QUINTANA SCHMIDT und HASHEMI KAROVIE gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 17292/13

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 17292/13
Q. und H.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 8. Oktober 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter:

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger und
André Potocki,
sowie Stephen Phillips, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 4. März 2013 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

Die 19[…] bzw. 19[…] geborenen Beschwerdeführer, Frau Q. und Herr H., sind deutsche Staatsangehörige und in S. wohnhaft.

A. Die Umstände der Rechtssache

Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

Die Beschwerdeführer haben einen am 6. August 1998 geborenen Sohn, der zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung die 8. Klasse eines Gymnasiums besuchte. Nach der 13. Klasse kann das Abitur abgelegt werden.

Am 27. Juli 2012 erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz. Sie rügten, dass bei den Abiturprüfungen die Personalien der Schüler nicht anonymisiert würden. Außerdem rügten sie, dass es für die Bewertung der Prüfungsleistungen der Schüler kein Kontrollgremium gebe. Dadurch könnten Schüler bei den Prüfungen entweder bevorzugt oder diskriminiert werden. Überdies rügten sie, dass die Prüfungsordnung es auch fachfremden Lehrkräften gestatte, Prüfungen abzunehmen. Der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof wies die Beschwerde als unzulässig zurück. Die Beschwerdeführer seien nicht zu einer Beschwerde berechtigt. Weder die Beschwerdeführer noch ihr Sohn seien gegenwärtig von den Regelungen zu den Abiturprüfungen betroffen. Der Gerichtshof betonte, dass der Sohn, wenn er die Prüfungen abgelegt habe, Rechtsmittel bei den Gerichten einlegen könne, sofern er seine Rechte verletzt sehe. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stehe nicht einmal fest, ob er die Abiturprüfungen ablegen werde (er könne vor der 13. Klasse von der Schule abgehen) und ob die entsprechenden Vorschriften dann noch gelten würden. Aus denselben Gründen seien die Beschwerdeführer nicht unmittelbar von den Regelungen zu den Abiturprüfungen betroffen. Abschließend stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer nicht selbst von der Prüfungsordnung betroffen seien. Der Gerichtshof unterstrich in diesem Zusammenhang, dass der Sohn der Beschwerdeführer zu dem Zeitpunkt, an dem er die Abiturprüfungen ablegen könne, sicherlich volljährig sein werde.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

Die Abiturprüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil. Gemäß § 19 Abs. 5 der Abiturprüfungsordnung von Rheinland-Pfalz vom 21. Juli 2010 hat der Prüfling in der schriftlichen Prüfung seine Personalien auf der ersten Seite des Prüfungsbogens einzutragen. Nach § 20 Abs. 1 und 2 werden die schriftlichen Arbeiten von zwei Fachlehrkräften getrennt und unabhängig voneinander bewertet.

Gemäß § 5 Abs. 2 gehören dem Prüfungsausschuss für mündliche Prüfungen drei Lehrkräfte der Schule an; eine davon muss die Fachlehrkraft sein, die den Prüfling zuvor in dem betreffenden Fach unterrichtet hat. Nach § 23 Abs. 3 wird die Prüfung von der zuständigen Fachlehrkraft durchgeführt. Das vorsitzende Mitglied des Fachprüfungsausschusses ist berechtigt, die Prüfung teilweise zu führen.

RÜGE

Die Beschwerdeführer rügten nach Artikel 2 des Protokolls Nr. 1 und Artikel 14 der Konvention, dass die Schülerpersonalien bei den Abiturprüfungen nicht anonymisiert würden. Darüber hinaus rügten sie, dass es kein Kontrollgremium für die Bewertung der Prüfungsleistungen der Schüler gebe. Sie machten geltend, dass dadurch einige Schüler bevorzugt und andere – zum Beispiel Schüler mit Migrationshintergrund – diskriminiert werden könnten. Außerdem rügen sie, dass die Prüfungsordnung es auch fachfremden Lehrkräften gestatte, mündliche Prüfungen abzunehmen.

Sie machen geltend, dass es weder vernünftig noch wirksam sei, von ihnen zu verlangen, erst dann Rechtsmittel bei den innerstaatlichen Gerichten einzulegen, nachdem ihr Sohn die Abiturprüfungen abgelegt habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

Der Gerichtshof wiederholt zunächst, dass eine Person, um eine Beschwerde nach Artikel 34 einlegen zu können, behaupten können muss, „in einem der in [der] Konvention […] anerkannten Rechte verletzt zu sein.“ Um eine Verletzung behaupten zu können, muss eine Person unmittelbar von der angegriffenen Maßnahme oder Unterlassung betroffen sein (siehe u. a. Burden ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13378/05, Rdnr. 33, ECHR 2008). Die Konvention gestattet es Einzelpersonen demnach nicht, eine innerstaatliche Rechtsvorschrift einfach deshalb zu rügen, weil sie, ohne unmittelbar von ihr betroffen zu sein, meinen, sie stehe im Widerspruch zur Konvention (siehe Burden ./. das Vereinigte Königreich, a. a. O., Rdnr. 33). Genau dies tun jedoch die Beschwerdeführer im vorliegenden Fall. Sie rügen Vorschriften für schulische Prüfungen, die – ihrer Meinung nach – die diskriminierende Behandlung von Schülern zulassen. Dadurch fordern sie den Gerichtshof auf, Vorschriften, die – ihrer Meinung nach – die Möglichkeit der diskriminierenden Behandlung bei schulischen Prüfungen nicht hinreichend ausschließen, in abstracto zu prüfen.

Da das Merkmal der „Verletzung“ nicht starr, mechanisch und unflexibel anzuwenden ist (vgl. Micallef ./. Malta [GK], Individualbeschwerde Nr. 17056/06, Rdnr. 45, ECHR 2009), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Konvention einer Einzelperson das Recht einräumt, zu behaupten, dass sie durch ein Gesetz als solches in ihren Rechten verletzt werde, auch wenn es an einer individuellen Vollzugsmaßnahme fehlt, sie aber Gefahr läuft, unmittelbar davon betroffen zu werden (siehe Norris ./. Irland, Individualbeschwerde Nr. 10581/83, Rdnr. 31, 26. Oktober 1988; Johnston u. a. ./. Irland, Individualbeschwerde Nr. 9697/82, Rdnr. 42, 18. Dezember 1986). Davon wurde beispielsweise ausgegangen, wenn der Beschwerdeführer gezwungen ist, sein Verhalten zu ändern oder andernfalls riskiert, strafrechtlich verfolgt zu werden (siehe Norris ./. Ireland, a. a. O., Rdnr. 31, bezüglich einer Gesetzeslage, die einvernehmliche homosexuelle Praktiken zwischen erwachsenen Männern kriminalisiert), oder wenn das Erbrecht eines Kindes am Nachlass seiner Mutter durch ein Gesetz eingeschränkt wird, dass automatisch für alle außerhalb der Ehe geborenen Kinder gilt (siehe Marckx ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 6833/74, Rdnr. 27, 13. Juni 1979), oder wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass die konkrete Gefahr besteht, dass er in nicht allzu ferner Zukunft erhebliche Erbschaftssteuern zahlen muss, die ihm nicht auferlegt würden, wenn er eine Ehe oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen würde (siehe Burden ./. das Vereinigte Königreich, a. a. O., Rdnr. 35).

Bei allen diesen Beispielen geht es um Einzelpersonen, die auch ohne eine individuelle Vollzugsmaßnahme betroffen sind. Die Durchführung einer schulischen Prüfung einschließlich der Bewertung der schülerischen Leistung ist jedoch eindeutig eine solche individuelle Vollzugsmaßnahme, gegen die vor den innerstaatlichen Gerichten Rechtsmittel eingelegt werden können. Die Gefahr, dass der Sohn der Beschwerdeführer bei seiner Abschlussprüfung – sollte er diese überhaupt ablegen – zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt diskriminiert wird, ist hypothetisch und in keiner Weise mit den Fällen vergleichbar, in denen der Gerichtshof bisher eine Opfereigenschaft angenommen hat, obwohl die Rügen nur gegen eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts oder eine Unterlassung des Gesetzgebers gerichtet waren. Die Beschwerdeführer wenden sich nicht gegen eine Rechtsposition – wie die von außerehelich geborenen Kindern in der o. a. Rechtssache Marckx –, sondern verlangen rechtlichen Schutz vor der hypothetischen Möglichkeit einer künftigen diskriminierenden Behandlung.

Überdies wird festgestellt, dass die Beschwerdeführer im eigenen Namen handeln und nicht, zumindest nicht ausdrücklich, im Namen ihres Sohnes. Auch wenn die Opfereigenschaft grundsätzlich durch Elternschaft verliehen werden kann oder davon ausgegangen werden kann, dass die Beschwerdeführer (auch) im Namen ihres Sohnes handeln wollten, ändert dies nichts an der vorstehenden Schlussfolgerung. Der Gerichtshof hebt hervor, dass der Sohn zu dem Zeitpunkt, an dem er die Abiturprüfungen ablegen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit volljährig und in der Lage sein wird, sich der ihm nach dem innerstaatlichen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsmittel – einschließlich einstweiliger Anordnungen – zu bedienen, falls er sich diskriminiert fühlen sollte.

Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwerdeführer weder im eigenen Namen noch im Namen ihres Sohnes behaupten können, im Sinne des Artikels 34 der Konvention „Opfer“ einer möglichen zukünftigen diskriminierenden Behandlung zu sein.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                                     Ganna Yudkivska
Stellvertretender Sektionskanzler                               Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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