HUHLE gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 61145/09

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 61145/09
H. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 27. August 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter:

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
sowie Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 13. November 2009 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

1. Die 19[…] bzw. 19[…] geborenen Beschwerdeführer, Frau H. und Herr H., sind deutsche Staatsangehörige und in S. wohnhaft.

2. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

A. Die Umstände der Rechtssache

3. Die Beschwerdeführer sind die Eltern eines 1992 geborenen Sohnes und einer 1993 geborenen Tochter. Die Beschwerdeführer entschieden, ihre Kinder in einem Gymnasium mit altsprachlichem Zweig unterrichten zu lassen, welches sich im benachbarten Bundesland Hamburg befand. Der Sohn der Beschwerdeführer besuchte dieses Gymnasium in den Schuljahren 2003/2004 und 2004/2005, die Tochter im Schuljahr 2004/2005.

4. 2004 bewilligte die niedersächsische Landesschulbehörde den Beschwerdeführern eine kostenlose Netzkarte für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln für die Schulwege. Die Beschwerdeführer beantragten Fahrtkostenerstattung für die Beförderung mit ihrem privaten PKW.

5. Am 2. September 2004 lehnte die Behörde den Antrag der Beschwerdeführer ab. Sie befand, dass die Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sei. Eine Fahrtkostenerstattung für die Beförderung mit dem privaten PKW sagte sie nur für diejenigen Tage zu, an denen der Sohn an der Reihe sei, nach dem Unterricht den Klassenraum aufzuräumen.

6. Am 5. September 2004 erhob die Beschwerdeführerin Widerspruch. Sie brachte insbesondere vor, dass der Weg zur Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln unzumutbar lang dauere und nicht sicher sei. Sie fügte hinzu, dass nunmehr auch ihre Tochter mit dem privaten PKW zur Schule befördert werden müsse. Am 14. Oktober 2004 wies die Behörde den Widerspruch zurück.

7. Am 12. November 2004 erhoben die Beschwerdeführer Klage zu den Verwaltungsgerichten.

8. Am 21. November 2005 stellte das Verwaltungsgericht Lüneburg fest, dass das Land Niedersachsen verpflichtet sei, sicherzustellen, dass Schüler ihre Schule innerhalb einer zumutbaren Zeit erreichen können. Nach der Rechtsprechung des Gerichts dürfe der Schulweg einfach nicht länger als 90 Minuten dauern; 60 Minuten seien noch zumutbar. Das Gericht verwies in diesem Zusammenhang auf ein Gutachten der Niedersächsischen Landeskommission Schülertransport aus dem Jahr 1979. Es stellte fest, dass der Schulweg im vorliegenden Fall unzumutbar lang sei. Ein Schultag einschließlich Unterrichtszeit, Schulweg und Hausaufgaben dürfe nicht über acht Stunden pro Tag hinausgehen. Darüber hinaus müssten die Kinder pro Weg zwei Mal umsteigen.

9. Am 4. Juni 2008 hob das niedersächsische Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts auf und wies die Klage im Übrigen ab. Es wiederholte, dass das Land Niedersachsen verpflichtet sei, sicherzustellen, dass Schüler ihre Schule innerhalb einer zumutbaren Zeit erreichen können. Es bestätigte, dass 90 Minuten einfache Fahrtzeit für Schüler von weiterführenden Schulen unzumutbar lang sei, 60 Minuten jedoch noch zumutbar seien. Im konkreten Fall betrage die Fahrtzeit ohne die notwendigen Umsteige- und Wartezeiten zwischen 63 und 79 Minuten. Das Gericht unterstrich allerdings, dass die Kinder nicht das nächst gelegene Gymnasium, sondern ein entfernt gelegenes mit einem speziellen, seltenen Zweig besuchten. Unter diesen Umständen seien etwas längere Fahrtzeiten zu tolerieren. Schließlich wies das Gericht das Vorbringen der Beschwerdeführer zurück, dass öffentliche Verkehrsmittel unsicher seien.

10. Am 15. Januar 2009 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Beschwerdeführer zurück. Es stellte fest, dass der Fall hauptsächlich niedersächsisches Landesrecht und nicht Bundesrecht betreffe und das Urteil keine Missachtung bundesrechtlicher Normen erkennen lasse.

11. Am 16. Juni 2009 lehnte eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer ohne Begründung ab.

12. Mit Schreiben vom 18. März 2013 teilten die Beschwerdeführer dem Gerichtshof mit, dass ihre Kinder das in Rede stehende Gymnasium nicht mehr besuchten, da die Beförderungsbedingungen unzumutbar seien.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

13. Gemäß § 114 in Verbindung mit § 63 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) haben Landkreise und kreisfreie Städte die angemessenen Kosten für die Beförderung der in ihrem Gebiet wohnenden Schülerinnen und Schüler zu tragen oder deren Eltern die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten.

RÜGEN

14. Die Beschwerdeführer rügten nach den Artikeln 5, 8, 9 und 14 der Konvention sowie nach Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Recht auf Bildung) die Weigerung der Behörde, ihnen die Kosten für die Beförderung ihrer Kinder zur Schule mit ihrem privaten PKW zu erstatten. Sie brachten insbesondere vor, dass der Schulweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln unzumutbar lang und ermüdend für die Kinder sei und außerdem nicht hinreichend sicher sei, weshalb sie gezwungen seien, ihren privaten PKW zu nutzen.

Unter Berufung auf Artikel 6 rügten sie, dass die Dauer des Verfahrens unangemessen lang gewesen sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Rüge betreffend die Erstattung der Beförderungskosten

15. Unter Berufung auf Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Recht auf Bildung) rügten die Beschwerdeführer die Weigerung der Behörde, ihnen die Kosten für die Beförderung ihrer Kinder zur Schule mit ihrem privaten PKW zu erstatten. Der Gerichtshof prüft die Rüge nach Artikel 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention, der wie folgt lautet:

„Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden.“

16. Der Gerichtshof ist sich bewusst, dass Deutschland den folgenden Vorbehalt gegen Artikel 2 des Zusatzprotokolls angebracht hat, hält es aber nicht für notwendig, die Anwendung des Artikels auf den vorliegenden Fall in Betracht zu ziehen, da die Individualbeschwerde aus den unten stehenden Gründen in jedem Fall unzulässig ist. Der Vorbehalt lautet wie folgt:

„Die Bundesrepublik Deutschland macht sich die Auffassung zu eigen, dass Artikel 2 Satz 2 des Zusatzprotokolls keine Verpflichtung des Staates begründet, Schulen religiösen oder weltanschaulichen Charakters zu finanzieren oder sich an ihrer Finanzierung zu beteiligen […].“

17. Artikel 2 des Zusatzprotokolls verpflichtet die Vertragsparteien nicht, bestimmte Bildungstypen zu schaffen oder zu unterstützen. Die Bestimmung betrifft im Wesentlichen den Zugang zu Grundschule und weiterführender Schule, wobei Hochschulen nicht unbedingt ausgeschlossen sind. Das Recht auf Bildung kann auch positive Verpflichtungen mit sich bringen (siehe Leyla Şahin ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 44774/98, Rdnrn. 135, 136, ECHR 2005‑XI). Es kann nicht dazu benutzt werden, ein Recht auf kostenlose Beförderung zur Schule der Wahl abzuleiten, wenn es eine verfügbare Alternative gibt, die eine kostenlose Beförderung einschließen würde und nicht im Widerspruch zu den Überzeugungen der Eltern steht (siehe Cohen ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 25959/94, Kommissionsentscheidung vom 28. Februar 1996).

18. In der vorliegenden Rechtssache machten die Beschwerdeführer nicht geltend, dass die örtlichen weiterführenden Schulen unzureichend seien. Allerdings wollten sie ihre Kinder auf eine spezielle Schule außerhalb des Einzugsbereichs ihrer örtlichen Schule und sogar außerhalb des Landes Niedersachsen, in dem die Beschwerdeführer wohnten, schicken. Sie begründeten dies damit, dass keine der örtlichen Schulen einen altsprachlichen Zweig anbiete.

19. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass nach dem niedersächsischen Bildungssystem keinesfalls von den Kindern der Beschwerdeführer verlangt werde, eine ihr unterliegende örtliche Schule zu besuchen, sondern dass es ihnen erlaubt sei, die von ihren Eltern ausgewählte Schule zu besuchen. Das Bildungssystem ermöglichte unter bestimmten Bedingungen auch eine kostenlose Beförderung zu dieser Schule. Selbst wenn ein wirksamer Zugang zu Bildung unter bestimmten Umständen die Bereitstellung von Beförderungsmöglichkeiten voraussetzen würde – worüber der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht zu entscheiden hat – hat die beschwerdegegnerische Regierung durch die Bereitstellung einer kostenlosen Beförderung zu der von den Beschwerdeführern ausgewählten Schule ihre Verpflichtung nach Artikel 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls erfüllt. Die Tatsache, dass die Kinder einfach über eine Stunde Fahrtzeit hatten, ist eine Folge der Entscheidung der Beschwerdeführer, ihre Kinder auf diese spezielle Schule zu schicken, und wirkt sich nicht auf die Verpflichtung der beschwerdegegnerischen Regierung aus, nämlich den Zugang zu Bildung zu gewährleisten.

20. Was das Vorbringen der Beschwerdeführer angeht, dass der öffentliche Nahverkehr nicht sicher genug sei, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte dies als unbegründet zurückgewiesen haben. Die Beschwerdeführer brachten keine Tatsachen vor, welche die Tatsachenbewertung durch die innerstaatlichen Gerichte in Frage stellen könnten.

21. Folglich ist die Rüge der Beschwerdeführer offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückzuweisen.

B. Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 (Verfahrensdauer)

22. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer des Verfahrens. Die genannte Vorschrift lautet wie folgt:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … in einem … Verfahren … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

23. Selbst unter der Annahme, dass die Dauer des Verfahrens im vorliegenden Fall überlang war, stellt der Gerichtshof fest, dass die diesbezügliche Rüge wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als unzulässig anzusehen ist, da Deutschland zum 3. Dezember 2011 einen innerstaatlichen Rechtsbehelf eingeführt hat, mit dem eine Wiedergutmachung für überlange Verfahrensdauern erreicht werden kann.

24. In der Rechtssache T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, 29. Mai 2012, hielt es der Gerichtshof für angemessen und gerechtfertigt, auch von den Beschwerdeführern, die ihre Beschwerden vor Inkrafttreten des Gesetzes beim Gerichtshof erhoben hatten, zu verlangen, dass sie den neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf in Anspruch nehmen. Außerdem kann der Beschwerdeführer nicht behaupten, nicht ordnungsgemäß über den neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf informiert worden zu sein, siehe B. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 41394/11, 22. Januar 2013. In dieser Rechtssache stellte der Gerichtshof fest, dass es vornehmlich die Aufgabe der Beschwerdeführer ist, innerstaatliche Entwicklungen, die für ihre Beschwerden von Belang sind, zu beobachten und entsprechend zu reagieren.

25. In der vorliegenden Rechtssache haben die Beschwerdeführer nicht vorgebracht, dass sie einen Rechtsbehelf nach dem neuen Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingelegt hätten. Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.

C. Weitere Rügen

26. Da die nach Artikel 2 des Zusatzprotokolls erhobene Rüge der Beschwerdeführer wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurückgewiesen wurde, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass auch die damit im Zusammenhang stehenden weiteren Rügen, insbesondere die Rügen nach den Artikeln 5, 8, 9 und 14 der Konvention, offensichtlich unbegründet sind und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückzuweisen sind.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                    Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler                           Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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