SHALA gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 15620/09

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 15620/09
S.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 22. Januar 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter:
Ganna Yudkivska, Präsidentin,

Angelika Nußberger,
André Potocki,
sowie Stephen Phillips, stellvertretenderSektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 17. März 2009 erhoben wurde,

im Hinblick auf die Entscheidung vom 25. März 2010, mit der die Beschwerde für unzulässig erklärt wurde, und die Entscheidung vom 5. Dezember 2012 über die Wiederaufnahme des Verfahrens,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der Beschwerdeführer S. lebt im Kosovo[1] und erklärt, dass er die kosovarische. Staatsangehörigkeit besitze. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn R., Rechtsanwalt in D., Deutschland, vertreten.

Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

1. Persönliche Umstände

2. Der Beschwerdeführer wurde 19.. im Kosovo geboren und reiste 1988 nach Deutschland ein, um politischer Verfolgung auszuweichen. Er beantragte Asyl. Nachdem er Anfang 1989 nach Kosovo zurückgekehrt war, wurde sein Asylantrag von den Behörden abgelehnt.

3. 1991 reiste der Beschwerdeführer erneut nach Deutschland ein und heiratete im Mai 1992 eine serbische Staatsangehörige. Danach wurde ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die mehrfach verlängert wurde. 1998 erteilten ihm die Behörden eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

4. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau haben vier Kinder, die …., …., …. und …. geboren wurden. Wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, besitzen alle Kinder die kosovarische Staatsangehörigkeit. Das jüngste Kind besitzt auch die deutsche Staatsangehörigkeit.

2. Strafverfahren

5. Am 4. Oktober 2006 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz festgenommen. Am 8. November 2007 wurde er vom Landgericht Augsburg wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer bei verschiedenen Gelegenheiten 150 g, 250 g und 15,05 g Heroin sowie 3,15 g Kokain gekauft hatte, um es jeweils in Gewinnerzielungsabsicht weiter zu veräußern.

3. Ausweisungsverfahren

6. Am 2. Januar 2008 teilte das Landratsamt Donau-Ries dem Beschwerdeführer mit, dass beabsichtigt sei, ihn auszuweisen, und dass er sich dazu äußern könne. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er seit 17 Jahren mit seiner Familie in Deutschland lebe und in Kosovo außer zu seiner Mutter und einem Bruder keine familiären Beziehungen habe. Am 18. Januar 2008 nahm die Justizvollzugsanstalt Landsberg zum Verhalten des Beschwerdeführers im Vollzug Stellung und berichtete, dass der Beschwerdeführer erstmals am 29. November 2007 mit der anstaltsinternen Suchtberatungsstelle Kontakt aufgenommen und mit seiner Familie schriftlichen Briefverkehr habe.

7. Am 18. Februar 2008 ordnete das Landratsamt Donau-Ries die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet und seine Abschiebung unmittelbar aus der Justizvollzugsanstalt in die Republik Serbien an. Außerdem befristete es die Wirkung der Ausweisung (Wiedereinreiseverbot) bis zum Ablauf von vier Jahren ab dem Zeitpunkt der Ausreise und ordnete an, dass der Beschwerdeführer die mit seiner Abschiebung verbundenen Kosten zu tragen habe.

8. Der Beschwerdeführer erhob Klage. Am 11. Februar 2009 fand vor dem Verwaltungsgericht Augsburg die mündliche Verhandlung statt. In dieser Verhandlung nahm der Beschwerdeführer seine Klage teilweise, soweit sie das befristete Wiedereinreiseverbot betraf, zurück. Der Vertreter des Landratsamts Donau-Ries erklärte, dass die Ausweisungsverfügung insoweit von Amts wegen zurückgenommen und auf Antrag des Beschwerdeführers eine neue Frist gesetzt werde.

9. Noch am selben Tag wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Es erkannte an, dass der Beschwerdeführer besonderen Ausweisungsschutz genieße, da er mehr als fünf Jahre in Deutschland in ehelicher Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau, die eine Niederlassungserlaubnis besitze, gelebt habe. Es berücksichtigte auch, dass eines der Kinder des Beschwerdeführers auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß.

10. Unter Bezugnahme auf § 53 Abs. 1 und 2 Aufenthaltsgesetz stellte das Gericht jedoch fest, dass der Beschwerdeführer zwar nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne, die Schwere der von ihm verübten Straftaten aber einen hinreichenden Ausweisungsgrund darstelle.

11. Das Verwaltungsgericht sah in diesem Zusammenhang keine Anhaltspunkte dafür, dass vom Beschwerdeführer keine Wiederholungsgefahr ausgehen würde. Der Beschwerdeführer habe zwar vorgetragen, dass er seit 2004 drogenabhängig gewesen sei, doch eine Drogentherapie habe er nicht abgeschlossen. Obwohl der Beschwerdeführer erstmals eine Freiheitsstrafe verbüße, bestehe ein erhöhtes Risiko, dass er wieder straffällig werden würde, da er mit dem Drogenhandel begonnen habe, als er bereits über 40 Jahre alt gewesen sei und in geregelten Familienverhältnissen gelebt habe. Ferner wies das Gericht darauf hin, dass sich beim Handel mit Heroin eine erhebliche kriminelle Energie zeige, da Heroin eine der gefährlichsten Drogen sei. Es hob in diesem Zusammenhang die hohe Sozialschädlichkeit und die schwere Aufklärbarkeit von Drogendelikten hervor. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Artikel 8 der Konvention und die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 31753/02, 28. Juni 2007) sowie C. und J. B. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 69735/01, 6. Dezember 2007) nahm das Verwaltungsgericht eine Abwägung des Rechts des Beschwerdeführers auf Familienleben gegenüber dem öffentlichen Interesse des Staates an der Ausweisung des Beschwerdeführers vor. Obgleich das Gericht insbesondere feststellte, dass die jüngeren Kinder des Beschwerdeführers noch der Betreuung durch den Vater bedürften und von ihnen und seiner Ehefrau nicht erwartet werden könne, dass sie ihm nach Kosovo folgten, war es dennoch der Auffassung, dass der Kontakt durch Besuche in den Schulferien sowie durch Briefe oder per Telefon aufrechterhalten werden könne. In diesem Zusammenhang verwies es auch darauf, dass die familiären Bindungen des Beschwerdeführers ihn nicht davon abgehalten hätten, Drogendelikte zu begehen, und dass aufgrund seiner langjährigen Haft der Kontakt zu seiner Familie bereits in ähnlicher Weise eingeschränkt gewesen sei.

12. Am 24. September 2009 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung ab. Er stellte fest, dass das Verwaltungsgericht die Auswirkungen der Ausweisung auf das Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben nach Artikel 8 der Konvention angemessen berücksichtigt habe. Außerdem wäre das jüngste Kind des Beschwerdeführers im Jahr 2010, dem frühestmöglichen Zeitpunkt einer Abschiebung, 10 Jahre alt. In diesem Alter sei zu erwarten, dass das Kind zwischen einer vorübergehenden und einer dauerhaften Trennung vom Vater unterscheiden könne.

13. Am 19. Oktober 2009 reichte der Beschwerdeführer eine Gegenvorstellung ein. Sein Anwalt wies darauf hin, dass das jüngste Kind des Beschwerdeführers 2010 erst 7 Jahre alt sein werde. Ferner brachte er vor, dass der Beschwerdeführer jederzeit abgeschoben werden könne, da die Ausweisungsverfügung mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung bestandskräftig geworden sei.

14. Am 30. November 2009 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers zurück. Er stellte im Einvernehmen mit dem Beschwerdeführer zwar fest, dass sein jüngstes Kind im Jahr 2010 erst 8 Jahre alt wäre, war aber der Auffassung, dass dies an der Beurteilung der familiären Situation des Beschwerdeführers oder der Notwendigkeit seiner Ausweisung nichts ändere. Außerdem war er anders als der Beschwerdeführer nicht der Meinung, dass die Abschiebung auch jederzeit vor dem 2. April 2010 erfolgen könne. Das Bayerische Verwaltungsgerichtshof verwies darauf, dass die Behörden erfahrungsgemäß Strafgefangene nach § 456a StPO erst nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe abschieben würden; im Fall des Beschwerdeführers sei dies nicht vor Anfang April 2010.

15. Am 4. März 2010 teilte das Landratsamt Donau-Ries dem Anwalt mit, dass der Beschwerdeführer am 9. März 2010 abgeschoben werde.

16. Am 8. März 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2858/09).

17. Am 9. März 2010 setzte die Staatsanwaltschaft Augsburg die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers aus, und er wurde nach Kosovo abgeschoben.

18. Am 15. März 2010 erließ die Staatsanwaltschaft Augsburg einen Vollstreckungshaftbefehl gegen den Beschwerdeführer wegen der noch zu verbüßenden Restfreiheitsstrafe von 666 Tagen.

4. Das Verfahren hinsichtlich der von der Abschiebung ausgehenden Wirkungen

19. Am 2. März 2009 nahm das Landratsamt Donau-Ries die Befristung des in der Ausweisungsverfügung vom 18. Februar 2008 bestimmten Einreiseverbots zurück.

20. Am 4. März 2010 stellte der Anwalt beim Landratsamt Donau-Ries einen Antrag auf Befristung des Einreiseverbots auf ein Jahr. Am 7. April 2010 befristete das Landratsamt Donau-Ries das Wiedereinreiseverbot für den Beschwerdeführer nach dessen Abschiebung bis zum 8. März 2014. Der Beschwerdeführer erhob Klage. Das Verwaltungsgericht Augsburg führte am 22. März 2011 eine mündliche Verhandlung durch. In dieser Verhandlung erstattete das Landratsamt Bericht über die Familiensituation des Beschwerdeführers und erklärte, dass der Beschwerdeführer mit seiner Familie häufigen Kontakt über das Internet habe und dass sie ihn im Kosovo besucht hätten. Der Beschwerdeführer und das Landratsamt erzielten eine gütliche Einigung, nach der die Wirkungen der Abschiebung des Beschwerdeführers (Wiedereinreiseverbot) bis zum 1. Dezember 2012 befristet wurden. Dem Beschwerdeführer wurde zudem aufgegeben, die Kosten seiner Abschiebung zu übernehmen und den Nachweis zu erbringen, dass er keine illegalen Drogen konsumiere.

21. Am 14. Juni 2012 teilte das Landratsamt Donau-Ries dem Anwalt mit, dass die Wirkungen der Ausweisungsverfügung und der Abschiebung bis zum 1. Dezember 2012 befristet würden. Außerdem teilte es dem Beschwerdeführer mit, dass eine Wiedereinreise nach Deutschland ein gesondertes Visumverfahren voraussetzen würde.

RÜGEN

22. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass seine Abschiebung nach K. seine Beziehungen zu seinen Kindern und zu seiner Ehefrau zerstören würde.

23. Ferner rügte er nach den Artikeln 2, 5 und 6, dass sein Recht auf Leben und körperlichen Unversehrtheit im Kosovo nicht garantiert wäre.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

24. Der Beschwerdeführer rügte, dass er infolge seiner Ausweisung sein Recht auf Familienleben mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern nicht ausüben könne. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […].

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten […].”

25. Der Gerichtshof bestätigt erneut, dass ein Staat das Recht hat, im Rahmen des Völkerrechts und nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort zu regeln. Die Konvention garantiert nicht das Recht eines Ausländers auf Einreise oder Aufenthalt in einem bestimmten Land, und die Vertragsstaaten sind in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, befugt, einen wegen Straftaten verurteilten Ausländer auszuweisen. Ihre Entscheidungen in diesem Bereich müssen aber, soweit sie in ein nach Artikel 8 Abs. 1 geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (siehe Üner ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, Rdnr. 54, ECHR 2006XII).

26. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in Deutschland ein Familienleben mit seiner Ehefrau und seinen Kindern aufgebaut hatte. Nach seiner Inhaftierung blieb er mit seiner Familie schriftlich, telefonisch und durch Besuche von Familienangehörigen in der Vollzugsanstalt in Kontakt. Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte festgestellt haben, dass von seiner Ehefrau, die eine unbefristete Niederlassungserlaubnis besitze, und von seinen Kindern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen seien, nicht erwartet werden könne, dass sie nach Kosovo umziehen. Die Ausweisung war somit ein Eingriff in sein Recht auf Familienleben.

27. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Ausweisung auf innerstaatlichem Recht beruhte, nämlich auf § 53 Abs. 1 und 2 Aufenthaltsgesetz, und dass sie einem legitimen Ziel diente, nämlich der „Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten“. Es ist somit zu beurteilen, ob die Ausweisung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, d.h., ob sie durch ein dringendes soziales Bedürfnis begründet war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand. Der Gerichtshof verweist erneut auf die Kriterien, nach denen er bei einer solchen Beurteilung vorgeht, wenn in einer Rechtssache das Haupthindernis für eine Ausweisung darin besteht, dass für die Ehegatten das Zusammenleben und für einen Ehegatten und Kinder das Leben im Herkunftsland der auszuweisenden Person schwierig sein wird (vgl. Üner ./. die Niederlande [GK], a. a. O., Rdnrn. 57-58):

„-Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;

-die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

-die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

-die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;

-die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z.B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;

-ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;

-ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und

-das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.“

„-die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und

-die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.“

28. Bei der Anwendung dieser Kriterien auf den vorliegenden Fall berücksichtigt der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführer eine schwere, mit mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedrohte Straftat begangen hat – er hatte in nicht unerheblicher Menge mit Heroin gehandelt, einer besonders gefährlichen Droge mit hohem Suchtpotenzial. In Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf das Leben der Menschen und auf die Gesellschaft hat der Gerichtshof Verständnis dafür, dass die Behörden mit großer Entschlossenheit gegen diejenigen vorgehen müssen, die aktiv zur Verbreitung dieses Übels beitragen (vgl. C. ./. Belgien, 7. August 1996, Rdnr. 35, Entscheidungssammlung 1996‑III, und Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnr. 80, ECHR 2008).

29. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer, als die Ausweisungsverfügung bestandskräftig wurde, bereits ca. 19 Jahre in Deutschland gelebt hatte (siehe Maslov, a.a.O., Rdnr. 61). In diesem recht langen Zeitraum hatte der Beschwerdeführer geheiratet und eine Familie gegründet. Der Gerichtshof erkennt an, dass der Beschwerdeführer damals ca. 17 Jahre verheiratet war und seine Ausweisung eine Trennung der Familienmitglieder zur Folge gehabt hätte. Auch wenn alle seine Kinder – wie die deutschen Gerichte betont haben – die kosovarische Staatsangehörigkeit besaßen, ist festzustellen, dass alle in Deutschland geboren wurden und ausschließlich dort aufgewachsen sind. Außerdem waren alle Kinder minderjährig, nämlich 7, 13, 16 und 17 Jahre alt. Obwohl die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Ehefrau und seinen Kindern nach seiner Inhaftierung im Jahr 2006 stark eingeschränkt war, gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer Deutschland dennoch recht eng verbunden blieb (vgl.Joseph Grant ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 10606/07, Rdnr. 40, 8. Januar 2009).

30. Der Gerichtshof stellt aber auch fest, dass der Beschwerdeführer mehr als die Hälfte seines Lebens im Kosovo verbracht hatte, wo seine Mutter und sein ältester Bruder noch immer lebten. Für den Beschwerdeführer, der im Kosovo aufgewachsen war und bis zum Alter von 28 Jahren dort gelebt hatte, waren weder die Sprache noch die Gebräuche neu. Der Gerichtshof lässt deshalb gelten, dass es keine unüberwindbaren Hindernisse gab, die seiner Reintegration in sein Herkunftsland entgegenstanden (vgl. Miah ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 53080/07, Rdnr. 25, 27. April 2010).

31. Der Gerichtshof teilt zwar die Bedenken des Verwaltungsgerichts Augsburg, dass insbesondere die jüngeren Kinder des Beschwerdeführers noch der Betreuung durch den Vater bedurften. Er stellt aber fest, dass der Beschwerdeführer sich bereits seit dem 4. Oktober 2006 in Haft befunden hatte. Er wurde nur unter der Bedingung seiner Abschiebung aus der Haft entlassen. Andernfalls wäre seine Freiheitsstrafe mit der damit einhergehenden Trennung von seiner Familie weiter vollstreckt worden. In Anbetracht der Reisemöglichkeiten und der Entfernung zwischen Deutschland und Kosovo hatte die Familie des Beschwerdeführers schließlich eine realistische Chance, ihn zumindest in den Schulferien zu besuchen.

32. Der Gerichtshof berücksichtigt ferner, dass die Ausweisung aus dem Bundesgebiet nicht für immer war und dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, eine Befristung der Ausweisungsverfügung zu beantragen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieses Recht auch ausgeübt wurde, denn das Landratsamt Donau-Ries befristete später das Wiedereinreiseverbot bis zum 1. Dezember 2012. Danach konnte er unter Bezugnahme auf seine familiären Bindungen ein Einreisevisum und eine Aufenthaltserlaubnis beantragen.

33. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass es dem Beschwerdeführer freistand, vor Ablauf der Frist nach § 11 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz zu beantragen, ihm ausnahmsweise zu erlauben, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erforderten oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde.

34. Der Gerichtshof erkennt an, dass die innerstaatlichen Gerichte die obengenannten Fragen eingehend und unter Berücksichtigung der familiären Situation des Beschwerdeführers geprüft haben. In Anbetracht der Schwere des vom Beschwerdeführer begangenen Drogendelikts und im Hinblick auf die Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Kontrolle und Regelung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet erkennt der Gerichtshof an, dass die deutschen Gerichte das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens hinreichend berücksichtigt und gegenüber dem Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten angemessen abgewogen haben.

35. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

B. Behauptete Verletzung der Artikel 2, 5 und 6 der Konvention

36. Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 2, 5 und 6, dass sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Kosovo nicht garantiert wäre. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

37. Daraus folgt, dass auch diese Teile der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen sind.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                              Ganna Yudkivska
Stellvertretender Sektionskanzler                        Präsidentin

__________

[1] Alle Bezugnahmen des Gerichtshofs in diesem Text auf das Gebiet, die Institutionen oder die Bevölkerung von Kosovo. sind entsprechend der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und unbeschadet des Status von K. zu verstehen.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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