EL-HABACH gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 66837/11

FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 66837/11
E.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 22. Januar 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 26. Oktober 2011 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, E., ist libanesischer Staatsangehöriger und lebt derzeit im Libanon. Er wurde vor dem Gerichtshof von Herrn M, Rechtsanwalt in G., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

1. Allgemeiner Hintergrund

2. Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

3. Der Beschwerdeführer wurde im Libanon. geboren. Im April 1985 kam er im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern und vier Brüdern nach Deutschland. Er besuchte in Deutschland die Schule, erlangte aber keinen Schulabschluss. Als Erwachsener ging er nur vorübergehenden Beschäftigungen nach. Gutachten zufolge leidet der Beschwerdeführer an einer Lernbehinderung.

4. 1990 erhielt der Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis, die zuletzt bis zum 31. Juli 1999 verlängert wurde. Am 12. August 1998 heiratete der Beschwerdeführer Frau C., eine deutsche Staatsangehörige, und erhielt eine neue Aufenthaltserlaubnis, die zuletzt bis zum 4. November 2003 verlängert wurde. Das Paar bekam zwei Kinder, die …. und …. geboren wurden. Im Juli 2004 wurde das Paar geschieden; der Beschwerdeführer, der kein Sorgerecht für die Kinder hat, hielt telefonisch und per Post Kontakt zu ihnen.

5. Seit Mitte 2004 lebte der Beschwerdeführer mit einer anderen deutschen Staatsangehörigen, Frau K., zusammen. …. bekam das Paar eine Tochter, N.

6. Am 17. Januar 2005 wurde der Beschwerdeführer wegen einer im Januar 2004 begangenen Körperverletzung, bei der er seinem Opfer wiederholt Schläge ins Gesicht versetzt hatte, zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Opfer, das Prellungen, Blutergüsse und drei Risse im Trommelfell davongetragen hatte, war eine Woche lang arbeitsunfähig. Am 18. Juli 2006 wurde der Beschwerdeführer der gefährlichen Körperverletzung schuldig befunden, weil er im November 2004 mehrfach mit einer Bierflasche auf den Kopf seines Opfers eingeschlagen und diesem dadurch eine Gehirnerschütterung und sechs Platzwunden auf dem Schädel zugefügt hatte; er wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 18. Juli 2006 wurde der Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei weiteren Fällen, begangen am 26. Mai 2005, als der Beschwerdeführer seinen beiden Opfern mit einem Messer Stichverletzungen am Oberkörper zufügte und dabei eines der Opfer lebensgefährlich verletzte, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er verbüßte seine Freiheitsstrafe vom 13. Oktober 2006 bis zu seiner Entlassung auf Bewährung am 11. September 2009.

7. Bis zu seiner Festnahme lebte der Beschwerdeführer mit Frau K. und dem Kind N. zusammen. Nach seiner Haftentlassung ging der Beschwerdeführer eine Beziehung mit einer neuen Partnerin, Frau B., ein; diese Beziehung endete im Oktober 2009. Von Oktober 2009 bis zu seiner Abschiebung im Juli 2011 lebte er wieder mit Frau K. und der gemeinsamen Tochter N. zusammen.

2. Ausweisungsverfahren

8. Am 30. Oktober 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim Oberbürgermeister der Stadt Göttingen die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Die Behörde stellte die Entscheidung im Hinblick auf die Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer zurück. Am 11. Januar 2007 wies die Stadt Göttingen den Antrag des Beschwerdeführers zurück und ordnete seine Abschiebung in den Libanon im Anschluss an die Verbüßung der Freiheitsstrafe an.

9. Mit Urteil vom 9. Mai 2007 hob das Verwaltungsgericht Göttingen den Bescheid der Stadt mit der Begründung auf, dass diese die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht berücksichtigt habe.

10. Mit Bescheid vom 25. August 2008 erließ die Behörde unter Anwendung der maßgeblichen Bestimmung des deutschen Aufenthaltsgesetzes erneut eine Ausweisungsverfügung gegen den Beschwerdeführer und lehnte es ab, den von ihm beantragten Aufenthaltstitel zu erteilen. Unter Heranziehung der vom Gerichtshof in der Rechtssache Üner ./. die Niederlande ([GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, ECHR 2006‑XII) festgelegten Kriterien war die Behörde der Ansicht, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers insbesondere im Hinblick auf die Schwere der von ihm begangenen Straftaten und die Rückfallgefahr erforderlich sei. Die Behörde berücksichtigte, dass der Beschwerdeführer in frühester Kindheit nach Deutschland gekommen und in Deutschland zur Schule gegangen sei, ohne allerdings einen Schulabschluss zu erwerben. Da die Eltern des Beschwerdeführers der deutschen Sprache nicht mächtig seien, sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die Landessprache seines Herkunftslandes beherrsche.

11. Im Hinblick auf die strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers stellte die Behörde fest, dass dieser mehrere Gewalttaten begangen habe, die stark gegen ihn sprächen. Insbesondere stellte sie fest, dass der Beschwerdeführer am 26. Mai 2005, als er unter Bewährung gestanden habe, mit einem Messer auf sein Opfer eingestochen habe. Die Verletzung, die das Opfer davongetragen habe, sei lebensgefährlich gewesen, auch wenn bei der strafgerichtlichen Verurteilung eingeräumt wurde, dass sie ohne medizinische Behandlung nicht zwangsläufig zum Tode geführt hätte. Das Strafgericht habe ferner berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer an einer alkohol- und drogenverstärkten Impulskontrollstörung und an leichtem Gehirnschwund leide.

12. Im Hinblick auf seine familiären Lebensumstände war die Behörde der Auffassung, dass die Beziehung zu seinen beiden älteren, …. und …. geborenen Kindern eher lose sei. Sie ging weiterhin davon aus, dass die jüngste Tochter, N., bereits die längste Zeit ihres jungen Lebens ohne den Beschwerdeführer habe verbringen müssen, da dieser seine Freiheitsstrafe verbüßt habe und allenfalls für einige Stunden besucht werden konnte. Unter diesen Umständen scheine durch die Ausweisung des Beschwerdeführers keine Gefahr für das Wohl der Kinder zu drohen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (die Behörde nahm Bezug auf die Rechtssache Üner ./. die Niederlande, a. a. O.) sei davon auszugehen, dass kleine Kinder anpassungsfähig seien. In Fällen dieser Art würde sich die Unterbrechung des Familienlebens nicht so auswirken, wie bei einem erheblich längeren Zusammenleben der Familie.

13. Die Behörde stellte ferner fest, dass der Beschwerdeführer an gruppentherapeutischen Maßnahmen zur Gewaltprävention teilnehme und regelmäßige Therapiegespräche mit einem Psychologen führe. Dennoch benötige der Beschwerdeführer der Einschätzung des Therapeuten zufolge weiterhin ständige psychologische Betreuung.

14. Die Behörde berücksichtigte ferner, dass der Beschwerdeführer im Alter von 14 Jahren erstmals strafauffällig geworden und erstmalig im Jahr 1994 sowie zweimal im Jahr 1995 von der Ausländerbehörde verwarnt worden sei. Er habe an einer Gruppentherapie teilgenommen und sei im Dezember 1999 stationär in einer Klinik für Psychiatrie behandelt worden. Unter diesen Umständen stehe fest, dass psychotherapeutische Maßnahmen den Beschwerdeführer nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten könnten. Zwar sei der Beschwerdeführer seit seinem Haftantritt nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt geraten, jedoch sei davon auszugehen, dass Gefangene aufgrund des anstaltsinternen hohen Überwachungsgrades ohnehin weniger geneigt seien, Straftaten zu begehen. Die Behörde kam zu dem Schluss, dass das Rückfallrisiko nach der Strafentlassung die für den Beschwerdeführer sprechenden Umstände, insbesondere seine familiäre Situation, überwiege.

15. Mit Urteil vom 30. März 2009 hob das Verwaltungsgericht Göttingen den Bescheid der Stadt vom 25. August 2008 auf und verpflichtete diese, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das Verwaltungsgericht bestätigte, dass Schwere und Art der von dem Beschwerdeführer begangenen Straftaten stark gegen ihn sprächen. Dies würde aber von den zu seinen Gunsten sprechenden Faktoren überwogen. Besonderes Gewicht maß das Verwaltungsgericht der Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen drei Kindern und insbesondere zu seiner jüngsten Tochter, N., bei. Das Verwaltungsgericht teilte die Auffassung nicht, dass kleinere Kinder eher weniger unter der Trennung von einem Elternteil litten als ältere. Kleineren Kindern sei es im Gegenteil nicht möglich, den Unterschied zwischen einer vorübergehenden und einer dauerhaften Trennung zu erkennen. Folglich werde das Wohl des Kindes durch die Ausweisung des Beschwerdeführers massiv gefährdet. Überdies bestehe im Libanon keine realistische Aussicht auf Unterhaltung der familiären Beziehung. Folglich würden die zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden Kriterien die Art und Schwere der von ihm begangenen Straftaten überwiegen; seine Ausweisung sei demnach nicht möglich.

16. Mit Beschluss vom 25. August 2009 ließ das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung der Stadt Göttingen zu. Mit Urteil vom 11. August 2010 hob dieses Gericht das Urteil des Verwaltungsgerichts auf und wies den Antrag des Beschwerdeführers zurück.

17. Das Oberverwaltungsgericht war insbesondere der Auffassung, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt sei. Der Beschwerdeführer sei zwar im Alter von fünf Jahren nach Deutschland eingereist, es sei ihm jedoch nicht gelungen, sich in wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Hinsicht zu integrieren. Obwohl er seine gesamte Schulausbildung in Deutschland erhalten habe, habe er weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung erlangt. Die in der Haft durchlaufenen Qualifizierungsmaßnahmen hätten nichts daran geändert, dass er grundsätzlich auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen sei. Unter Berücksichtigung der von ihm zu erbringenden Unterhaltsleistungen für seine Kinder sei nicht ersichtlich, dass sich dies in absehbarer Zeit ändere.

18. Entscheidend komme hinzu, dass der Beschwerdeführer in schwerwiegender Weise straffällig geworden und eine grundlegende Verhaltensänderung nicht erkennbar sei. Für den Beschwerdeführer spreche, dass er seine erste Freiheitsstrafe verbüßt habe, dass aus den Unterlagen hervorgehe, dass er durch die Haft positiv beeinflusst worden sei, dass er in der Justizvollzugsanstalt nach dem Übergriff eines Mithäftlings angemessen reagiert habe und nach der Entlassung nicht erneut straffällig geworden sei. Demgegenüber sei er aber schon als Minderjähriger mit dem Gesetz in Konflikt geraten und habe von 1994 bis 1999 fortlaufend Straftaten einschließlich schwerer Körperverletzung begangen. Nach einem straffreien Zeitraum sei es zu vier – überwiegend gefährlichen – Körperverletzungen gekommen, die von einer steigenden Gewalttätigkeit gekennzeichnet gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe sich also weder durch sein Alter noch durch Bewährungsmaßnahmen noch durch die ausländerrechtlichen Verwarnungen oder seine Heirat mit einer deutschen Staatsangehörigen sowie die Geburt seiner Kinder von der Begehung zunehmend schwerer Straftaten abhalten lassen. Die vielfältigen von dem Beschwerdeführer durchlaufenen therapeutischen Maßnahmen hätten ihn nicht von Wiederholungstaten abgehalten. Ebenso wenig sei dem Beschwerdeführer der Aufbau stabiler familiärer und sozialer Beziehungen gelungen. Sowohl seine Ehe als auch seine Beziehung zu Frau B. sei gescheitert. Die Lebensgemeinschaft mit Frau K. sei unterbrochen worden und könne dem Beschwerdeführer nur begrenzt Halt geben, da Frau K. jedenfalls in der Vergangenheit der Prostitution nachgegangen sei und Drogen konsumiert habe.

19. Stelle man weiterhin in Rechnung, dass die Straftaten des Beschwerdeführers schwere, das Leben der Opfer gefährdende Gewaltdelikte darstellen, so müsse die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung nicht sonderlich hoch sein. Es sei dementsprechend von einer hinreichenden Wiederholungsgefahr auszugehen, die das private Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Deutschland überwiege. Es sei zwar zu erwarten, dass dem Beschwerdeführer der Aufbau einer Existenz im Libanon schwerfalle, er habe aber bis zum fünften Lebensjahr dort gelebt und sei der Sprache mächtig. Überdies lebe im Libanon derzeit einer seiner Brüder, der selbst ausgewiesen worden sei, und der dem Beschwerdeführer aus eigener Erfahrung sowie finanziell Hilfe leisten könne.

20. Schließlich war das Gericht der Auffassung, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers mit Artikel 8 der Konvention vereinbar sei. Der Beschwerdeführer habe nicht nachgewiesen, dass er zu seinen beiden älteren Kindern anders als fernmündlich oder schriftlich Kontakt halte; dies lasse sich auch im Falle seiner Ausweisung fortführen. Anderseits lebe er aber gegenwärtig mit seiner jüngsten Tochter, N., und ihrer Mutter zusammen und übe auch gemeinsam mit ihr das Sorgerecht für das Kind aus. Da die Kindesmutter und das Kind deutsche Staatsangehörige seien, könne nicht erwartet werden, dass sie den Beschwerdeführer in den Libanon begleiteten. Dementsprechend würde die Ausweisung zu einer Unterbrechung der familiären Lebensgemeinschaft führen, die insbesondere für die fünfjährige Tochter, N., schwer wiege. Ungeachtet telefonischer und schriftlicher Kommunikationsmöglichkeiten würde die für mehrere Jahre andauernde Abwesenheit des Beschwerdeführers das wechselseitige Verhältnis zwischen ihm und seinem Kind erheblich beeinträchtigen. Es sei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jedoch anerkannt, dass auch schwerwiegende Beeinträchtigungen des Familienlebens vom öffentlichen Interesse daran, einen Ausländer an der Begehung schwerer Straftaten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu hindern, überwogen werden könnten. Bezugnehmend auf seine vorstehenden Ausführungen rechne das Oberverwaltungsgericht mit der Begehung weiterer schwerer Straftaten durch den Beschwerdeführer. Überdies sei zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer freistehe, bei der Behörde die Befristung der Ausweisung zu beantragen. Das Oberverwaltungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Behörde ihr Ermessen rechtmäßig ausgeübt habe.

21. Am 10. Februar 2011 entschied das Bundesverwaltungsgericht, die Revision des Beschwerdeführers nicht zuzulassen. Es war insbesondere der Ansicht, dass das Urteil des Oberverwaltungsgerichts mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Einklang stehe.

22. Am 19. April 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht gemäß den einschlägigen Bestimmungen seiner Verfahrensordnung ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Diese Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 29. April 2011 zugestellt.

23. Am 15. Juli 2011 stellte sich der Beschwerdeführer der Göttinger Polizei zur Abschiebung in den Libanon, wo er seitdem lebt.

RÜGEN

24. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass seine Ausweisung in den Libanon sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt habe. Er rügte weiterhin eine Verletzung von Artikel 3 Abs. 1 des VN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

25. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Abschiebung in den Libanon ihn in seinem Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention verletzt habe, der wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

26. Der Beschwerdeführer behauptete insbesondere, dass seine Ausweisung unverhältnismäßig sei. Die Schwere der von ihm begangenen Straftaten sei nicht mit denen vergleichbar, die der Gerichtshof in der Rechtssache Üner untersucht habe (Üner ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, ECHR 2006‑…). Weiterhin hätten die innerstaatlichen Behörden außer Acht gelassen, dass er sich in Haft vorbildlich verhalten habe, woraufhin er auf Bewährung entlassen worden sei, dass er therapiert wurde und dass er sich durch Entschädigungszahlungen an seine Opfer um Wiedergutmachung bemüht habe. Der Beschwerdeführer werde mit hoher Wahrscheinlichkeit keine weiteren Straftaten mehr begehen. Dies zeige sich an dem Umstand, dass er nicht versucht habe, seiner Abschiebung zu entgehen, sondern von sich aus auf der Polizeidienststelle vorstellig geworden sei. Der Beschwerdeführer betonte ferner, dass er im Alter von fünf Jahren nach Deutschland eingereist sei und seine gesamte Schulausbildung in Deutschland absolviert habe.

27. Darüber hinaus würden durch die innerstaatlichen Entscheidungen die schützenswerten Interessen seiner drei Kinder und insbesondere seiner jüngsten Tochter, N., die bereits während seiner Haftzeit unter der Trennung gelitten habe und deren Wohl von seiner Anwesenheit abhänge, nicht hinreichend berücksichtigt. Da die Kindesmutter angesichts kultureller und sozialer Schwierigkeiten nicht bereit sei, ihn in den Libanon zu begleiten, habe die Ausweisung zu einer Trennung der Familie geführt.

28. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers einen Eingriff sowohl in sein Privat- als auch in sein Familienleben darstellt. Er stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer nicht in Abrede stellte, dass die Ausweisungsverfügung auf den einschlägigen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes beruhte.

29. Somit bleibt festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Der Gerichtshof zieht bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, folgende maßgebliche Kriterien heran (siehe Üner, a. a. O., Rdnrn. 57-58; vgl. auch Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnr. 68, ECHR 2008):

– Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;

– die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

– die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

– die Staatsangehörigkeiten der verschiedenen Betroffenen;

– die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z. B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Paares ist;

– ob der Ehepartner von der Straftat wusste, als er eine familiäre Beziehung einging;

– ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und

– das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner in dem Land, in das der Beschwerdeführer ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.

– Die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden; und

– die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.

30. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer 2005 und 2006 wegen Körperverletzung in insgesamt vier Fällen verurteilt wurde. Am 18. Juli 2006 wurde er u. a. für schuldig befunden, zwei Opfern Stichverletzungen am Oberkörper zugefügt und dabei eines der Opfer lebensgefährlich verletzt zu haben. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass das Oberverwaltungsgericht betont hatte, dass die Tatopfer auch schwerwiegendere Folgen hätten erleiden können und dass eines der Opfer ohne medizinische Behandlung an seinen Verletzungen auch hätte sterben können. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die Straftaten, derer der Beschwerdeführer für schuldig befunden wurde, sehr schwerwiegend waren. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer diese Straftaten nicht als Jugendlicher (vgl. im Gegensatz dazu Maslov, a. a. O., Rdnr. 75), sondern im Alter von fünfundzwanzig Jahren beging. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass aus dem Vorstrafenregister des Beschwerdeführers hervorgeht, dass er schon als junger Mensch mit dem Gesetz in Konflikt geriet und die Schwere der von ihm begangenen Straftaten mit der Zeit zunahm. Er stellt überdies fest, dass der Beschwerdeführer erneut straffällig wurde, obwohl die Verwaltungsbehörden ihn mehrfach auf die möglichen Konsequenzen weiterer Straftaten hingewiesen hatten (siehe Rdnr. 14).

31. Im Hinblick auf die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Deutschland stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer im Alter von fünf Jahren nach Deutschland einreiste, wo er sich bis zu seiner Abschiebung sechsundzwanzig Jahre lang aufhielt. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer trotz seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland nie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhielt. Folglich hatte der Beschwerdeführer keinen berechtigten Grund zu der Erwartung, dass gegen ihn keine Ausweisungsverfügung ergehen könne (vgl. T ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41548/06, Rdnr. 56, 13. Oktober 2011 und im Gegensatz dazu Omojudi ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 1820/08, Rdnr. 45, 24. November 2009).

32. Hinsichtlich der seit der Tat verstrichenen Zeit und dem Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit zieht der Gerichtshof das Verhalten des Beschwerdeführers zwischen der Begehung der letzten Tat und seiner tatsächlichen Abschiebung heran (vgl. Maslov, a. a. O., Rdnr. 95). Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im Mai 2005 letztmalig straffällig wurde und im Juli 2011 abgeschoben wurde. In diesem sechs Jahre und zwei Monate umfassenden Zeitraum war der Beschwerdeführer zwei Jahre und fast zehn Monate inhaftiert, und zwar vom 13. Oktober 2006 bis zum 11. September 2009. Nach seiner Haftentlassung und bis er sich im Juli 2011 zur Abschiebung stellte, verbrachte er ein Jahr und zehn Monate in Freiheit, ohne erneut straffällig zu werden. Überdies war sein Verhalten in Haft offenbar tadelsfrei und er wurde auf Bewährung entlassen.

33. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass ein nennenswerter Zeitraum vorbildlichen Verhaltens zwischen der Begehung der Tat und der Abschiebung des Betroffenen durchaus einen gewissen Einfluss auf die Gefahr hat, die diese Person für die Allgemeinheit darstellt (siehe Maslov, a. a. O., Rdnr. 90; vgl. auch Boultif ./. die Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 54273/00, Rdnr. 51, ECHR 2001‑IX). Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass von den innerstaatlichen Behörden, insbesondere dem Oberverwaltungsgericht, alle diese Kriterien bei der Beurteilung des Rückfallrisikos des Beschwerdeführers herangezogen wurden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände wurde der Schluss gezogen, dass – insbesondere im Hinblick auf seine persönlichen Lebensumstände, seine Vorstrafen und die zunehmende Schwere der von ihm begangenen Straftaten – alle zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden Faktoren die Gefahr, dass er erneut straffällig werden würde, nicht hinreichend senken könnten.

34. Im Hinblick auf die familiäre Situation des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer von Mitte 2004 bis zu seiner Verhaftung 2006 mit seiner deutschen Partnerin, Frau K., zusammenlebte. Der Beschwerdeführer trennte sich jedoch während seiner Haftzeit von Frau K. und hatte nach seiner Haftentlassung eine neue Beziehung mit Frau B. Nach dem Ende dieser Beziehung im Oktober 2009 lebte er bis zu seiner Abschiebung im Juli 2011 wieder mit Frau K. und dem gemeinsamen Kind zusammen. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im Endeffekt über drei Jahre mit Frau K. zusammenlebte, dass die zwischenzeitliche Trennung jedoch gewisse Zweifel an der Stabilität ihrer Beziehung aufkommen lassen könnte.

35. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer drei Kinder hat. Mit den beiden älteren Kindern kommunizierte der Beschwerdeführer auch vor seiner Ausweisung nur telefonisch und per Post. Der Gerichtshof lässt die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte gelten, dass diese Form der Kommunikation auch nach der Abschiebung fortgesetzt werden könne. Die Auswirkungen auf das Verhältnis zu seiner jüngsten Tochter N. waren jedoch schwerwiegender, da der Beschwerdeführer mit seiner jüngeren Tochter N. von ihrer Geburt am 29. November 2004 bis zu seiner Festnahme am 13. Oktober 2006 und dann erneut von Oktober 2009 bis zu seiner Abschiebung im Juli 2011 zusammenlebte. Demnach lebte er ungefähr dreieinhalb Jahre, also über die Hälfte des Lebens des Kindes, mit N. zusammen. Außerdem hielt er die Beziehung während der Trennung durch den Empfang von Haftbesuchen aufrecht und übte das gemeinsame Sorgerecht aus. Folglich bestehen keine Zweifel, dass der Beschwerdeführer eine enge familiäre Beziehung zu seiner Tochter hatte. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das Oberverwaltungsgericht bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen durchaus anerkannte, dass die Abwesenheit des Beschwerdeführers das wechselseitige Verhältnis zwischen ihm und seiner Tochter ungeachtet der Möglichkeit einer telefonischen oder schriftlichen Korrespondenz erheblich beeinträchtigen würde (siehe Rdnr. 20). Dennoch war es der Auffassung, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung Vorrang habe.

36. Im Hinblick auf die Bindungen des Beschwerdeführers zu Deutschland stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer die prägenden Jahre seiner Kindheit in Deutschland verbrachte, wo auch der Großteil seiner nahen Angehörigen lebt. Er erhielt seine gesamte Schulausbildung in Deutschland, ohne jedoch einen Abschluss zu erlangen. Seit Erreichen des Erwachsenenalters war er nur vorübergehend beschäftigt und zur Sicherung des Lebensunterhalts hauptsächlich auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen.

37. Hinsichtlich der Bindungen des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsland stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer die arabische Sprache sprechen, nicht jedoch lesen oder schreiben konnte. Des Weiteren hielt sich zum Zeitpunkt seiner Abschiebung einer seiner Brüder im Libanon auf; von diesem war ein gewisses Maß an Hilfe und Unterstützung zu erwarten. Zwar ist es für den Beschwerdeführer mit Sicherheit nicht leicht, sich in einem Land niederzulassen, in dem er seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr gelebt hatte, berücksichtigt wurde aber auch, dass der Beschwerdeführer in Deutschland nie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte und über keinen festen Arbeitsplatz in Deutschland verfügte.

38. Besondere Bedeutung misst der Gerichtshof dem Umstand bei, dass die innerstaatlichen Behörden, und insbesondere das Oberverwaltungsgericht, die Vereinbarkeit der Ausweisung des Beschwerdeführers mit Artikel 8 der Konvention sorgfältig prüften und dazu die in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien heranzogen. Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das Oberverwaltungsgericht die Bedeutung der Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner jüngsten Tochter, N., vollumfänglich anerkannte und in Betracht zog, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind erheblich beeinträchtigen würde (siehe Rdnr. 22). Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Oberverwaltungsgericht das Rückfallrisiko des Beschwerdeführers unter Einbeziehung aller relevanten Belange, auch der zu seinen Gunsten sprechenden, sorgfältig prüfte.

39. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers weitreichende Folgen für ihn hatte, insbesondere im Hinblick auf die Beziehung zu seiner kleinen Tochter. Aber der Gerichtshof kann angesichts der Art und Schwere der von dem Beschwerdeführer begangenen Straftaten und insbesondere angesichts der gründlichen Prüfung der Frage nach Artikel 8 durch die innerstaatlichen Behörden nicht feststellen, dass der beschwerdegegnerische Staat bei der Entscheidung über die Verhängung dieser Maßnahme seinen eigenen Interessen zu großes Gewicht beigemessen hat. Folglich ist nicht ersichtlich, dass Artikel 8 der Konvention verletzt wurde.

40. Daraus folgt, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

41. Soweit der Beschwerdeführer die angebliche Nichteinhaltung von Artikel 3 Abs. 1 des VN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes durch die innerstaatlichen Gerichte rügte, erinnert der Gerichtshof daran, dass seine Zuständigkeit ausschließlich alle Angelegenheiten umfasst, die die Auslegung und Anwendung der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Protokolle dazu betreffen (vgl. Artikel 32 Abs. 1 der Konvention). Daraus folgt, dass die Beschwerde des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a rationemateriae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                         Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler                              Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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