RECHTSSACHE JOHANNA FRÖHLICH ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE F. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 16741/16)
URTEIL
STRASSBURG
24. Januar 2019

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache F. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 18. Dezember 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 16741/16) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die eine deutsche Staatsangehörige, F. („die Beschwerdeführerin“), am 17. März 2016 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Die Beschwerdeführerin wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Am 7. Juli 2016 wurde die Beschwerde, die die Dauer des zivilgerichtlichen Verfahrens zum Gegenstand hat, der Regierung übermittelt.

4. Am selben Tag erklärte der Vizepräsident der Sektion in Einzelrichterbesetzung die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Die Beschwerdeführerin wurde 19.. geboren und lebt in B.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. 2003 erwarb die Beschwerdeführerin eine von vier Wohneinheiten einer Wohneigentumsanlage, die sie mit ihrer Familie bezog.

7. Im Januar 2005 beantragten sie und die Eigentümer der anderen drei Wohneinheiten beim Landgericht die Einleitung eines selbständigen Beweisverfahrens gegen den Bauträger wegen angeblicher Mängel an den Wohneinheiten, insbesondere an dem Entwässerungssystem. Am 25. Februar 2005 beschloss das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens von H.K., einem Sachverständigen für Wohngebäude; H.K. erstellte ein auf den 16. Juli 2005 datiertes Gutachten und trug dem Gericht seine Feststellungen vor, zuletzt in einer mündlichen Anhörung am 30. März 2007.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Entschädigungsverfahren

8. Am 23. Juni 2007 reichte die Beschwerdeführerin Klage gegen den Bauträger ein, mit der sie Entschädigungsansprüche wegen angeblicher Mängel an ihrer Wohneinheit geltend machte, nämlich Mängel am Entwässerungssystem sowie an anderen Gebäudeteilen, die zu Durchfeuchtungen und Schimmelbefall an den Wänden geführt hätten. Insgesamt machte sie Entschädigungsansprüche in Höhe von etwa 17.000 Euro geltend.

9. In den folgenden Monaten und nachdem die Beschwerdeführerin einen Gerichtskostenvorschuss geleistet hatte, übermittelte das Landgericht die Klageschrift der Beschwerdeführerin und die Klageerwiderung der Beklagten an die anderen Verfahrensparteien; ferner verlängerte es die der Beschwerdeführerin zur Beantwortung gesetzte Frist, leitete den Schriftsatz der Nachbarn der Beschwerdeführerin weiter (in dem diese (i) erklärten, dem Verfahren im Wege der Nebenintervention betreten zu wollen, und (ii) 8.000 Euro Schadenersatz geltend machten), führte eine mündliche Anhörung durch, in der es die Sach- und Rechtslage erörterte und einen Vergleich vorschlug, wartete auf einen Vorschlag der Beschwerdeführerin als Grundlage für eine gütliche Einigung und leitete weitere Schriftsätze der Parteien weiter.

10. Am 17. März 2008, nachdem die Beschwerdeführerin einen Vergleich endgültig abgelehnt hatte, beschloss das Landgericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens von H.K., der bereits an dem selbständigen Beweisverfahren beteiligt gewesen war. In den folgenden Wochen legte die Beschwerdeführerin Beschwerde gegen den Beweisbeschluss ein und beantragte die Ablehnung von H.K. wegen Besorgnis der Befangenheit. Am 26. Juni 2008 schlug das Landgericht erneut einen Vergleich vor, nachdem die Parteien und die beigetretenen Kläger weitere Schriftsätze eingereicht hatten. Am darauffolgenden Tag übersandte es die Verfahrensakte an H.K. Die Parteien tauschten mehrfach Schriftsätze und Vorschläge aus, bei denen es um die Grundlage für eine gütliche Einigung ging. Am 14. Juli 2008 lud H.K. die Parteien zu einem Ortstermin, der am 28. August 2008 stattfand. Anschließend teilte H.K. den Parteien mit, dass ein weiterer Ortstermin notwendig sei; dieser fand schließlich am 22. Oktober 2008 statt.

11. Am 5. Januar 2009 verfügte das Landgericht eine Sachstandsanfrage an H.K.; H.K. beantwortete diese Anfrage mit der Mitteilung, dass er dringend operiert werden müsse, wodurch sich das Gutachten voraussichtlich um mindestens acht Wochen verzögern werde. Am 11. Februar 2009 teilte die Ehefrau von H.K. dem Landgericht mit, dass es aufgrund der Erkrankung ihres Ehemannes zu einer weiteren Verzögerung von mindestens sechs Monaten kommen werde. Das Landgericht setzte die Parteien hiervon in Kenntnis und forderte sie zur Stellungnahme auf. Die Beschwerdeführerin beantragte, H.K. zu ersetzen.

12. Am 23. Februar 2009 entband das Landgericht H.K. und forderte ihn zur Rücksendung der Verfahrensakte auf. Am 31. März 2009 sandte H.K. die Verfahrensakte zurück. Am 12. Mai 2009 ersuchte das Landgericht die IHK um die Benennung geeigneter Sachverständiger. Am 26. Mai 2009 schlug die IHK zwei Sachverständige vor, darunter G.K. Am selben Tag leitete das Landgericht diese Vorschläge an die Parteien weiter. Am 15. Juni 2009 lehnten die Beklagten beide Vorschläge ab. Am 17. Juni 2009 gab die Beschwerdeführerin eine weitere Stellungnahme ab und beantragte Akteneinsicht. Am 2. Juli 2009 sandte der Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin die Akte an das Gericht zurück. Am 7. Juli 2009 forderte das Landgericht die Beschwerdeführerin auf, einen weiteren Gerichtskostenvorschuss zu leisten, was sie am 3. August 2009 auch tat. Am 7. August 2009 machte das Landgericht einen Vorschlag zur weiteren Vorgehensweise bezüglich des Sachverständigen. Am 20. August 2009 erklärte sich die Beschwerdeführerin damit einverstanden. Am selben Tag leitete das Landgericht die Erklärung der Beschwerdeführerin, mit dem vorgeschlagenen Sachverständigen einverstanden zu sein, an die Beklagten weiter.

13. Am 25. September 2009 änderte das Landgericht den Beweisbeschluss (siehe Rdnr. 10) ab und beschloss die Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen G.K. Die folgenden vier Monate waren von einem Streit zwischen G.K., dem Landgericht und der Beschwerdeführerin bezüglich der Höhe des weiteren Gerichtskostenvorschusses bestimmt; im Laufe dieses Streits wurden verschiedene Stellungnahmen abgegeben und Einwendungen erhoben. Der Streit dauerte bis Mitte Januar 2010 an.

14. Am 28. Mai 2010 fragte das Landgericht bei G.K. hinsichtlich des Sachstands nach. Am 26. Juni 2010 teilte das Büro von G.K. dem Landgericht mit, dass der Sachstandsbericht erst in der 28. Kalenderwoche (12.-18. Juli 2010) vorliegen werde. Am 10. August 2010 fragte das Landgericht bei G.K. nochmals hinsichtlich des Sachstands nach. Am 31. August 2010 teilte G.K. dem Landgericht mit, dass er überlastet sei, und schlug vor, H.K. (den ursprünglichen Sachverständigen) erneut zu bestellen; die Parteien erklärten sich damit einverstanden.

15. Am 21. September 2010 bestellte das Landgericht H.K. als Sachverständigen.

16. Am 30. September 2010 lud H.K. die Parteien zu einem weiteren Ortstermin, der für den 28. Oktober 2010 vorgesehen war. Der Termin musste jedoch mehrfach verlegt werden – ein Mal, weil die Beklagten verhindert waren und drei Mal, weil die Beschwerdeführerin verhindert war; schließlich fand der Termin am 17. Januar 2011 statt. Am 4. Mai 2011 beschwerte sich die Beschwerdeführerin darüber, wie lange der Sachverständige für die Erstellung seines Gutachtens brauche.

17. Am 9. Mai 2011 fragte das Landgericht bei H.K. hinsichtlich des Sachstands nach. Am 18. Mai 2011 teilte H.K. dem Gericht mit, dass das Gutachten in der 22. Kalenderwoche (30. Mai – 5. Juni 2011) vorliegen werde. Am 5. August 2011 legte H.K. sein schriftliches Gutachten vor.

18. Am 8. August 2011 übersandte das Landgericht den Parteien das Sachverständigengutachten mit einer Frist zur Stellungnahme binnen fünf Wochen. Am 30. August 2011 legte die Beschwerdeführerin Erinnerung gegen den Kostenansatz für das Sachverständigengutachten ein und beantragte eine Fristverlängerung, um zu dem Gutachten inhaltlich Stellung nehmen zu können. Am 10. Oktober 2010 begründete die Beschwerdeführerin ihre Erinnerung und legte eine Stellungnahme zum Inhalt des Sachverständigengutachtens vor. Das Landgericht forderte auch H.K. zur Stellungnahme auf.

19. Am 5. Dezember 2011 wies das Landgericht die Erinnerung der Beschwerdeführerin gegen den Kostenansatz für das Sachverständigengutachten zurück. Am 20. Dezember 2011 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde gegen diese Entscheidung ein, welche sie unter dem 20. Januar 2012 begründete. Am 12. März 2012 befand das Oberlandesgericht, dass der Kostenansatz für das Sachverständigengutachten falsch berechnet worden sei und hob die Entscheidung über diesen Kostenansatz auf.

20. Am 11. Mai 2012 forderte das Landgericht H.K. auf, seine Auffassung zu den Stellungnahmen der Parteien zu seinem Sachverständigengutachten mitzuteilen. Am 24. Mai 2012 teilte die Ehefrau von H.K. dem Landgericht mit, dass er erneut erkrankt sei, und dass unklar sei, wann er genesen würde. Am 29. Mai 2012 setzte das Landgericht die Parteien hiervon in Kenntnis und forderte sie zur Stellungnahme auf. Am 22. Juni 2012 beantragte die Beschwerdeführerin eine Verlängerung der Frist zur Stellungnahme. Am 3. Juli 2012 beantragte die Beschwerdeführerin Akteneinsicht.

21. Am 24. Juli 2012 bestimmte das Landgericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. Oktober 2012.

22. Am 12. Oktober 2012 fand die mündliche Verhandlung statt, in der sich die Parteien auf eine gütliche Einigung verständigten.

2. Verfahren betreffend die Entschädigung wegen überlanger Dauer des Zivilverfahrens

23. Am 23. Juli 2012 reichte die Beschwerdeführerin beim Oberlandesgericht Klage ein, mit der sie einen Entschädigungsanspruch wegen überlanger Dauer des Zivilverfahrens geltend machte.

24. Am 30. Januar 2013 wies das Oberlandesgericht die Klage als unbegründet zurück. Unter ausdrücklichem Verweis auf § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (siehe Rdnr. 18) sowie auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention und Urteile des Gerichtshofs befand es, dass das Verfahren vor dem Landgericht nicht unangemessen lang gedauert habe.

25. Das Oberlandesgericht führte aus, der Ausgangspunkt für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer müsse der Grundsatz sein, dass das Gericht ein Verfahren zügig führen müsse. Das Gericht müsse alle Möglichkeiten zu einer beschleunigten Durchführung des betreffenden Verfahrens nutzen. Eine vertretbare Rechtsauffassung und eine prozessordnungsgemäße Leitung des Verfahrens durch das Gericht, auch wenn sie zu einer Verlängerung des Gerichtsverfahrens geführt hätten, könnten einen Entschädigungsanspruch nicht begründen. Es sei zu prüfen, ob es eine Verzögerung gegeben habe, die jedenfalls grundsätzlich geeignet sei, einen Entschädigungsanspruch zu begründen; dabei seien in verschiedenen Verfahrensstadien festgestellte Verzögerungen zu addieren. Schließlich bedürfe es einer Gesamtabwägung, ob die Verfahrensdauer angemessen gewesen sei, wobei alle Umstände der Rechtssache zu berücksichtigen seien, insbesondere die Komplexität und die Schwierigkeit des Verfahrens.

26. Ausgehend von diesen Grundsätzen prüfte das Oberlandesgericht alle Verfahrensstadien und führte aus, dass das Landgericht das Verfahren im Allgemeinen hinreichend zügig gefördert und lediglich im Sommer 2010 eine Verzögerung verursacht habe, weil es den Sachverständigen zur maßgeblichen Zeit nicht hinreichend angeleitet und die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen habe, um eine rechtzeitige Erstattung des Sachverständigengutachtens sicherzustellen. Hätte das Gericht dies getan, wäre die Überlastung des Sachverständigen bereits früher ersichtlich gewesen und es hätte schon früher ein anderer Sachverständiger bestellt werden können. Ferner sei zu berücksichtigen, dass das Verfahren komplex gewesen sei; insbesondere sei der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht komplex und die Beweisaufnahme schwierig gewesen. Zudem seien auf Seiten der Beschwerdeführerin weitere drei Parteien als Streitgenossen beigetreten, was erheblich zu der Verfahrensdauer beigetragen habe. Auch habe die Beschwerdeführerin während des gesamten Verfahrens wiederholt Anträge gestellt, Einwendungen erhoben und Rechtsbehelfe eingelegt, was ebenfalls erheblich zu der Verfahrensdauer beigetragen habe. Schließlich berücksichtigte das Oberlandesgericht, dass die Beschwerdeführerin selbst dem Verfahren erhebliche Bedeutung beigemessen habe, sowohl aus finanziellen als auch gesundheitlichen Gründen. Dennoch erscheine die Verfahrensdauer insgesamt betrachtet nicht unangemessen lang.

27. Am 5. Dezember 2013 wies der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführerin zurück. Er befand, dass das Urteil vom 30. Januar 2013 mit § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes und mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vereinbar sei.

28. Die Beschwerdeführerin legte Verfassungsbeschwerde ein; am 3. Februar 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 157/14).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

29. Nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes hat ein Verfahrensbeteiligter, der infolge unangemessener Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet, Anspruch auf angemessene Entschädigung. Soweit maßgeblich, lautet § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes wie folgt:

„(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION

30. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Verfahrensdauer nicht mit dem Gebot der angemessenen Frist nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem […] Gericht […] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

31. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

32. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist das selbständige Beweisverfahren nicht Teil des hier in Rede stehenden Verfahrens (siehe Lamprecht ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 71888/01, 25. März 2004). Der zu berücksichtigende Zeitraum begann somit am 23. Juni 2007 und endete am 12. Oktober 2012. Er dauerte in einer Gerichtsinstanz fünf Jahre und knapp vier Monate.

A. Zulässigkeit

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Er stellt insbesondere fest, dass der nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes geltend gemachte Entschädigungsanspruch keinen Erfolg hatte. Daher kann die Beschwerdeführerin noch behaupten, Opfer einer Verletzung zu sein (siehe Majewski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 52690/99, Rdnr. 33, 11. Oktober 2005). Folglich ist die Beschwerde für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

34. Die Beschwerdeführerin behauptete, dass die Dauer des Verfahrens das Gebot der „angemessenen Frist“ nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Insbesondere das Landgericht sei seiner Pflicht nicht nachgekommen, Fristen für die zu erstellenden Sachverständigengutachten zu setzen, wodurch das Verfahren beschleunigt worden wäre. Die Verletzung dieser Pflicht sei umso offensichtlicher geworden, je länger das Verfahren gedauert habe. Als der ursprüngliche Sachverständige habe ersetzt werden müssen, habe zudem die Bestellung der neuen Sachverständigen zu lange gedauert. Die Beschwerdeführerin erinnerte den Gerichtshof daran, dass zuvor ein selbständiges Beweisverfahren durchgeführt worden sei, in dem von demselben Sachverständigen Beweise erhoben worden seien und das etwa zwei Jahre und sieben Monate gedauert habe. Schließlich sei das Landgericht verpflichtet gewesen, unmittelbar nach Vorlage des Sachverständigengutachtens am 5. August 2010 eine mündliche Verhandlung anzuberaumen; es hätten keine überzeugenden Gründe vorgelegen, bis zum 12. Oktober 2012 zu warten.

35. Die Beschwerdeführerin trug weiter vor, dass das Verfahren für sie von großer Bedeutung gewesen sei, insbesondere im Hinblick auf den in Rede stehenden Betrag und die konkrete Art der Baumängel, die eine Gesundheitsgefahr für sie und ihre Familie dargestellt hätten. Zudem sei das Verfahren nicht komplex gewesen, was daran ersichtlich sei, dass es nur zwei gerichtliche Anhörungen und drei Ortstermine gegeben habe. Auch sei das Verfahren nicht dadurch verzögert worden, dass mehr als zwei Parteien an ihm beteiligt gewesen seien. Die Beschwerdeführerin brachte schließlich vor, dass die lange Dauer des Verfahrens nicht ihr anzulasten sei, weil ihre sämtlichen Stellungnahmen, Anträge und Rechtsbehelfe angemessen gewesen seien.

36. Die Regierung trug vor, dass das Landgericht das Verfahren stets zügig gefördert habe; es könnten keine erheblichen Zeiträume der Untätigkeit festgestellt werden. Schriftsätze habe es regelmäßig sofort weitergeleitet. Dass das Gericht gelegentlich nicht sofort eine Maßnahme veranlasst habe, sei eindeutig darauf zurückzuführen, dass es weitere Entwicklungen habe abwarten oder komplizierte Rechtsfragen habe prüfen müssen. Das Landgericht sei auch seiner Pflicht nachgekommen, die Erstellung des Sachverständigengutachtens voranzutreiben. Die insoweit entstandenen Verzögerungen seien nicht dem Landgericht anzulasten, denn der erste Sachverständige sei erkrankt, der zweite habe mehr Zeit benötigt als erwartet und der wieder beauftragte erste Sachverständige sei erneut erkrankt. Das Landgericht habe den Sachverständigen zwar keine Fristen gesetzt, es habe aber davon ausgehen können, dass diese Sachverständigen das Gutachten zügig erstellen würden. Dies gelte insbesondere für den Zeitraum zwischen dem 21. September 2010 und der Abgabe des Sachverständigengutachtens am 5. August 2011, da der Sachverständige seine Aufgabe kurzfristig übernommen habe.

37. Bezüglich des Zeitraums vom 5. August 2011 bis zum 12. Oktober 2012 trug die Regierung ferner vor, dass die Beschwerdeführerin und die Beklagten neu vorgetragen und gesetzliche Fristen ausgeschöpft (und deren Verlängerung beantragt) hätten, d. h. ihre Stellungnahmen jeweils erst kurz vor Fristablauf eingereicht hätten. Schließlich habe die Beschwerdeführerin Beschwerde gegen eine Entscheidung des Landgerichts eingereicht, und zwar erneut unter Ausschöpfung der entsprechenden Fristen. Darüber hinaus sei es gerechtfertigt gewesen, am 24. Juli 2012 einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. Oktober 2012 zu bestimmen, weil mehrere Rechtsanwälte zu laden gewesen seien. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass das Verfahren durchaus komplex gewesen sei, weil (i) eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich gewesen sei, (ii) es während des gesamten Verfahrens neuen, umfangreichen und sich ändernden Sachvortrag gegeben habe und (iii) mehrere Parteien beteiligt gewesen seien, die jeweils von einem anderen Rechtsanwalt vertreten worden seien. Die Sache sei zwar von einer gewissen Bedeutung für die Beschwerdeführerin gewesen, Gegenstand der Klage seien aber ausschließlich Geldforderungen gewesen. Schließlich habe die Beschwerdeführerin nach Ansicht der Regierung zu der Verfahrensdauer beigetragen, insbesondere indem sie Beschlüsse des Gerichts über den Kostenvorschuss angefochten habe und in Vergleichsverhandlungen eingetreten sei.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

38. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Anbetracht der besonderen Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: der Komplexität des Falls, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u. v. a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).

39. Der Gerichtshof merkt an, dass die innerstaatlichen Behörden grundsätzlich besser als ein internationaler Gerichtshof in der Lage sind, den Sachverhalt einer Rechtssache zu beurteilen. Auch erkennt der Gerichtshof an, dass die innerstaatlichen Gerichte einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage haben, ob die Verfahrensdauer in dem ihnen vorliegenden Fall eine angemessene Frist überschritten hat. Dennoch müssen sie bei ihrer Prüfung und Bewertung Regeln anwenden, die mit den in der Konvention verankerten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Grundsätzen vereinbar sind (siehe Majewski, a. a. O., Rdnr. 34).

40. Was die Komplexität der Rechtssache angeht, nimmt der Gerichtshof die Tatsache zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte das Verfahren als durchaus komplex eingeschätzt haben, und zwar im Hinblick auf den Sachverhalt, die erforderliche Beweisaufnahme und die Anzahl der beigetreten Parteien. Er teilt daher die Auffassung, dass der Fall zumindest eine gewisse Komplexität aufwies. Es wurden von mehreren Parteien verschiedene Mängel an der Wohnanlage behauptet, die von einem Sachverständigen begutachtet werden mussten (siehe Wohlmeyer Bau GmbH ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 20077/02, Rdnr. 52, 8. Juli 2004).

41. Was das Verhalten der Beschwerdeführerin angeht, haben die innerstaatlichen Gerichte nach Ansicht des Gerichtshofs die Verfahrensdauer zum Teil mit Verweis auf die Anzahl ihrer Anträge, Einwendungen und Rechtsbehelfe erklärt. Der Gerichtshof teilt die Auffassung, dass der regelmäßige neue Sach- und Rechtsvortrag, die Ablehnung der vorgeschlagenen Sachverständigen und die gegen verschiedene Entscheidungen eingelegten Rechtsbehelfe in dem Verfahren weitere Maßnahmen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts erforderlich gemacht haben; zwar kann all dies weder der Beschwerdeführerin noch dem beschwerdegegnerischen Staat angelastet werden, dennoch hat dieses Verhalten in einem gewissen Umfang zur Dauer des Verfahrens beigetragen (siehe H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 57249/00, Rdnr. 47, 31. Juli 2003). Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin zumindest in Bezug auf bestimmte Teile des Verfahrens nicht zu dessen Beschleunigung beigetragen. Insbesondere beantragte sie mehrfach eine Verlegung der Ortstermine, schöpfte regelmäßig die entsprechenden Fristen aus und beantragte mehrfach deren Verlängerung.

42. Was die Verfahrensführung des Landgerichts angeht, nimmt der Gerichtshof die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Verfahren stets zügig gefördert habe. Er teilt die Ansicht, dass das Landgericht grundsätzlich alle notwendigen Maßnahmen zügig ergriffen hat und für keine nennenswerten Phasen der Untätigkeit verantwortlich gemacht werden kann. Ferner nimmt er zur Kenntnis, dass ein Großteil der Verzögerungen dadurch verursacht wurde, dass der erste Sachverständige erkrankte und der zweite Sachverständige überlastet war. Der Gerichtshof erinnert daran, dass es in Fällen, in denen die Zusammenarbeit mit einem Sachverständigen erforderlich ist, den innerstaatlichen Gerichten obliegt sicherzustellen, dass das Verfahren nicht übermäßig in die Länge gezogen wird (siehe E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 2693/07, Rdnr. 24, 21. Oktober 2010, und B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7634/05, Rdnr. 23, 5. März 2009). Insoweit kann das Vorgehen der innerstaatlichen Gerichte nach der Erkrankung des ersten Sachverständigen nicht als unangemessen angesehen werden. Das Gericht wirkte in dem Verfahren stets auf die Bestellung eines neuen Sachverständigen hin. Wie die innerstaatlichen Gerichte in dem Entschädigungsverfahren feststellten, fehlte es ihnen jedoch nach der Bestellung des zweiten Sachverständigen an der notwendigen Entschlossenheit. (Berücksichtigt man die Zeit, die zwischen der Einleitung des Verfahrens im Juni 2007 und der Bestellung des zweiten Sachverständigen im September 2009 verstrichen war), so hat es das Landgericht versäumt, den zweiten Sachverständigen darauf hinzuweisen, dass das in Auftrag gegebene Gutachten in Anbetracht des fortgeschrittenen Verfahrensstadiums in einem beschleunigten Arbeitsverfahren erstellt werden sollte. Die Sachstandsanfragen der innerstaatlichen Gerichte vom 28. Mai 2010 und 10. August 2010 waren insoweit eher zurückhaltend. Demgegenüber fehlte es den innerstaatlichen Gerichten nach der Wiederbestellung des ersten Sachverständigen nicht an der notwendigen Entschlossenheit.

43. In diesem Zusammenhang trug die Beschwerdeführerin vor, dass das Landgericht eine besondere Pflicht gehabt habe, das Verfahren von Beginn an zügig zu fördern, weil zuvor bereits ein selbständiges Beweisverfahren stattgefunden habe (siehe Rdnr. 7). Wie bereits festgestellt wurde (siehe Rdnr. 32), ist dieses Verfahren selbst nicht Teil des hier in Rede stehenden Verfahrens. In jedem Fall hatten das selbständige Beweisverfahren und das anschließende Hauptsacheverfahren nicht denselben Umfang. Die Beschwerdeführerin brachte vielmehr selbst vor, dass das selbständige Beweisverfahren Mängel an der Entwässerung betroffen habe, während es in dem Hauptsacheverfahren noch um andere Mängel gegangen sei. Vor diesem Hintergrund kann der Gerichtshof nur zu dem Ergebnis gelangen, dass das unabhängige Beweissicherungsverfahren nicht geeignet war, das anschließende Hauptsacheverfahren in erheblicher Weise zu vereinfachen.

44. Was die Bedeutung der Sache für die Beschwerdeführerin angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass nach den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte das Verfahren aus Sicht der Beschwerdeführerin von einer gewissen Bedeutung war. In diesem Zusammenhang möchte der Gerichtshof hinzufügen, dass es in diesem Verfahren um materiellen Schadenersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Wohneinheit ging – also nicht im Zusammenhang mit einem Sachverhalt, der mit Fällen vergleichbar wäre, die der Gerichtshof in der Vergangenheit als besonders bedeutend angesehen hat (vgl. D.E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 1126/05, Rdnr. 70, 16. Juli 2009, und B., a. a. O., Rdnr. 24). Soweit die Beschwerdeführerin behauptet hat, die Mängel an der Wohneinheit seien derart gewesen, dass sie eine mögliche Gesundheitsgefahr für sie und ihre Familie dargestellt hätten, stellt der Gerichtshof fest, dass sie diese Behauptung nicht substantiiert hat. Schließlich scheint der geltend gemachte materielle Schadenersatz weit niedriger gewesen zu sein als die ursprüngliche Investition in die Immobilie. Daher kann nicht davon gesprochen werden, dass die wirtschaftliche Existenz der Beschwerdeführerin auf dem Spiel stand (siehe G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 66491/01, Rdnr. 57, 5. Oktober 2006).

45. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof ausdrücklich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verwiesen und die vorgenannten Kriterien im Wesentlichen angewendet haben. Das Oberlandesgericht nahm das Vorgehen des Landgerichts als Ausgangspunkt, prüfte es zunächst im Lichte der dem Landgericht obliegenden Pflicht, das Verfahren zügig zu fördern, und betrachtete es dann im Kontext der Komplexität des Falles, des Verhaltens der Beschwerdeführerin und der Frage, was für sie auf dem Spiel stand. Es kam zu dem Schluss, dass die Verfahrensverzögerungen (soweit sie mit dem Vorgehen des Landgerichts im Hinblick auf den zweiten Sachverständigen zusammenhingen) zu einem geringem Teil dem beschwerdegegnerischen Staat anzulasten seien, dass diese (sich insgesamt auf einen Monat belaufenden) Verzögerungen jedoch insgesamt keine überlange Dauer darstellten. Der Gerichtshof sieht keinen Anlass, von dieser Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte in dem Entschädigungsverfahren abzuweichen.

46. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Es wird festgestellt, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 24. Januar 2019 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                  Yonko Grozev
Stellvertretender Kanzler                Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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