HAVERMANN gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 51314/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 51314/10
H. und H. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 22. Januar 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 25. August 2010 erho­ben wurde,

im Hinblick auf die Entscheidungen in den Rechtssachen T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, 29. Mai 2012, und G. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 19488/09, 29. Mai 2012,

nach Kenntnisnahme davon, dass die Regierung Liechtensteins, dessen Staatsangehö­rigkeit einer der Beschwerdeführer besitzt, sich nicht als Dritte am Verfahren beteiligen will,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19… geborene Beschwerdeführer, Herr H., ist deutscher Staatsangehöriger und lebt zusammen mit der 19… geborenen Beschwerdeführerin, Frau H., einer liechtensteinischen Staatsangehörigen, in R., Liechtenstein.

A. Die Umstände des Falls

1. Das in Rede stehende Verfahren

2. Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

3. Die Beschwerdeführer waren Beklagte in einem Räumungsverfahren, das am 8. Juni 2000 vor dem Amtsgericht München begann. Der Vermieter erweiterte die Klage später und machte auch rückständige Mietforderungen geltend.

4. Am 16. Februar 2001 ging beim Gericht ein Sachverständigengutachten zur Schad­stoffbelastung in der Wohnung ein.

5. Am 22. Januar 2002 erließ das Gericht ein Teilurteil, mit dem die Beschwerdeführer verurteilt wurden, die Wohnung zu räumen. Am 24. Juli 2002 wies das Landgericht München die Berufung der Beschwerdeführer gegen dieses Teilurteil zurück.

6. Am 23. Oktober 2002 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbe­schwerde der Beschwerdeführer gegen die beiden vorgenannten Entscheidungen nicht zur Entscheidung anzunehmen.

7. Im Januar 2003 stellten die Beschwerdeführer gegen die Richterin des Amtsgerichts einen Befangenheitsantrag und erstatteten Strafanzeige wegen Rechtsbeugung.

Am 25. April 2003 wies das Amtsgericht das Ablehnungsgesuch zurück. Die Staatsan­waltschaft lehnte die Einleitung eines Strafverfahrens ab. Mit weiterem Teilurteil vom 27. Dezember 2004 verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführer zur Zahlung der für das Jahr 2000 noch ausstehenden Miete. Am 8. März 2006 wies das Landgericht München die Berufung beider Parteien zurück; am 15. Mai 2006 wies es die Gehörsrüge der Beschwer­deführer zurück.

8. Am 17. Januar 2008 erließ das Amtsgericht München ein Endurteil und verurteilte die Beschwerdeführer zur Zahlung der für den Zeitraum Januar 2001 bis September 2002 aus­stehenden Miete. Am 5. Februar 2010 wies das Landgericht München die Berufung der Be­schwerdeführer zurück. Die Entscheidung wurde dem Anwalt der Beschwerdeführer am 4. März 2010 zugestellt.

2. Weitere Entwicklungen

9. Am 7. Dezember 2011 teilte die Regierung dem Gerichtshof mit, dass auf das Pilotur­teil in der Rechtssache R. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 46344/06, 2. September 2010) ein Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden und am 3. Dezember 2011 in Kraft getreten sei.

10. Im Dezember 2011 unterrichtete der Gerichtshof die Beschwerdeführer in der vorlie­genden Rechtssache über die Einführung des neuen innerstaatlichen Rechtsbehelfs.

11. Die Beschwerdeführer teilten dem Gerichtshof daraufhin mit, dass sie von dem Rechtsbehelf zwar Gebrauch machen wollten, bezweifelten aber, dass sie einen Rechtsan­walt finden könnten, der sie vertreten würde.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

12. Zu den allgemeinen Aspekten des Gesetzes und seinen Übergangsbestimmungen siehe im Einzelnen T. ./. Deutschland (a.a.O.) und G. ./. Deutschland (a.a.O).

RÜGEN

13. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer des Verfahrens vor den Zivilgerichten. Sie rügten überdies nach Artikel 6 der Kon­vention, dass das Verfahren unfair gewesen sei, und nach Artikel 13 der Konvention, dass es an einer wirksamen Beschwerde fehle, um dieser mangelnden Fairness des Verfahrens ab­zuhelfen; nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention und Artikel 8 der Konvention rügten sie, dass sie gerichtlich dazu verurteilt worden seien, ihre Mietwohnung zu räumen und ausstehende Miete zu zahlen.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Die behauptete Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention wegen der Ver­fahrensdauer

14. Die Beschwerdeführer rügten nach Artikel 6 der Konvention die Verfahrensdauer. Die genannte Vorschrift sieht Folgendes vor:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … in einem … Verfahren … innerhalb angemessener Frist ver­handelt wird.“

15. Die Regierung hat zu dieser Rechtssache nicht Stellung genommen.

16. Der Gerichtshof hat in der Rechtssache G. ./. Deutschland (a.a.O., §§ 46 ff.) Folgendes festgestellt:

„46. Das Gericht sieht keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Beschwerdeführer berechtigt ist, bei dem zuständigen innerstaatlichen Gericht einen Entschädigungsanspruch gemäß Artikel 23 des Rechtsschutzgesetzes geltend zu machen. [… ]

47. […] erkennt das Gericht an, dass das Rechtsschutzgesetz verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise un­ter Berücksichtigung der Anforderungen der Konvention anzugehen. Der Gerichtshof sieht zu diesem Zeitpunkt keinen Grund für die Annahme, der neue Rechtsbehelf werde dem Beschwer­deführer nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung für seine berechtigten Klagen zu erhalten, oder ihm keine hinreichende Erfolgssaussichten bieten.

48. Die Position des Gerichtshofs kann in der Zukunft der Überprüfung unterliegen, was von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängen wird, im Hinblick auf das Rechtsschutzgesetz eine konsistente und den Erfordernissen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (siehe Korenjak, a.a.O., Rdnr. 73).

49. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass die Rüge des Beschwerdeführers verfrüht ist.“

17. Der Gerichtshof sieht in der vorliegenden Rechtssache keinen Grund, zu einer ande­ren Schlussfolgerung zu gelangen. Der Gerichtshof ist ungeachtet der Zweifel der Be­schwerdeführer, sie könnten keinen Anwalt finden, insbesondere der Auffassung, dass der neue innerstaatliche Rechtsbehelf für die Beschwerdeführer zugänglich war, denn die allge­meinen Bestimmungen über Prozesskostenhilfe nach deutschem Recht finden hier Anwen­dung. Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, dass diese Bestimmungen mit den Anfor­derungen der Konvention vereinbar sind (siehe T. ./. Deutschland, a.a.O., § 38, und E. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 23947/03, 10. April 2007).

18. Daraus folgt, dass dieser Teil der Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist.

B. Weitere Rügen

19. Unter Bezugnahme auf andere Artikel der Konvention rügten die Beschwerdeführer weitere Aspekte im Zusammenhang mit den oben genannten Verfahren.

20. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die Rügen unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof fest, dass es diesbezüglich keine Anzeichen für eine Verletzung der in diesen Bestimmungen bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerden nach Artikel 35 Abs. 1, 3 Buchstabe a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                      Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler                              Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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