen. Das Ziel dieser Eingriffe sei nicht legitim gewesen – insbesondere hätten sie nicht den Schutz der Gesundheit, der Rechte und der Freiheiten der Kinder zum Ziel gehabt –, da die Kinder Unterricht erhalten hätten und die Herausnahme der Kinder aus dem Elternhaus sie nicht geschützt, sondern geschädigt habe. Auch seien diese Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Erstens hätten keine hinreichenden Belege für eine Gefährdung der Kinder, geschweige denn relevante und hinreichende Gründe für die Herausnahme der Kinder und den Entzug des elterlichen Sorgerechts vorgelegen. Zweitens hätten die Behörden nicht im Sinne des Kindeswohls gehandelt, sondern lediglich zur Verhinderung von Heimunterricht und Durchsetzung der Vorschriften zur Schulpflicht. Drittens hätten die Behörden keine milderen Mittel bemüht, nicht auf eine Wiedervereinigung der Familie hingewirkt und die Elternrechte nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf die Beschwerdeführer zurückübertragen. Schlussendlich seien die Entscheidungen der Behörden auf der Grundlage von falschen Vorstellungen über den Heimunterricht und der fälschlichen Annahme, dieser würde zu sozialer Isolation und Bildungsdefiziten führen, getroffen worden. Diese Annahmen hätten aber nicht auf Tatsachen beruht.

40. Die Regierung erkannte an, dass die Entscheidung über den Entzug u. a. des Aufenthaltsbestimmungsrechts und die später erfolgte zwangsweise Trennung der Kinder von ihren Eltern Eingriffe in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens dargestellt hatten. Die Eingriffe seien aber gesetzlich vorgesehen gewesen und hätten das legitime Ziel verfolgt, die Gesundheit, die Rechte und die Freiheiten der Kinder der Beschwerdeführer zu schützen. Zudem seien die Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Die deutschen Behörden hätten auf Grundlage der zum maßgeblichen Zeitpunkt vorliegenden Informationen festgestellt, dass das Kindeswohl gefährdet und daher der teilweise Entzug des elterlichen Sorgerechts geboten gewesen sei. Die Kinder hätten seit Jahren trotz der in Deutschland bestehenden Schulpflicht keine öffentliche Schule besucht. Der Unterricht insbesondere durch die Mutter habe als unzureichend angesehen werden müssen, da die Kinder pro Tag lediglich fünf Stunden Unterricht, unterbrochen von einer Mittagspause, erhalten hätten und trotz ihres unterschiedlichen Alters mit dem gleichen Lernstoff gemeinsam unterrichtet worden seien. Zudem habe es ihnen an regelmäßigem Umgang mit der Gesellschaft gefehlt und sie hätten kaum Gelegenheit zum Kontakt mit Gleichaltrigen, etwa beim Musikunterricht oder in einem Sportverein, oder zum Erlernen sozialer Kompetenzen gehabt. Folglich seien sie isoliert in ihrer eigenen Familienenklave aufgewachsen, wo die Beschwerdeführer für eine starke Bindung der Kinder an ihre Person unter Ausschluss Dritter gesorgt hätten. Die Gerichte seien daher zutreffend davon ausgegangen, dass ein „symbiotisches“ Familiensystem entstanden sei. Weitere Informationen hätten den Behörden nicht vorgelegen, da die Beschwerdeführer sich einer näheren Überprüfung des Zustands der Kinder durch das Jugendamt oder das Staatliche Schulamt beharrlich widersetzt hätten. Die innerstaatlichen Gerichte, insbesondere das Oberlandesgericht, hätten die zutreffenden und hinreichenden Gründe in ihren Entscheidungen umfassend ausgeführt. Die Gerichte hätten auch geprüft, ob mildere Mittel zur Verfügung gestanden hätten, seien aber zutreffend zu dem Schluss gekommen, dass angesichts des bisherigen Verhaltens der Beschwerdeführer und ihrer beharrlichen Ablehnung aushäusiger Beschulung, auf die nicht einmal Strafen eingewirkt hätten, keine anderweitigen Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Ferner seien die Kinder nach der Durchführung der Lernstandserhebung und der erfolgten Zustimmung der Beschwerdeführer, ihre Kinder einer öffentlichen Schule zuzuführen, wieder an ihre Eltern herausgegeben worden.

41. Der Drittbeteiligte Ordo Iuris trug vor, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sich jeder Eingriff in das Recht auf Familienleben und insbesondere in das Zusammensein von Elternteil und Kind am Kindeswohl ausrichten müsse. Auf Verfahrensebene müssten Entscheidungen auf relevanten und hinreichenden Gründen beruhen, die Eltern müssten in das Verfahren eingebunden werden und die Trennung der Kinder von den Eltern sollte nur als letztes Mittel und für die kürzest mögliche Dauer erfolgen. Ordo Iuris trug weiterhin vor, durch den Heimunterricht als solchen sei die Herausnahme der Kinder aus dem Elternhaus nicht zu rechtfertigen, und nahm ausführlich Stellung zum Schutz eines Rechts auf Heimunterricht gemäß der Konvention, insbesondere unter Bezugnahme auf Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention. Der Drittbeteiligte European Centre for Law and Justice trug ebenso vor, dass Heimunterricht unter dem Schutz von Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention stehen sollte.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

42. Unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Parteien und Drittbeteiligten hält es der Gerichtshof für erforderlich, zunächst den Umfang der Individualbeschwerde klarzustellen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde die Vereinbarkeit eines zeitweisen Entzugs von Teilen des elterlichen Sorgerechts sowie der Vollstreckung dieses Beschlusses mit Artikel 8 der Konvention betrifft. Zwar liegt der Rüge das in Deutschland geltende Verbot von Heimunterricht zugrunde, der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass er über die Frage der Vereinbarkeit dieses Verbots mit der Konvention, insbesondere mit Artikel 8 sowie Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls, bereits entscheiden hat (siehe u. a. K. u. a. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35504/03, 11. September 2006; D. u. a. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 319/08, 2455/08, 7908/10, 8152/10 und 8155/10, 13. September 2011; und L. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19844/92, Entscheidung der Kommission vom 9. Juli 1992) und dass der diesbezügliche Teil der Beschwerde bereits für unzulässig erklärt wurde (siehe Rdnr. 4).

43. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Parteien sich einig sind, dass der Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts, deren Übertragung auf das Jugendamt und die Vollstreckung des Beschlusses durch die Herausnahme der Kinder aus dem Elternhaus und durch ihre Heimunterbringung für die Dauer von drei Wochen Eingriffe in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention darstellten. Ferner ist unstrittig, dass diese Eingriffe auf §§ 1666 und 1666a BGB beruhten (siehe Rdnrn. 25 und 26). Der Gerichtshof schließt sich den Schlussfolgerungen an.

44. Derartige Eingriffe stellen eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, sie verfolgen ein legitimes Ziel und können als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden. In diesem Zusammenhang trugen die Beschwerdeführer vor, die Ziele der Eingriffe seien nicht legitim gewesen, da die Inobhutnahme der Kinder diese nicht geschützt, sondern geschädigt habe. Die Regierung trug hingegen vor, dass die behördlichen Entscheidungen den Schutz der Gesundheit, der Rechte und der Freiheiten der Kinder der Beschwerdeführer zum Ziel gehabt hätten.

45. Der Gerichtshof stellt fest, dass §§ 1666 und 1666a BGB (siehe Rdnrn. 25 und 26) den Schutz des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes zum Ziel haben. Es ist nicht ersichtlich, dass sie in der vorliegenden Rechtssache zu einem anderen Zweck angewandt wurden. Folglich ist der Gerichtshof überzeugt, dass das Handeln der Behörden auf die legitimen Ziele ausgerichtet war, die „Gesundheit oder Moral“ und die „Rechte und Freiheiten anderer“ zu schützen.

46. Bei der Frage, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, ist zu prüfen, ob in Anbetracht der Rechtssache in ihrer Gesamtheit die zur Rechtfertigung der Maßnahme angeführten Gründe „relevant und hinreichend“ waren. Nach Artikel 8 muss zwischen den Interessen des Kindes und denen des Elternteils ein gerechter Ausgleich herbeigeführt werden und dabei dem Wohl des Kindes, das je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen des Elternteils vorgehen kann, besonderes Gewicht beigemessen werden (siehe E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48, 50, ECHR 2000‑VIII; T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001‑V (Auszüge); H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnrn. 48, 49, 5. Dezember 2002; und W. u. a. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 68125/14 und 72204/14, Rdnr. 68, 22. März 2018).

47. Bei der Prüfung der zur Rechtfertigung der betreffenden Maßnahmen angeführten Gründe berücksichtigt der Gerichtshof gebührlich den Ermessensspielraum, der den zuständigen innerstaatlichen Behörden eingeräumt wird, die insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten hatten, oftmals zum eigentlichen Zeitpunkt, zu dem Fürsorgemaßnahmen in Betracht gezogen wurden, oder unmittelbar nach deren Durchführung (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 46544/99, Rdnr. 66, ECHR 2002‑I). Der Ermessensspielraum unterscheidet sich je nach Art der streitigen Fragen und dem Gewicht der betroffenen Interessen, wie einerseits der Bedeutung, die dem Schutz eines Kindes in einer Situation zukommen muss, in der eine ernsthafte Gefährdung seiner Gesundheit oder Entwicklung zu erwarten ist, und andererseits dem Ziel, die Familie zusammenzuführen, sobald die Umstände dies erlauben (K. und T. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25702/94, Rdnr. 155, ECHR 2001‑VII; Mohamed Hasan ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 27496/15, Rdnr. 145, 26. April 2018). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass den Behörden bei der Beurteilung der Notwendigkeit, ein Kind in Obhut zu nehmen, ein großer Ermessensspielraum zusteht (siehe K. und T. ./. Finnland, a.a.O., Rdnr. 155). Zudem trägt der Gerichtshof der Tatsache Rechnung, dass zwischen den Vertragsstaaten in Abhängigkeit von verschiedenen Aspekten, etwa den Traditionen in Bezug auf die Rolle der Familie und staatliche Eingriffe in Familienangelegenheiten sowie den verfügbaren Mitteln für staatliche Maßnahmen in diesem Bereich, unterschiedliche Vorstellungen über die Zweckmäßigkeit staatlicher Eingriffe in die Kindessorge bestehen. Dem Wohl des Kindes kommt jedoch in jedem Fall eine entscheidende Bedeutung zu (siehe K., a.a.O., Rdnr. 66).

48. In der vorliegenden Rechtssache weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Kind in einem für seine Erziehung günstigeren Umfeld untergebracht werden könnte, an sich nicht rechtfertigen kann, es im Wege einer Zwangsmaßnahme der Betreuung durch seine biologischen Eltern zu entziehen; es müssen andere Umstände vorliegen, die auf die „Notwendigkeit“ eines derartigen Eingriffs in das Recht von Eltern auf Familienleben mit ihrem Kind aus Artikel 8 der Konvention schließen lassen (siehe K. und T. ./. Finnland, a.a.O., Rdnr. 173).

49. Er stellt ferner fest, dass die deutschen Gerichte den Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts mit dem Verweis auf eine Gefährdung der Kinder rechtfertigten. Die Gerichte bewerteten die Gefährdungslage auf Grundlage der beharrlichen Weigerung der Beschwerdeführer, ihre Kinder einer Schule zuzuführen, die ihnen nicht nur den Erwerb von Wissen, sondern auch von sozialen Kompetenzen, etwa Toleranz und Durchsetzungsvermögen, und den Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie, insbesondere Gleichaltrigen, ermöglichen würde. Das Oberlandesgericht befand weiter, die Kinder der Beschwerdeführer würden in einem „symbiotischen“ Familiensystem festgehalten.

50. Ferner weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass er sich mit Rechtssachen zur Schulpflicht und dem Ausschluss von Heimunterricht im deutschen Bildungssystem bereits befasst hat. Er hat festgestellt, dass der Staat mit der Einführung eines solchen Systems die Integration von Kindern in die Gesellschaft sicherstellen und der Entstehung von Parallelgesellschaften vorbeugen wollte und dass diese Erwägungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bedeutung des Pluralismus für die Demokratie übereinstimmen und in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten bei der Schaffung und Auslegung von Regeln für ihre Bildungssysteme fallen (siehe K. u. a.; D. u. a.; und L.; alle a.a.O.).

51. Der Gerichtshof befindet, dass die Durchsetzung der Schulpflicht zur Vermeidung der sozialen Isolation der Kinder der Beschwerdeführer und zur Sicherstellung ihrer Integration in die Gesellschaft einen relevanten Grund zur Rechtfertigung des Entzugs von Teilen des elterlichen Sorgerechts darstellte. Ferner befindet er, dass die innerstaatlichen Behörden auf Grundlage der ihnen vorliegenden Informationen davon ausgehen konnten, dass die Kinder seitens der Beschwerdeführer einer Gefährdung durch den ausbleibenden Schulbesuch und durch das Festhalten in einem „symbiotischen“ Familiensystem ausgesetzt waren.

52. Soweit die Beschwerdeführer vortrugen, dass aus der Lernstandserhebung hervorgegangen sei, dass die Kinder einen ausreichenden Wissensstand, soziale Kompetenzen und einen liebevollen Umgang mit ihren Eltern hätten, stellt der Gerichtshof fest, dass diese Informationen dem Jugendamt und den Gerichten zum Zeitpunkt der Entscheidung über den zeitweisen Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts und die Inobhutnahme nicht vorlagen. Demgegenüber konnten die Behörden unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagen insbesondere von Herrn W., etwa seiner Äußerung, Kinder seien das „Eigentum“ ihrer Eltern, nach damaligem Kenntnisstand davon ausgehen, dass die Kinder isoliert lebten, keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie hatten und eine Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit bestand (siehe Rdnrn. 10, 18 und 23). Außerdem weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Fehlurteile oder -einschätzungen von Fachkräften nicht per se dazu führen, dass Maßnahmen betreffend die Sorge für die Person des Kindes mit den Erfordernissen aus Artikel 8 unvereinbar sind. Gesundheits- und Sozialbehörden sind zum Schutz von Kindern verpflichtet und können nicht jedes Mal verantwortlich gemacht werden, wenn sich echte und nachvollziehbare Sorgen hinsichtlich der Sicherheit von Kindern gegenüber Mitgliedern ihrer Familie im Nachhinein als fehlgeleitet herausstellen (siehe R. K. und A. K. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 38000/05, Rdnr. 36, 30. September 2008). Ferner möchte der Gerichtshof hinzufügen, dass die Nichtverfügbarkeit der entsprechenden Informationen auf den Widerstand zurückzuführen war, den die Beschwerdeführer vor der Herausnahme der Kinder gegenüber der Durchführung einer Lernstandserhebung zeigten.

53. Zur Prüfung, ob die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe auch im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 hinreichend waren, muss der Gerichtshof feststellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes den Beschwerdeführern den erforderlichen Schutz ihrer Interessen gewährleistet hat (siehe u. a. T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rdnr. 72, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 89, 10. November 2005). Der Gerichtshof stellt fest, dass das Familiengericht die Beschwerdeführer, ihre Kinder und das Jugendamt anhörte und einen Verfahrensbeistand für die Kinder zur Vertretung ihrer Interessen bestellte. Zudem legten die Beschwerdeführer den innerstaatlichen Gerichten ausführliche Schriftsätze vor. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer die Möglichkeit hatten, alle ihre Argumente gegen den zeitweisen Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts vorzubringen, und dass die sich aus Artikel 8 der Konvention ergebenden Verfahrenserfordernisse erfüllt waren.

54. Schließlich hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die Beschlüsse, Teile des elterlichen Sorgerechts zu entziehen und die Kinder in Obhut zu nehmen, verhältnismäßig waren. Die innerstaatlichen Gerichte begründeten ausführlich, warum mildere Maßnahmen als die Inobhutnahme der Kinder nicht zur Verfügung standen. Die Gerichte befanden insbesondere, dass das bisherige Verhalten der Beschwerdeführer und ihr beharrlicher Widerstand gegenüber verschiedenen Maßnahmen gezeigt hätten, dass der Erlass von bloßen Geboten unwirksam gewesen wäre. Der Gerichtshof stellt fest, dass nicht einmal zuvor angeordnete Ordnungsgelder sich auf die Weigerung der Beschwerdeführer ausgewirkt hatten, ihre Kinder einer Schule zuzuführen. Er hält daher unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte für vertretbar.

55. Der Gerichtshof möchte ferner erneut darauf hinweisen, dass angesichts der Schwere von Maßnahmen, bei denen Eltern und Kinder getrennt werden, sichergestellt werden sollte, dass sie nicht länger dauern, als die Kindesrechte dies erforderlich machen, und dass der Staat, wo immer möglich, Maßnahmen zur Zusammenführung der Kinder und Eltern treffen sollte (siehe T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rdnr. 78, m. w. N.). Diesbezüglich stellt er fest, dass die Kinder nach der Durchführung der Lernstandserhebung und der Zustimmung der Beschwerdeführer, ihre Kinder einer Schule zuzuführen, wieder an ihre Eltern herausgegeben wurden. Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die tatsächliche Fremdunterbringung der Kinder nicht länger als für das Kindeswohl erforderlich andauerte und auch nicht auf besonders harte oder ungewöhnliche Weise durchgesetzt wurde (siehe K. und T. ./. Finnland, a.a.O., Rdnr. 173). Diesbezüglich stellt der Gerichtshof außerdem fest, dass die Beschwerdeführer nicht die Unterbringung ihrer Kinder in einer bestimmten Einrichtung oder die Behandlung ihrer Kinder während der Inobhutnahme gerügt haben.

56. Soweit die Beschwerdeführer rügten, dass der Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts erst im August 2014 wieder aufgehoben wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass nach der ersten Lernstandserhebung die Entwicklung der Kinder über einen längeren Zeitraum gründlicher beurteilt werden musste und hierfür ihr durchgehender Schulbesuch erforderlich war. Weiterhin befindet der Gerichtshof, dass durch den bestehenden, aber nicht vollstreckten Beschluss keine erkennbare tatsächliche Beeinträchtigung entstanden ist (vgl. R. K. und A. K. ./. Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rdnr. 38).

57. Die vorstehenden Ausführungen sind ausreichend, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass „relevante und hinreichende“ Gründe für den Entzug von Teilen des elterlichen Sorgerechts und die Herausnahme der Kinder aus der Familie vorlagen. Die innerstaatlichen Gerichte haben einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Wohl der Kinder und den Interessen der Beschwerdeführer herbeigeführt, ohne dabei den Ermessensspielraum, der den innerstaatlichen Stellen zusteht, zu überschreiten.

58. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Rüge nach Artikel 8 der Konvention wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 10. Januar 2019 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                             Yonko Grozev
Kanzlerin                                            Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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