Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 70904/10
K. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 17. September 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter:
Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Helena Jäderblom,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 30. November 2010 erhoben wurde,
unter Berücksichtigung der förmlichen Erklärungen, mit denen eine gütliche Einigung in der Rechtssache angenommen wird,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT UND VERFAHREN
1. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer, Herr K., ist deutscher Staatsangehöriger. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt X inhaftiert. Derzeit ist er in G., Polen, wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er zunächst von Herrn H. und anschließend von Herrn F. und Herrn I., Rechtsanwälte in D., vertreten; gegenwärtig wird er von Herrn B., ebenfalls Rechtsanwalt in D., vertreten.
2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, ECHR 2009), rügte der Beschwerdeführer insbesondere, dass seine Sicherungsverwahrung, die nachträglich auf der Grundlage einer nach der Begehung seiner Straftaten und nach seiner Verurteilung in Kraft getretenen gesetzlichen Bestimmung angeordnet worden sei, Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verletze.
4. Die Beschwerde wurde der beschwerdegegnerischen Regierung mit der Bitte übermittelt, eine Stellungnahme zur Zulässigkeit und Begründetheit der Rügen des Beschwerdeführers nach Artikel 5 und Artikel 7 der Konvention abzugeben.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Die Rügen des Beschwerdeführers nach Artikel 5 und Artikel 7 der Konvention
5. Am 23. Mai 2013 ging beim Gerichtshof nach gescheiterten Vergleichsverhandlungen die folgende Erklärung der Regierung ein:
„Einseitige Erklärung
1. Die vom Gerichtshof vorgeschlagene gütliche Einigung ist gescheitert, da sie vom Beschwerdeführer abgelehnt wurde.
2. Die Bundesregierung möchte – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass der Beschwerdeführer dadurch, dass er in der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung untergebracht war, in seinen Rechten aus Artikel 5 EMRK und Artikel 7 EMRK verletzt wurde.
3. Die Bundesregierung ist bereit, eine Entschädigung in Höhe von 12.000 € an den Beschwerdeführer zu leisten, wenn der Gerichtshof das Individualbeschwerdeverfahren unter der Bedingung der Zahlung dieses Betrages gemäß Artikel 37 Absatz 1 c) EMRK aus dem Register streicht. Damit würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers wegen konventionswidriger Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, Kosten und Auslagen als abgegolten gelten.
Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten, nachdem der Gerichtshofs entschieden hat, die Rechtssache aus seinem Register zu streichen. Bei nicht fristgerechter Zahlung fallen Zinsen in Höhe von drei Prozentpunkten über dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank an.“
6. Am 24. Juni 2013 erhielt der Gerichtshof ein Schreiben des Bevollmächtigten des Beschwerdeführers, wonach der Beschwerdeführer den Bedingungen der am 22. Mai 2013 von der Regierung abgegebenen Erklärung letztlich zugestimmt und die Streichung der Rechtssache aus dem Register gewünscht hat.
7. Der Gerichtshof nimmt die einseitige Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung zur Kenntnis, welcher der Beschwerdeführer anschließend ausdrücklich zugestimmt hat. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass diese Einigung auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte getroffen wurde, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen anerkannt sind, und stellt fest, dass keine Gründe vorliegen, die eine weitere Prüfung der Beschwerde rechtfertigen würden. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen.
B. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers
8. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass seine Sicherungsverwahrung gegen das Verbot der doppelten Bestrafung nach Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention verstoße. Außerdem brachte der Beschwerdeführer unter Berufung auf Artikel 6 und Artikel 13 der Konvention vor, dass sein Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist verletzt worden sei und ihm kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe, um seine fortwährende Unterbringung zu rügen.
9. Der Gerichtshof hat die übrigen von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass diese Rügen selbst unter der Annahme, dass sie ratio personae mit den Bestimmungen der Konvention vereinbar sind und der innerstaatliche Rechtsweg vollständig erschöpft ist, keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder ihren Protokollen bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lassen.
Daraus folgt, dass die Individualbeschwerde im Übrigen nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:
Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung in Bezug auf die Rügen des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 der Konvention zur Kenntnis;
er beschließt, die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention im Register zu streichen, soweit sie die vorstehend genannten Rügen zum Gegenstand hat;
und erklärt die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig.
Stephen Phillips Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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