SCHNEPP ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 9608/16

FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 9608/16
S. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. März 2019 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Síofra O’Leary, Präsidentin,
Mārtiņš Mits und
Lado Chanturia

sowie Liv Tigerstedt, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 15. Februar 2016 erhoben wurde,

im Hinblick auf die von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht hat, die Beschwerde im Register zu streichen,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT UND VERFAHREN

Die Angaben zum Beschwerdeführer, einem rumänischen Staatsangehörigen, und seiner Individualbeschwerde finden sich in der beigefügten Tabelle.

Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn X., Rechtsanwalt in W., vertreten.

Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unrechtmäßig gewesen sei und ihn folglich in seinem Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, insbesondere da die innerstaatlichen Gerichte die gesetzliche Frist zur regelmäßigen Überprüfung der Notwendigkeit dieser Unterbringung nicht eingehalten hätten. Das Landgericht fällte die Entscheidung zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers am 17. November 2015; die nach § 67e Strafgesetzbuch vorgesehene Einjahresfrist für die gerichtliche Überprüfung der weiteren Notwendigkeit der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung war hingegen am 3. Juni 2015 abgelaufen.

Die Beschwerde wurde der deutschen Regierung („die Regierung“) am 11. April 2018 übermittelt.

Die rumänische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), hat erklärt, dass sie dieses Recht nicht ausüben wolle.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

Nachdem der Versuch einer gütlichen Einigung gescheitert war, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 21. November 2018 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben (am 10. Dezember 2018 wurde zur Berichtigung eines redaktionellen Fehlers eine geänderte Fassung vorgelegt). Ferner beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention zu streichen.

Die Erklärung lautete, soweit maßgeblich, wie folgt:

„[…]

Die Bundesregierung erkennt an, dass der Beschwerdeführer durch die Überprüfungsentscheidung des Landgerichts vom 17. November 2015 in seinen Rechten aus Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt wurde. Weitere Konventionsverletzungen wurden vom Beschwerdeführer in seiner Beschwerdeschrift vom 5. Februar 2016 nicht gerügt.

Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof die Entschädigungsforderung des Beschwerdeführers in Höhe von 8.500,00 Euro anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 8.500,00 Euro würden alle in Betracht kommenden Ansprüche im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde und der Überprüfungsentscheidung des Landgerichts vom 17. November 2015 gegen die Bundesrepublik Deutschland und des betroffenen Landes, insbesondere die Entschädigung des Beschwerdeführers (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten. Einen Betrag von 8.500,00 Euro hält die Bundesregierung im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen für angemessen.

Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1c) der Konvention aus dem Register gestrichen wird. Die Anerkennung der Verletzung von Art. 5 Abs. 1 der Konvention sowie der Entschädigungsforderung in Höhe von 8.500,00 Euro durch die Bundesregierung stellt einen „anderen Grund“ im Sinne dieser Vorschrift dar.

[…]“

Mit Schreiben vom 4. Dezember 2018 erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil es des Öfteren zu Verletzungen wie in der hier vorliegenden Rechtssache komme, so dass ein Urteil des Gerichtshofs erforderlich sei.

Der Gerichtshof stellt fest, dass er nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen kann, wenn

„[…] eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“

Folglich kann er nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c aufgrund der einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung Beschwerden auch dann streichen, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht (siehe insbesondere Tahsin Acar ./. Türkei (prozessuale Einreden) [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75 bis 77, ECHR 2003-VI).

Der Gerichtshof war mit einer Reihe von Individualbeschwerden gegen Deutschland befasst, in denen Verletzungen des Freiheitsrechts nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention gerügt wurden und die das Versäumnis der innerstaatlichen Gerichte betrafen, die gesetzliche Frist zur regelmäßigen Überprüfung der Notwendigkeit der Sicherungsverwahrung einer Person einzuhalten (siehe insbesondere H. W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17167/11, 19. September 2013).

Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme – die dem in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochenen Betrag entspricht – ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine Fortsetzung der Prüfung dieser Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c).

Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).

Nach Ansicht des Gerichtshofs sollte der genannte Betrag binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention gezahlt werden. Erfolgt die Zahlung innerhalb dieser Frist nicht, fallen für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).

Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung und die Vorkehrungen für die Erfüllung der darin bezeichneten Verpflichtungen zur Kenntnis;

er beschließt, die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register zu streichen.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 11. April 2019.

Liv Tigerstedt                                                             Síofra O’Leary
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin            Präsidentin

 

ANHANG

Individualbeschwerde Nr.
Datum der Erhebung
Name der Beschwerdeführerin / des Beschwerdeführers

Geburtsdatum

Staatsangehörigkeit 

Name und Sitz der Vertreterin/des Vertreters Datum des Eingangs der Erklärung der Regierung Datum des Eingangs der Stellungnahme der Beschwerdeführerin / des Beschwerdeführers (ggf.) Für materiellen und immateriellen Schaden sowie Kosten und Auslagen zugesprochener Betrag

 (in Euro)[1]

9608/16

15. 02. 2016

S.

19..

rumänisch

X.

W.

21. 11. 2018 04. 12. 2018 8.500

[1] Zuzüglich der von der Beschwerdeführerin/von dem Beschwerdeführer ggf. zu entrichtenden Steuern.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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