AKTAS gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 56102/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 56102/12
A. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 8. Oktober 2013 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 28. August 2012 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

1. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer, Herr A., ist türkischer Staatsangehöriger und in K. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn K., Rechtsanwalt in F., vertreten.

2. Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

1. Die Auslieferungsbeschlüsse

3. Am 25. März 1999 erließ das Amtsgericht Antalya Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Nach diesem Haftbefehl sowie der Anklageschrift der Republikanischen Oberstaatsanwaltschaft in Antalya vom 5. April 1999 wurden der Beschwerdeführer und sein Bruder A. A. verdächtigt, wegen Ehebruchs zum Mord an S. Y. und G. A., der Ehefrau des A. A., angestiftet zu haben. Unter anderem wurde ihnen vorgeworfen, ihren Bruder Ö. A. beauftragt zu haben, das Paar zu suchen, und anschließend A. Y. und E. K. bezahlt zu haben, dieses zu töten. Am 18. März 1999 wurden die Schwägerin des Beschwerdeführers, G. A., und S. Y. ermordet.

4.Am 8. August 1999 wurde der Beschwerdeführer im Rahmen einer internationalen Fahndung von der deutschen Polizei festgenommen.

5.Am 18. August 1999 ordnete das Oberlandesgericht Zweibrücken die vorläufige Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an.

6.Am 17. September 1999 bestätigte das Oberlandesgericht diese Entscheidung nach Eingang des förmlichen Auslieferungsersuchens.

7.Am 17. November 1999 hob es seinen Beschluss vom 17. September 1999 auf und erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers für nicht zulässig. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass für die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Straftat die Todesstrafe verhängt werden könnte und die türkischen Behörden nicht den Verzicht auf die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe erklärt hätten. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer entlassen.

8.Am 7. Februar 2002 ordnete das Oberlandesgericht erneut Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Es stellte fest, dass die türkischen Behörden ein neues Auslieferungsersuchen gestellt und dabei erklärt hätten, gegen den Beschwerdeführer nicht die Todesstrafe zu verhängen. Der Haftbefehl konnte allerdings nicht vollstreckt werden.

2.Der erste Antrag auf Unzulässigerklärung der Auslieferung

9.Am 21. Mai 2002 beantragte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers die Aufhebung des Haftbefehls und die Unzulässigerklärung der Auslieferung. Er brachte vor, dem Beschwerdeführer drohe im Falle der Auslieferung Folter oder unmenschliche Behandlung. Bezugnehmend auf eine allgemeine Gefahr von Folter im Polizeigewahrsam brachte der Rechtsanwalt vor, dass die Behörden in dem laufenden Strafverfahren Folter angewandt hätten. Er berief sich auf Schreiben und eine Aussage des Mitbeschuldigten E. K. gegenüber der Strafkammer des Gerichts Antalya, in welchen dieser behauptete, von der Polizei gefoltert worden zu sein. Er legte eine Kopie des Schreibens des E. K. sowie Auszüge des Anhörungsprotokolls vor. Darüber hinaus nahm der Rechtsanwalt auf die Aussage des mitbeschuldigten Bruders des Beschwerdeführers, Ö. A., Bezug, der behauptete, dass die Polizei Zwang ausgeübt habe.

10.Am 11. Juni 2002 wies das Oberlandesgericht Zweibrücken den Antrag mangels konkreter Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung einer Foltergefahr ausgesetzt sei, zurück. Weder allgemeine Informationsquellen, noch die vorgelegten Aussagen der Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers enthielten hinreichend konkrete Informationen.

3.Der zweite Antrag auf Unzulässigerklärung der Auslieferung

11.Am 31. März 2011 beantragte der neue Rechtsanwalt des Beschwerdeführers erneut die Aufhebung des Haftbefehls und die Unzulässigerklärung der Auslieferung des Beschwerdeführers in die Türkei. Der Rechtsanwalt behauptete, dass der Beschwerdeführer einer rechtsstaatswidrigen Behandlung unterworfen werden würde. Er brachte auch vor, dem Beschwerdeführer drohe eine grausame und erniedrigende Strafe. So drohe dem Beschwerdeführer eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe. Darüber hinaus brachte er vor, dass der türkische Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer auf rechtswidrig erlangten Beweismitteln basiere.

12.Der Rechtsanwalt informierte das Oberlandesgericht über den Fortgang des Strafverfahrens in der Türkei. Er gab an, das Schwurgericht Antalya habe A. Y. und E. K. wegen Mordes zum Tode verurteilt. Der Bruder des Beschwerdeführers, Ö. A., sei wegen Beteiligung an dem Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, der Bruder des Beschwerdeführers und Ehemann des Opfers, A. A., sei freigesprochen worden. Am 24. April 2002 habe der Kassationsgerichtshof das Urteil wegen unzureichender Begründung aufgehoben, insbesondere im Hinblick auf die unzureichende Bewertung des Inhalts und der Ursache der Geständnisse der Beschuldigten.

13.Darüber hinaus legte der Rechtsanwalt mehrere Aussagen von Zeugen und den Mitbeschuldigten vor, die alle von Folter durch die Polizei im Rahmen der Ermittlungen berichteten. So legte er unter anderem eine schriftliche Aussage des A. Y. vor, in welcher dieser seine Aussage vor der Polizei widerrief und behauptete, die Polizei habe Druck auf ihn ausgeübt und Folter angewandt, um Beweise zu erlangen. Des Weiteren legte er eine Aussage des Bruders des Beschwerdeführers, A. A., vor, dem zufolge die Polizei in Sorgun und Antalya ihn gefoltert habe, um ein Geständnis zu erlangen. Er legte ferner eine Aussage des Mitbeschuldigten Z. Y. vor, der behauptet hatte, dass die Polizei in Sorgun und Antalya ihn schwer gefoltert habe, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Der Rechtsanwalt legte auch eine Zeugenaussage von C. vor, der beschrieb, dass die Polizei ihn gefoltert habe, um Beweismittel gegen Mitglieder der Familie A. zu erlangen.

14.Nach Rücksprache mit dem Oberlandesgericht Zweibrücken entschied die Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken, die türkischen Behörden zu kontaktieren, um Informationen zum Haftbefehl, dem Strafverfahren und der erwarteten Strafe und deren Vollstreckung einzuholen. Die Liste umfasste unter anderem die Frage, ob im Laufe des Strafverfahrens Foltervorwürfe erhoben worden seien.

15.Am 4. Juli 2011 teilte das Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz der Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken mit, dass das Bundesamt für Justiz die Auffassung geäußert habe, dass der Beschwerdeführer keine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe erhalten würde. Es forderte die Staatsanwaltschaft Zweibrücken daher auf, die an die türkischen Behörden zu übermittelnde Liste zu überprüfen. Die Generalstaatsanwaltschaft informierte das Oberlandesgericht entsprechend.

16.Am 12. Juli 2011 teilte das Oberlandesgericht der Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken mit, dass deren Fragen bezüglich der Begnadigungspraxis nicht aufrechterhalten würden. Gleichzeitig betonte es, dass die übrigen Fragen auf der Liste noch nicht beantwortet worden seien.

17.Am 14. Juli 2011 sandte die Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken dem Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz eine gekürzte Frageliste zur Weiterleitung an die türkischen Behörden. Die Liste enthielt weiterhin die Frage, ob im Laufe des Strafverfahrens Foltervorwürfe erhoben worden seien.

18.Am 22. August 2011 sandte das Bundesamt für Justiz die Liste an das Auswärtige Amt. Es berichtete über den Fall und befand, dass es nicht notwendig sei, Informationen über die angebliche Anwendung von Folter oder die erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe einzuholen. Unter Bezugnahme auf einen Bericht des Auswärtigen Amtes legte es dar, dass sich die Situation in der Türkei, was Folter und Misshandlungen angehe, in den letzten Jahren deutlich verbessert habe. In nicht-politischen Fällen wie dem vorliegenden seien keine diesbezüglichen Bedenken aufgetreten. Das Bundesamt für Justiz befand, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers keine Details oder konkreten Beweismittel in dieser Hinsicht enthalte. Darüber hinaus erscheine eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe unwahrscheinlich, da die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Straftat keinen Staatsschutzbezug habe. Eine bedingte Entlassung wäre daher nach Verbüßung von 30 Jahren der Strafe möglich. Das Bundesamt für Justiz schlug daher vor, nur Fragen nach dem Fortgang des Verfahrens in der Türkei zu übersenden, ohne auf etwaige Foltervorwürfe Bezug zu nehmen.

19.Mit Verbalnote vom 8. Dezember 2011 erklärte die türkische Botschaft, dass der Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer noch gültig sei und das Auslieferungsersuchen aufrechterhalten werde.

20.Am 16. Januar 2012 bestätigte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers den Erhalt einer Abschrift der Verbalnote und forderte die Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken auf, ihn über Anträge an das Oberlandesgericht zu informieren, damit er zu diesen Stellung nehmen könne.

21.Am 19. Januar 2012 wies das Oberlandesgericht Zweibrücken den Antrag des Beschwerdeführers auf Unzulässigerklärung der Auslieferung zurück. Unter Bezugnahme auf den Freispruch des A. A. stellte es fest, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei kein rechtsstaatswidriges Gerichtsverfahren drohe. Als Ehemann des Opfers habe A. A. ein starkes Motiv für die Straftat gehabt. Trotz belastender Aussagen sei er aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Das Oberlandesgericht befand ferner, dass auch die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Kassationsgericht für die Annahme eines fairen Verfahrens spreche. Darüber hinaus wies das Oberlandesgericht jegliche Foltervorwürfe zurück. Es stellte keine konkreten Beweise dafür fest, dass am Strafverfahren beteiligte Personen gefoltert worden seien. Die vorgelegten schriftlichen Aussagen enthielten lediglich pauschale Behauptungen von Folter und Zwang, ohne nähere Beschreibung des Geschehens und ohne nachprüfbare Informationen. Schließlich stellte das Oberlandesgericht fest, dass der Beschwerdeführer nicht zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden würde, da diese nur noch bei Delikten mit Staatsschutzbezug verhängt werde.

22.Der Beschwerdeführer erhob Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Am 26. März 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 431/12).

RÜGEN

23.Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 3 der Konvention die geplante Auslieferung in die Türkei trotz konkreter Hinweise darauf, dass er dort Folter ausgesetzt werden würde. Darüber hinaus machte er geltend, dass die Vollstreckung der erwarteten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe einer erniedrigen Behandlung gleichkommen würde.

24.Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 der Konvention, dass das Auslieferungsverfahren in Deutschland unfair gewesen sei, und insbesondere, dass das Oberlandesgericht ihn vor Zurückweisung seines Antrags nicht angehört habe.

25.Der Beschwerdeführer rügte ferner nach Artikel 6 der Konvention, dass das Strafverfahren in der Türkei unfair gewesen sei und einer Rechtsverweigerung gleichkäme, da seine Anklage auf Zeugenaussagen gegründet gewesen sei, die durch polizeiliche Folter erlangt worden seien. Er machte geltend, dass eine tatsächliche Gefahr bestehe, dass die entsprechenden Beweismittel im Strafverfahren gegen ihn zugelassen werden würden.

26.Schließlich rügte der Beschwerdeführer nach Artikel 13 der Konvention, dass das Oberlandesgericht die Gefahr, dass er nach seiner Auslieferung der Folter unterworfen werde, nicht ordnungsgemäß geprüft habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A.Rüge nach Artikel 3 der Konvention

27.Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 3 der Konvention, dass er nach seiner Auslieferung von den türkischen Behörden zur Erlangung eines Geständnisses gefoltert werden würde. Darüber hinaus rügte er, dass er im Falle einer Verurteilung eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe würde verbüßen müssen, welche einer erniedrigen Behandlung gleichkäme.

Artikel 3 lautet wie folgt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

28.Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Auslieferung durch einen Vertragsstaat eine Frage nach Artikel 3 und daher eine Verantwortlichkeit dieses Staates nach der Konvention begründen, wenn gewichtige Gründe für die Annahme dargelegt wurden, dass die fragliche Person, wenn sie ausgeliefert werden würde, tatsächlich Gefahr liefe, im Aufnahmeland einer nach Artikel 3 verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Feststellung einer solchen Verantwortlichkeit beinhaltet notwendigerweise eine Beurteilung der Bedingungen im ersuchenden Land im Hinblick auf die nach Artikel 3 der Konvention anzulegenden Maßstäbe (siehe Soering ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Serie A Band 161, S. 35-36, Rdnrn. 89-91; Mamatkulov und Askarov ./. Türkei [GK], Individualbeschwerden Nrn. 46827/99 und 46951/99, Rdnr. 67, ECHR 2005 I).

29.Um zu entscheiden, ob gewichtige Gründe für die Annahme dargelegt worden sind, dass tatsächlich die Gefahr einer Artikel 3 zuwiderlaufenden Behandlung besteht, wird der Gerichtshof die Angelegenheit im Lichte des gesamten ihm vorgelegten oder erforderlichenfalls von Amts wegen erlangten Materials prüfen (siehe u. a. Hilal ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45276/99, Rdnr. 60, ECHR 2001-II).

30.Im Hinblick auf die angebliche Gefahr der Folter nimmt der Gerichtshof die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts zur Kenntnis, wonach es den Zeugenaussagen und den vom Rechtsanwalt vorgebrachten allgemeinen Behauptungen des Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers an konkreten und nachprüfbaren Tatsachen fehlt. Unter Berücksichtigung dieser Aussagen sowie des gesamten ihm vorgelegten Materials sieht der Gerichtshof keinen Grund, zu einer anderen Schlussfolgerung zu kommen. Zwar wird in allen Aussagen in allgemeinem Wortlaut die Anwendung von Folter oder Misshandlungen durch die Polizei im Rahmen des Strafverfahrens im Jahr 1999 geltend gemacht, allerdings werden keine konkreten Details genannt. Weder enthalten die Aussagen Details bezüglich der Art des beanstandeten Verhaltens, der beteiligten Polizeibeamten oder ihrer Anzahl, noch bezüglich der genauen Zeiten und Orte. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass seit der angeblich stattgefundenen Folter und Misshandlung über 13 Jahre vergangen sind.

31.Was die Angst des Beschwerdeführers vor einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe angeht, nimmt der Gerichtshof die Feststellung des Oberlandesgerichts, dem Beschwerdeführer drohe diese Strafe nicht, da die Vorwürfe gegen ihn keine Straftat mit Staatsschutzbezug beträfen, zur Kenntnis. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer seine Rüge auf die Behauptung beschränkte, dass eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe per se einer erniedrigenden Behandlung gleichkäme, ohne dies weiter zu begründen. Insbesondere nahm der Beschwerdeführer nicht zu der Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts Stellung, dass ihm keine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe drohe.

32.Angesichts dieser Überlegungen stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt hat, dass er im Falle einer Auslieferung in die Türkei tatsächlich Gefahr laufe, einer Artikel 3 zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. auch K. gegen Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43212/05, 15. Dezember 2009).

33.Folglich ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

B.  Rüge nach Artikel 6 der Konvention

34.Unter Berufung auf Artikel 6 machte der Beschwerdeführer geltend, dass ihm nach seiner Auslieferung ein unfaires Strafverfahren in der Türkei drohe. Er behauptet insbesondere, dass durch Folter erlangte Beweismittel in dem Strafverfahren gegen ihn zugelassen werden würden.

35.Darüber hinaus rügte er, dass das Oberlandesgericht ihn in dem Auslieferungsverfahren in Deutschland vor Zurückweisung seines Antrags auf Aufhebung des Haftbefehls nicht angehört habe.

Artikel 6, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:

„1.Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. “

36.Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es bei Entscheidungen über die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern nicht um eine Verhandlung über Streitigkeiten in Bezug auf die zivilrechtlichen Ansprüche oder Verpflichtungen eines Beschwerdeführers oder über eine gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention geht (siehe Maaouia ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 39652/98, Rdnr. 40, ECHR 2000-X; Mamatkulov und Askarov ./. Türkei [GK], Individualbeschwerden Nrn. 46827/99 und 46951/99, Rdnr. 82, ECHR 2005 I). Deshalb ist Artikel 6 Abs. 1 auf das Auslieferungsverfahren in Deutschland nicht anwendbar.

37.Allerdings kann sich nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs aus einer Ausweisungs- oder Auslieferungsentscheidung ausnahmsweise eine Frage nach Artikel 6 der Konvention ergeben, wenn der Flüchtige im ersuchenden Staat eine flagrante Rechtsverweigerung zu befürchten hat. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Zulassung von durch Folter erlangten Beweismitteln einer flagranten Rechtsverweigerung gleichkommen kann (siehe Othman (Abu Qatada) ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8139/09, Rdnrn. 258 und 267, ECHR 2012 (Auszüge)).

38.Was eine mögliche Zulassung von durch Folter erlangten Beweismitteln angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das türkische Kassationsgericht das Urteil des Schwurgerichts Antalya aufgehoben hat. Es hat insbesondere festgestellt, dass das erstinstanzliche Urteil nicht ordnungsgemäß begründet sei, vor allem im Hinblick auf die Bewertung der Geständnisse der Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers. Zweitens hat der Beschwerdeführer, wie oben dargelegt, nicht substantiiert, dass in dem Strafverfahren in der Türkei Folter angewandt worden ist. Unter diesen Umständen stimmt der Gerichtshof den Feststellungen des Oberlandesgerichts, nach denen es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei eine flagranten Rechtsverweigerung droht, zu.

39.Es ist daher nicht ersichtlich, dass Artikel 6 verletzt worden ist.

40.Folglich ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

C)Rüge nach Artikel 13 der Konvention

41.Unter Berufung auf Artikel 13 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das Oberlandesgericht die Gefahr, dass er nach seiner Auslieferung der Folter unterworfen werde, nicht ordnungsgemäß geprüft habe. Der Beschwerdeführer brachte vor, das Oberlandesgericht habe dadurch, dass es entgegen seiner ursprünglichen Absicht nicht mehr Informationen von den türkischen Behörden angefordert habe, auch seine Verpflichtung zur Prüfung einer möglichen Foltergefahr verletzt.

Artikel 13 sieht Folgendes vor:

„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

42.Der Gerichtshof bekräftigt, dass nach Artikel 13 auf nationaler Ebene ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, um die Substanz der Konventionsrechte und -freiheiten, gleichviel, in welcher Form sie in der innerstaatlichen Rechtsordnung sichergestellt sein mögen, durchzusetzen. Der Artikel verlangt deshalb, dass ein innerstaatlicher Rechtsbehelf vorgesehen wird, der es den zuständigen innerstaatlichen Behörden erlaubt, über eine „vertretbare“ Rüge einer Konventionsverletzung der Sache nach zu entscheiden und geeigneten Rechtsschutz zu gewähren (siehe u. a. Aksoy ./. Türkei, Urteil vom 18. Dezember 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-VI, S. 2286, Rdnr. 95). Angesichts der Unumkehrbarkeit der Schädigung, die eintreten könnte, wenn sich dieGefahr der Folter oder Misshandlung verwirklicht, bekräftigt der Gerichtshof in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die er einem wirksamen Rechtsbehelf beimisst, der dazu führt, dass die Behauptung, es gebe gewichtige Gründe für die Annahme, dass eine tatsächliche Gefahr einer gegen Artikel 3 verstoßenden Behandlung vorliegt, geprüft wird.

43.Der Gerichtshof bezweifelt, dass sich der Beschwerdeführer auf eine vertretbare Rüge im Sinne von Artikel 13 berufen kann, da der Gerichtshof seine Rügen der Verletzung materieller Konventionsrechte für offensichtlich unbegründet erklärt hat (siehe Rdnrn. 34, 40). Angesichts der Tatsache, dass die Artikel 13 und 35 Abs. 1 beide die Verfügbarkeit von Rechtsbehelfen für die Durchsetzung der gleichen Konventionsrechte und -freiheiten betreffen, erschiene es recht inkohärent, unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen und Rügen nach materiellen Bestimmungen der Konvention nach Artikel 35 Abs. 1 für „offensichtlich unbegründet“ und gleichzeitig nach Artikel 13 für „vertretbar“ zu erklären (siehe Boyle und Rice ./. Vereinigtes Königreich, 27. April 1988, Rdnr. 54, Serie A Band 131; Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, 21. Februar 1990, Rdnr. 33, Serie A Band 72).

44.Das Oberlandesgericht hat jedoch auf Antrag des Beschwerdeführers hin seine Entscheidung aus dem Jahr 2002, mit der die Auslieferung für unzulässig erklärt wurde, überprüft. Weder die Begründung der Entscheidung noch andere Unterlagen enthalten Anhaltspunkte dafür, dass das Oberlandesgericht die vom Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe einer Verletzung von Artikel 3 oder 6 in der Sache nicht gründlich geprüft hätte. Es stimmt zwar, dass das Oberlandesgericht zunächst darum gebeten hatte, die türkischen Behörden um weitere Informationen bezüglich möglicher Foltervorwürfe zu ersuchen; allerdings ist es Sache der innerstaatlichen Gerichte, über den Umfang der Beweiserhebung zu entscheiden. Der Gerichtshof merkt in diesem Zusammenhang an, dass das Bundesamt für Justiz zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens unter Bezugnahme u. a. auf einen Länderbericht des Auswärtigen Amtes befunden hatte, dass es unwahrscheinlich sei, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Rückgabe Folter drohe.

45.Darüber hinaus könnte der Beschwerdeführer die Entscheidung des Oberlandesgerichts vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten und sich dabei auf sein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Freiheit von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der Auslieferungsentscheidung berufen.

46.In Anbetracht dieser Umstände stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer von den innerstaatlichen Rechtsbehelfen profitiert hat, durch welche die Begründetheit der Rügen des Beschwerdeführers, einschließlich der Rügen, mit denen mögliche Fragen nach der Konvention aufgeworfen wurden, geprüft wurde.

47.Es ist daher nicht ersichtlich, dass Artikel 13 verletzt worden ist.

48.Folglich ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig.

Claudia Westerdiek                           Mark Villiger
Kanzlerin                                            Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert