FÜRSTE gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 6068/09

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 6068/09
F. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 1. Oktober 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter:

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Helena Jäderblom,
sowie Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 22. Januar 2009 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

1. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer, Herr F., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn R, Rechtsanwalt in B., vertreten.

A. Die Umstände des Falls

1. Das innerstaatliche Verfahren vor Erhebung der Individualbeschwerde

2. Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

3. Der Beschwerdeführer ist Vater eines 1998 nichtehelich geborenen Sohns. Der Beschwerdeführer und die Kindesmutter hatten sich 1997 getrennt. Der Sohn lebte bei seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht hatte, in L.; der Beschwerdeführer hatte regelmäßigen Umgang mit dem Kind. Die Bemühungen des Beschwerdeführers, die Zustimmung der Mutter für ein gemeinsames Sorgerecht zu erwirken, waren erfolglos.

4. Im Jahr 2008 erhob der Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht Bad Oeynhausen Klage, um den Umzug des Kindes nach K. zu verhindern. Er beantragte bei dem Gericht die Entziehung des Sorgerechts der Mutter und dessen Übertragung auf ihn selbst. Er trug vor, dass das Kindeswohl durch die psychischen Probleme und die Alkoholsucht der Mutter gefährdet sei. Angeblich hatte sie das Kind auch vernachlässigt.

5. Das Amtsgericht Bad Oeynhausen hörte den Beschwerdeführer, die Kindesmutter, das Kind, das Jugendamt und den Verfahrenspfleger des Kindes an. Am 30. Juni 2008 wies das Amtsgericht die Klage des Beschwerdeführers ab. Es befand, dass das Kindeswohl nicht gefährdet sei und die Bedenken des Beschwerdeführers unbegründet seien. Es unterstrich, dass nach deutschem Recht keine rechtliche Grundlage bestehe, um dem Beschwerdeführer das alleinige Sorgerecht ohne Zustimmung der Kindesmutter einzuräumen.

6. Der Beschwerdeführer legte beim zuständigen Oberlandesgericht Beschwerde ein und erhob eine erste Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen den Beschluss des Amtsgerichts.

7. Am 20. November 2008 verwarf das Oberlandesgericht Hamm die Beschwerde als unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht beschwerdebefugt sei.

2. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und weitere Entwicklungen.

8. Am 31. Dezember 2008 erhob der Beschwerdeführer eine zweite Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen der nationalen Gerichte.

9. Am 21. Juli 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers und erklärte § 1626a Absatz 1 Nr. 1 und § 1672 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches für verfassungswidrig. Unter Hinweis auf die Rechtssache Z. gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22028/04, 3. Dezember 2009) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Familiengerichte den Beschwerdeführer in seinen Rechten als leiblicher Vater verletzt hätten. Es verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Bad Oeynhausen zurück, befand aber, dass dem Beschwerdeführer seine notwendigen Kosten und Auslagen zu erstatten seien.

10. Am 21. Oktober 2010 übertrug das Amtsgericht Bad Oeynhausen das Sorgerecht mit Zustimmung der Kindesmutter auf den Beschwerdeführer. Es entschied überdies, keine Gerichtskosten aufzuerlegen.

11. Am 16. Februar 2011 teilte der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers dem Gerichtshof mit, dass dieser seine Beschwerde zurückzunehmen wolle, da die verfahrensgegenständliche Frage geklärt worden sei. Er verlangt nach Artikel 43 Abs. 4 der Verfahrensordnung die Erstattung der ihm in dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen in Höhe von 4.472,95 Euro.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

12. Eine Darstellung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts sowie der einschlägigen innerstaatlichen Praxis vor dem Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2010 in dieser Sache findet sich in dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Rdnrn. 13 ff., 3. Dezember 2009.

RÜGEN

13. Der Beschwerdeführer rügte zunächst nach Artikel 8für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, dass die Entscheidungen des Amtsgerichts Bad Oeynhausen und des Oberlandesgerichts Hamm ihn in seinem Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt hätten. Unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2010 will er nunmehr die Beschwerde zurücknehmen.

14. Daneben verlangt der Beschwerdeführer nach Artikel 41 der Konvention die Erstattung von Kosten und Auslagen in Höhe von insgesamt 4.472,95 Euro, die in den Verfahren vor dem Amtsgericht Bad Oeynhausen, dem Oberlandesgericht Hamm und dem Gerichtshof entstanden sind. Unter Bezugnahme auf die Rechtssachen Z., a. a. O., und S. ./. Deutschland (Streichung), Indivdualbeschwerde Nr. 38102/04, 7. Dezember 2010, bringt er vor, dass seine Individualbeschwerde im Zeitpunkt der Erhebung zulässig gewesen sei, weil die Verfassungsbeschwerde in vergleichbaren Fällen kein wirksamer Rechtsbehelf gewesen sei und er nicht habe wissen können, dass er mit der von ihm eingelegten Verfassungsbeschwerde gleichwohl Erfolg haben würde.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I.BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 UND 14 DER KONVENTION

15. Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeführer seine Rügen zurücknehmen will, weil er anerkennt, dass die Streitigkeit nunmehr einer Lösung zugeführt worden ist. Die Umstände legen daher den Schluss nahe, dass der Beschwerdeführer nicht beabsichtigt, seine Beschwerde weiterzuverfolgen, und die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstaben a und b der Konvention). Darüber hinaus liegt im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen anerkannt sind, kein Grund vor, der eine weitere Prüfung der Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c in fine der Konvention).

16. Die Rechtssache sollte demzufolge im Register gestrichen werden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 43 ABS. 4 DER VERFAHRENSORDNUNG DES GERICHTSHOFS

17. Artikel 43 Absatz 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs lautet:

„Wird eine Beschwerde im Register gestrichen, so befindet der Gerichtshof über die Kostenfrage. …“

18. Der Beschwerdeführer verlangt die Erstattung von Kosten und Auslagen in Höhe von insgesamt 4.472,95 Euro, die bei dem Bemühen, den behaupteten Konventionsverletzungen in den Verfahren vor den Familiengerichten und vor dem Gerichtshof zuvorzukommen, entstanden sind.

19. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei der Entscheidung über eine Entschädigung nach Artikel 43 Abs. 4 derVerfahrensordnung die für eine Erstattung von Kosten geltenden allgemeinen Grundsätze im Wesentlichen dieselben sind wie die für die Erstattung nach Artikel 41 der Konvention(siehe Pisano ./. Italien (Streichung) [GK] Individualbeschwerde Nr. 36732/97, Rdnrn. 53-54, 24. Oktober 2002, Voorhuis ./. die Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 28692/06, 3. März 2009 und Youssef ./. die Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 11936/08, 27. September 2011). Somit müssen die Kosten bei einer Erstattung mit der festgestellten Verletzung zusammenhängen, tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sein.

20. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht die Erstattung der notwendigen Kosten und Auslagen des Beschwerdeführers ausdrücklich angeordnet hatte, ohne den Ersatz auf die Kosten des Verfahrens vor dem jeweiligen Gericht zu begrenzen. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass dieser Ersatz von Kosten nicht ausreiche. Daher sieht der Gerichtshof keine Veranlassung, diesbezüglich eine weitere Entschädigung zuzusprechen.

21. Was die Kosten des Beschwerdeführers für die Erhebung seiner Individualbeschwerde vor dem Gerichtshof betrifft, merkt der Gerichtshof an, dass zu dem Zeitpunkt, in dem der Beschwerdeführer den Gerichtshof mit seinem Fall befasste, die Rechtssache Z., die einen leiblichen Vater in einer Situation betraf, die der des Beschwerdeführers vergleichbar war, bereits für zulässig erklärt worden war (siehe Z. ./. Deutschland, (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22028/04, 1. April 2008). In dieser Entscheidung deutet nichts darauf hin, dass eineVerfassungsbeschwerde keinen im Sinne von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention zu erschöpfenden Rechtsbehelf darstellt. Insoweit hat der Beschwerdeführer seine Individualbeschwerde zum Gerichtshof parallel zu dem von ihm auch vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengten Verfahren erhoben; es lag auf der Hand, dass der Gerichtshof vor Behandlung der Individualbeschwerde des Beschwerdeführers den Ausgang des innerstaatlichen Verfahrens abwarten würde. Aufgrund dieser Umstände muss der Gerichtshof nicht zwangsläufig eine Kostenentscheidung nach Artikel 43 Abs. 4 der Verfahrensordnung treffen.

Aus diesen Gründen beschließt der Gerichtshof einstimmig,

die Beschwerde in seinem Register zu streichen.

Stephen Phillips                                                Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                                        Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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