ANNEN gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 55558/10

FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 55558/10
A. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 12. Februar 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Helena Jäderblom,
und Stephen Phillips, Stellvertretender Sektionskanzler,
mit Blick auf die vorstehend genannte Individualbeschwerde, die am 24. September 2010 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

Der 19[…] geborene Beschwerdeführer, Herr A., ist deutscher Staatsangehöriger und in W. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn L., Rechtsanwalt in E., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

Am 6. Mai 2003 lief der Beschwerdeführer, der gegen das Recht auf Abtreibung eintritt, vor der gynäkologischen Praxis des Dr. M. auf und ab und zeigte dabei ein Sandwich-Plakat mit der Aufschrift

„stoppt rechtswidrige Abtreibungen,die von Dr. M. [vollständige Anschrift] vorgenommen werden,“ auf der Vorderseite.

Auf der Rückseite des Plakats stand der folgende Text

„damals Holocaust – heute Babycaust – stoppen Sie den Kindermord.“

Der Beschwerdeführer verteilte auch vierseitige Faltblätter an Passanten, die u. a. folgende Aussagein Fettdruck enthielten:

„Dr. M. [vollständige Anschrift] nimmt rechtswidrige Abtreibungen vor, die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt. Der Beratungsschein schützt vor Strafverfolgung, aber nicht vor der Verantwortung vor Gott.“

Dr. M. erstattete Anzeige wegen Beleidigung gegen den Beschwerdeführer.

Am 29. November 2004 verurteilte das Amtsgericht München den Beschwerdeführer wegen übler Nachrede (§ 185 StGB [sic][1]) zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 20 Euro. Das Amtsgericht stellte fest, dass sich der Beschwerdeführer eines juristischen Sprachgebrauchs (rechtswidrig) bedient hatte, um eine Meinungsäußerung in einem Alltagsbereich kund zu tun. Es merkte überdies an, dass das Sandwich-Plakat – im Gegensatz zum Faltblatt – keine weitere Erläuterung enthielt. Das Amtsgericht kam zu dem Schluss, dass auf beiden Seiten des Plakats zusammengenommen eine unwahre Tatsachenbehauptung erstellt wurde, die sich für den gewöhnlichen unvoreingenommenen Passanten so darstellte, dass Dr. M. sich nicht an das Gesetz halte, während er eine Abtreibung vornimmt. Hinzu komme, dass auf der Rückseite des Plakats ein Bezug zum Holocaust und zum Kindermord hergestellt werde. Der unvoreingenommene Betrachter könne dadurch nur zu dem Schluss kommen, dass Dr. M. in seiner Praxis gegen das Gesetz verstoße und hierbei besonders grausam und verwerflich vorgehe.

Dies sei eine vorsätzlich falsche Tatsachenbehauptung. Infolge einer vorangegangenenVerurteilung habe dem Beschwerdeführer bewusst sein müssen, dass der Begriff „rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch“ nur in dem speziellen Zusammenhang der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gesehen werden könne. Dies werde durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Beschwerdeführer seiner früheren Verurteilung Rechnung trug, indem er den Text seiner Flugblätter, auf denen der Begriff „rechtswidrig“ nunmehr klar und deutlich erläutert wird, änderte. Eine derartige Erläuterung fand sich in der Aufschrift des Sandwich-Plakats jedoch nicht. Das Flugblatt sei nicht geeignet gewesen, alle Passanten angemessen zu informieren, weil die Vorbeigehenden überwiegend das Plakat aber nicht die Broschüre gelesen haben dürften. Der Beschwerdeführer habe billigend in Kauf genommen, dass eine Vielzahl von Personen die Plakataufschrift lesen, ohne je eine Erläuterung durch das Flugblatt zu erhalten.

Das Amtsgericht war überdies der Auffassung, dass die persönliche Ehre des Dr. M. und sein Recht auf freie Berufsausübung durch die Plakataufschrift schwerwiegend verletzt worden seien. Diese geschützten Interessen überwögen in vorliegender Rechtssache das Recht des Beschwerdeführers, seine Meinung frei zu äußern. Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen berücksichtigte das Amtsgericht, dass der Beschwerdeführer seine Plakate gezeigt habe, indem er im unmittelbaren Umkreis der ärztlichen Praxis des Dr. M. hin und her gegangen sei. Demgegenüber habe Dr. M. seine Meinung nicht in vergleichbarer Weise zum Ausdruck gebracht, sondern lediglich im Internet darauf hingewiesen, dass in seiner ärztlichen Praxis legale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Nach Auffassung des Gerichts war es dem Beschwerdeführer gestattet, auch durch besonders einprägsame Formulierungen auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Dr. M. habe ihm jedoch keinen Anlass gegeben, ihn als Einzelperson herauszugreifen.

Schließlich war das Amtsgericht der Ansicht, dass es dem Beschwerdeführer freigestanden hätte, das Handeln des Geschädigten als „verwerflich“ oder „unmoralisch“ zu bezeichnen. Der Beschwerdeführer habe sich jedoch ohne die erforderliche Erläuterung für einen juristischen Fachbegriff entschieden.

Das Amtsgericht berücksichtigte zu Gunsten des Beschwerdeführers, dass er die ihm vorgeworfenen Handlungen eingeräumt und aktiv an der politischen Auseinandersetzung in Deutschland teilgenommen habe. Es sei allerdings zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bereits zweimal wegen ähnlicher Straftaten vorbestraft sei und zu erkennen gegeben habe, dass er nicht gedenke, sein Verhalten zu ändern.

Am 28. Juni 2005 verwarf das Landgericht München die Berufung des Beschwerdeführers. Das Landgericht merkte an, dass Dr. M. seit dem Jahre 2001 keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchgeführt habe; dies sei dem Beschwerdeführer aber nicht bekannt gewesen. Das Landgericht bestätigte, dass die Aufschrift auf dem Sandwich-Plakat darauf hindeute, dass Dr. M. in seiner Praxis rechtswidrige Abtreibungen vornehme. Die Erläuterungen auf dem Faltblatt seien nicht geeignet, diese Behauptung zu berichtigen, weil der Beschwerdeführer die Flugblätter nur interessierten Passanten gegeben habe. Folglich hätten andere Passanten, Autofahrer oder sonstige Personen, die das Plakat erblickten, ohne das Faltblatt gelesen zu haben, die Erläuterungen des Beschwerdeführers nicht zur Kentnis nehmen können.

Das Landgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich gehandelt habe. Zwar könnte er unrichtigerweise davon ausgegangen sein, dass Dr. M. immer noch Abtreibungen durchführe, jedoch habe er vorsätzlich unwahr behauptet, dass diese Abtreibungen „rechtswidrig“ seien. Das Landgericht nahm auf die Erwägungen in zwei Beschlüssen des Bundesgerichtshofs vom 1. April 2003 und 7. Dezember 2004 (vgl. A. II ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 2373/07 und 2396/07, 30. März 2010) Bezug und stellte fest, dass in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Dr. M. in einem Umfang eingegriffen worden sei, dass demgegenüber das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung zurücktrete.

Am 15. Februar 2006 verwarf das Oberlandesgericht München die Revision des Beschwerdeführers. Es war der Auffassung, dass das Landgericht den maßgeblichen Sachverhalt geprüft und bewertet habe. Das Oberlandesgericht stellte insbesondere fest, dass das Landgericht berücksichtigt habe, dass der Beschwerdeführer sich im Rahmen einer öffentlichen politischen Debatte geäußert habe, und dass das Recht auf freie Meinungsäußerung eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen verlange. Überdies war es der Aufassung, dass in allen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses und vor allem im politischen Meinungskampf eine Vermutung zugunsten der Meinungsäußerungsfreiheit spreche. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass das Landgericht auf die Erwägungen des Bundesgerichtshofs Bezug genommen hatte. Demnach habe der Beschwerdeführer den Arzt willkürlich ausgewählt und eine „Prangerwirkung“ erzeugt. Daher überwiege das Persönlichkeitsrecht des Dr. M.

Am 20. März 2006 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Unter Berufung auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 5 GG) rügte er insbesondere, dass die Strafgerichte ihre Würdigung des Sachverhalts ausschließlich auf die Aufschrift auf dem Sandwich-Plakat abgestellt, den Inhalt des Faltblatts aber nicht berücksichtigt hätten. Er trug vor, dass eine Meinungsäußerung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Gesamtkontext bewertet werden müsse. Zudem sei die Äußerung zu rechtwidrigen Abtreibungen zutreffend, und das Landgericht habe es versäumt, in Betracht zu ziehen, dass der Beschwerdefüher sich für die Rechte von ungeborenen Kindern einsetze.

Am 22. März 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf seine Verfahrensordnung ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis werden in dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache H. und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 397/07 und 2322/07, Rdnrn. 24-25, 13. Januar 2011 undin der Zulässigkeitsentscheidung in der Rechtssache A. II (a. a. O.) zusammenfassend dargestellt.

RÜGEN

Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 10 der Konvention seine strafrechtliche Verurteilung. Er rügte ferner nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss, seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, nicht begründet habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

Der Beschwerdeführer rügte, dass seine strafrechtliche Verurteilung wegen übler Nachredeeine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention darstelle; dieser lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind … zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, …“

In der Begründung seines Schriftsatzes verwies der Beschwerdeführer in erster Linie auf die in seiner Verfassungsbeschwerde vorgetragenen Argumente.

Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass die Bestimmungen des Grundgesetzes, auf die die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers sich stützt, mit den maßgeblichen Artikeln der Konvention nicht völlig identisch sind. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass der alleinige Hinweis auf die Verfassungsbeschwerde eine ausreichende Substantiierung der Rüge des Beschwerdeführers darstellt, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Beschwerde aus folgenden Gründen ohnehin unzulässig ist:

Nach Auffassung des Gerichtshofs kam die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers einem „Eingriff“ in sein Recht auf freie Meinungsäußerung gleich. Ein solcher Eingriff stellt eine Konventionsverletzung dar, wenn er nicht die Erfordernisse aus Artikel 10 Abs. 2 erfüllt. Es soll daher festgestellt werden, ob er „gesetzlich vorgesehen“ war, ob er eines oder mehrere der in Artikel 10 Abs. 2 genannten rechtmäßigen Ziele verfolgte und ob er „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, um diese Ziele zu erreichen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers auf § 185 StGB [sic.] beruhte. Daher war der gerügte Eingriff „gesetzlich vorgeschrieben“.Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers dem „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ diente, nämlich des Rufes und der Persönlichkeitsrechte des Dr. M.

Es bleibt noch festzustellen, ob die Eingriffe „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ waren. Hierzu bedarf es eines „dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses”. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch mit einer Kontrolle durch den Gerichtshof einher (siehe u.v.a. Perna ./. Italien [GK] Individualbeschwerde Nr. 48898/99,Rdnr. 39, EGMR 2003-V).

Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, sich bei seiner Überwachung an die Stelle der nationalen Behörden zu setzen; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Ermessensspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Hierbei hat der Gerichtshof den gerügten „Eingriff“ im Lichte des Falles als Ganzem zu betrachten und zu entscheiden, ob die zu seiner Rechtfertigung von den nationalen Behörden angeführten Gründe „stichhaltig und ausreichend” sind (s. u. v. a. Fressoz und Roire ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 29183/95, Rdnr. 45, EGMR 1999‑-I). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der politischen Redefreiheit oder der Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses gibt (siehe u. v. a. Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) ./. die Schweiz (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerde Nr. 32772/02, Rdnr. 92, EGMR 2009, und Mouvement raëlien ./. die Schweiz [GK] Individualbeschwerde Nr. 16354/06, Rdnr. 61, 13. Juli 2012).

Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die nationalen Gerichte, insbesondere das Oberlandesgericht München, ausdrücklich anerkannten, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers Fragen des öffentlichen Interesses betrafen und dass in derartigen Fällen die Vermutung für die Meinungsfreiheit speche. Die Strafgerichte waren jedoch der Auffassung, dass die Aufschriften auf dem Sandwich-Plakat, denen zufolge Dr. M. „rechtswidrige“ Abtreibungen vornahm, so interperetiert werden müssten, als führe Dr. M. Abtreibungen außerhalb des gesetzlichen Rahmens durch. Nach Auffassung der Strafgerichte wurden das Recht der persönlichen Ehre und das berufliche Ansehen des Arztes durch diese Äußerung schwerwiegend verletzt. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Interesse des Dr. M. an dem Schutz seiner Rechte das Interesse des Beschwerdeführers an der von ihm gewählten besonderen Art der Meinungsäußerung überwiege und seine Handlung daher eine Beleidgung zum Nachteil des Dr. M. dastelle.

Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass die nationalen Gerichte die widerstreitenden Interessen in drei Instanzen sorgfältig gewürdigt haben. Hierbei erkannten sie an, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse im Sinne des Rechts auf freie Meinungsäußerung unter besonderen Schutz fallen könnten, wobei sie gleichzeitig berücksichtigten, dass der Arzt nicht an der öffentlichen Debatte teilgenommen und dem Beschwerdeführer keinen Anlass gegeben hatte, ihn als Einzelperson herauszugreifen.

Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerderügte, dass die nationalen Gerichte die Aufschrift auf dem Sandwich-Plakat gewürdigt hätten, ohne die weiteren rechtlichen Ausführungen auf den Faltblättern, die er an Passanten verteilt hatte, zu berücksichtigen. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die nationalen Gerichte erklärt hatten, dass die Faltblätter nur interessierten Passanten gegeben wurden und dass bei einer Vielzahl von Personen mithin davon ausgegangen werden konnte, dass sie die Plakataufschrift gelesen haben, ohne je Kenntnis von dem Inhalt des Handzettels zu erhalten. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die nationalen Gerichte die eigene Würdigung des Plakatinhalts stichhaltig begründet haben.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass Art und Schwere der verhängten Sanktion bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs ebenfalls zu berücksichtigen sind (siehe u. v. a.Ceylan ./. Türkei [GK Individualbeschwerde Nr. 23556/94, Rdnr. 37, EGMR 1999 ‑IV und A. II, a. a.a.O.). Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zu einer relativ niedrigen Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt wurde.

Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er in einer anderen Entscheidung über eine von demselben Beschwerdeführer erhobene Beschwerde anerkannt hat (siehe A. II, a. a. O.), dass eine derartige Äußerung, die unter vergleichbaren Umständen gemacht worden ist, von einer durchschnittlich einsichtigen Person so verstanden werden könnte, dass die „rechtswidrigen“ Schwangerschaftsabbrüche im engeren Sinne verboten und strafbar seien. Zudem schloss sich der Gerichtshof in dieser Rechtssache der Einschätzung der nationalen Gerichte an, dass das Recht der persönlichen Ehre des betroffenen Arztes das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung überwiege.

In vorliegender Rechtssache ist der Gerichtshof ferner der Auffassung, dass die nationalen Gerichte das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung und die Persönlichkeitsrechte des Arztes korrekt gegeneinander abgewogen haben. Daraus folgt, dass die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe ausreichten, um nachzuweisen, dass der gerügte Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

Im Hinblick auf alle genannten Faktoren und insbesondere die sorgfältige Prüfung des Gegenstands von Artikel 10 durch die nationalen Gerichte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die nationalen Gerichte einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herbeigeführt haben. Folglich ist nicht ersichtlich, dass Artikel 10 der Konvention verletzt wurde.

Daraus folgt, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION

Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die Weigerung des Bundesverfassungsgerichts, seinen Nichtannahmebeschluss zu begründen, sein Recht nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“

Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es ausreicht, wenn die nationalen übergeordneten Gerichte die Annahme einer Beschwerde ablehnen, indem sie einfach auf die Rechtsvorschriften verweisen, die diese Vorgehensweise zulassen, wenn die durch die Beschwerde aufgeworfenen Fragen wie im vorliegenden Fall keine grundsätzliche Bedeutung haben (siehe T. /. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 47636/99, 4. Oktober 2001). Daraus folgt, dass auch diese Rüge offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Die Individualbeschwerde wird für unzulässig erklärt.

Stephen Phillips                                            Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                                     Präsident

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[1] Im Originaltext heißt es „ § 185 StGB“. Tatsächlich erfolgte eine Verurteilung nach § 186 StGB.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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