HÜLSMANN gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 26610/09

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 26610/09
H. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 5. November 2013 als Ausschuss mit den Richterinnen und Richtern

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Helena Jäderblom,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 30. April 2009 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

Der 19 […] geborene Beschwerdeführer, Herr H., ist deutscher Staatsangehöriger und in X. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten.

A. Die Umstände des Falls

Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

1. Hintergrund der Rechtssache

Frau S. B. lebte seit 1997 mit Herrn B., ihrem späteren Ehemann, zusammen. Im März 1999 ging sie eine Beziehung mit dem Beschwerdeführer ein. Im August 1999 wurde sie schwanger. Laut dem Beschwerdeführer bestätigte sie ihm sowie seinen und ihren Verwandten, dass er der Vater des Kindes sei.

Am 17. März 2000 erkannte B. vor dem Standesbeamten in S. mit Zustimmung von S. B. die Vaterschaft für das ungeborene Kind (M.) an.

Am 8. Mai 2000 wurde M. geboren. Bis August 2000 besuchte der Beschwerdeführer S. B. und das Kind mehrmals im Krankenhaus und in ihrer Wohnung.

Am 22. August 2000 lehnte es das Jugendamt ab, das Vaterschaftsanerkenntnis des Beschwerdeführers zu beurkunden, da B. die Vaterschaft für M. bereits anerkannt hatte.

Am 25. September 2000 heirateten S. B. und B.

Am 20. Juni 2001 wies das Amtsgericht Rheinberg den vom 24. August 2000 datierenden Antrag des Beschwerdeführers, zur späteren Durchführung eines Verfahren zur Anfechtung von B.s Vaterschaft einen Verfahrenspfleger für das Kind M. zu bestellen, aus Gründen des Kindeswohls zurück.

Der Beschwerdeführer sah M. zwischen September 2002 und Januar 2003 weitere neun Mal. Darüber hinausgehende Kontakte vor und nach diesem Zeitraum wurden dem Vortrag des Beschwerdeführers zufolge von S. B. und/oder B. verhindert.

Am 29. April 2003 gab der Beschwerdeführer eine notariell beurkundete Erklärung ab, dass er anerkennt, Vater des Kindes M. zu sein.

2. Das in Rede stehende Verfahren

Am 20. März 2002 reichte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht Rheinberg Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft ein. Die rechtlichen Eltern des Kindes, S. B. und B., bestritten, dass der Beschwerdeführer der biologische Vater von M. sei.

Am 10. Dezember 2002 wies das Amtsgericht Rheinberg die Klage des Beschwerdeführers ab.

Am 24. Juni 2003 wies das Oberlandesgericht Düsseldorf unter Bestätigung der vom Amtsgericht angeführten Gründe die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es stellte fest, dass § 1600d Abs. 1 BGB zufolge (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis“) der Beschwerdeführer kein Recht auf Feststellung der Vaterschaft habe, weil nach § 1592 Nr. 2 BGB (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis“) aufgrund seines in Übereinstimmung mit S. B. abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnisses B. der Vater von M. sei. Auch eine Klage zur Anfechtung von B.s Vaterschaft durch den Beschwerdeführer nach § 1600 BGB (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis“) sei unzulässig, da entsprechend den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs festgelegten Anforderungen eine sozial-familiäre Beziehung zwischen B. und M. bestehe.

Gegen diese Entscheidungen erhob der Beschwerdeführer am 25. Juli 2003 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er trug insbesondere vor, dass die angegriffenen Entscheidungen seine Rechte aus den Artikeln 8 und 14 der Konvention verletzten.

Am 3. Dezember 2006 verstarb B.

Am 19. September 2007 erkundigte sich der Beschwerdeführer, wie bereits zweimal zuvor, nach dem Fortgang des Verfahrens.

Am 13. Oktober 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1548/03). Es stellte insbesondere fest, dass durch § 1600 BGB, der die Anfechtung der Vaterschaft eines rechtlichen Vaters durch einen mutmaßlichen biologischen Vater ausschließe, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem betreffenden Kind eine sozial-familiäre Beziehung bestehe, das durch das Grundgesetz garantierte Elternrecht des mutmaßlichen leiblichen Vaters nicht verletzt werde. Überdies habe das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers kein Recht auf Feststellung der biologischen Abstammung (ohne elterliche Verantwortung) neben der bestehenden rechtlichen Vaterschaft von B. zur Folge.

Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 31. Oktober 2008 zugestellt.

3. Frühere Verfahren vor dem Gerichtshof

Am 18. August 2003 legte der Beschwerdeführer beim Gerichtshof eine Individualbeschwerde (Nr. 26556/03) im Hinblick auf das hier in Rede stehende Verfahren ein; zu diesem Zeitpunkt war das Verfahren noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Am 22. Januar 2008 erklärte ein aus drei Richtern des Gerichtshofs bestehender Ausschuss die Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs für unzulässig.

Der Beschwerdeführer reichte eine weitere Individualbeschwerde (Nr. 33375/03) beim Gerichtshof ein, welche die Weigerung der deutschen Gerichte betraf, ihm Umgang mit M. zu gewähren. Am 18. März 2008 erklärte eine Kammer des Gerichtshofs die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis

1. Bestimmungen zur Feststellung und Anfechtung der Vaterschaft

Eine zusammenfassende Darstellung des einschlägigen innerstaatlichen und vergleichenden Rechts ist insbesondere dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 23338/09, Rdnrn. 32-39, 22. März 2012) zu entnehmen.

Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommenen Bestimmungen lauten wie folgt: Nach § 1592 BGB ist Vater eines Kindes entweder der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1), oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat (Nr. 2), oder dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3). § 1600d Abs. 1 BGB sieht vor, dass die Vaterschaft gerichtlich festzustellen ist, wenn keine Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 und 2 BGB besteht. Nach Artikel 1600 Abs. 1 BGB in der zur Zeit der zivilgerichtlichen Entscheidungen geltenden Fassung sind nur ein Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 und 2 BGB besteht, die Mutter und das Kind berechtigt, die Vaterschaft anzufechten.

2. Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren trat am 3. Dezember 2011 in Kraft. Es war angesichts des Piloturteils des Gerichtshofs in der Rechtssache R. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 46344/06, 2. September 2010) verabschiedet worden. In dieser Rechtssache hatte der Gerichtshof aufgrund der Dauer des in Frage stehenden Zivilverfahrens auf eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention erkannt. Ferner hatte er eine Verletzung von Artikel 13 der Konvention festgestellt, weil kein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel für die Rüge des Beschwerdeführers hinsichtlich der unangemessenen Dauer des Verfahrens zur Verfügung gestanden hatte. Außerdem hatte er dem beschwerdegegnerischen Staat auferlegt, einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbehelfe einzuführen, mit denen eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für überlange Verfahren gewährleistet werden kann, und zwar im Einklang mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Grundsätzen der Konvention.

Die Bestimmungen des genannten Gesetzes sind insbesondere in den Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen T. ./. Deutschland ([Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 15 und 18-29, 29. Mai 2012) und G../. Deutschland ([Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 19488/09, Rdnrn. 19 und 26-38, 29. Mai 2012) zusammengefasst. Der dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) neu hinzugefügte § 198 Abs. 1 sieht insbesondere einen Entschädigungsanspruch für Verfahrensbeteiligte vor, die infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleiden. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

Nach dem neuen § 198 Abs. 2 GVG kann für immaterielle Schäden eine Entschädigung in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung beansprucht werden, wenn Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Ist der errechnete Betrag nach den Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.

Seit Inkrafttreten der §§ 198 ff GVG haben innerstaatliche Gerichte wiederholt bestätigt, dass diese Bestimmungen auf Familiensachen vor den Zivilgerichten Anwendung finden, da der Gesetzgeber beabsichtigt habe, das Rechtsschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer abschließend zu lösen (siehe – unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung – bspw. Thüringer OLG, 1 WF 634/11, Beschluss vom 29. Dezember 2011, Rdnrn. 10-11; Brandenburgisches OLG, 13 WF 235/11[1], Beschluss vom 6. Januar 2012, Rdnr. 4; OLG Düsseldorf, II-8 WF 21/12, 8 WF 21/12, Beschluss vom 15. Februar 2012, Rdnr. 4; OLG Bremen, 4 WF137/12, Beschluss vom 12. November 2012, Rdnrn. 10-15).

Bei der Anwendung der §§ 198 ff GVG auf Familiensachen wurde mitunter die Auffassung vertreten, dass überlange Sorgerechtsverfahren zwar eine Entfremdung zwischen Elternteil und Kind herbeiführen oder vertiefen könnten, dies aber kein Abweichen von dem nach § 198 Abs. 2 GVG pauschal vorgesehenen Entschädigungsbetrag rechtfertige (siehe OLG Karlsruhe, 23 SchH4/12 EntV, Urteil vom 11. Januar 2013, Rdnrn. 114-116). Es wurde im Gegensatz dazu aber auch festgestellt, dass in einer Rechtssache, deren Gegenstand die unangemessene Dauer eines Verfahrens bezüglich des Umgangs eines Vaters mit seinem Sohn war, ein höherer als der in § 198 Abs. 2 GVG festgesetzte Entschädigungsbetrag zuerkannt werden müsse. Je mehr sich die Verfahrensdauer auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt habe, desto deutlicher sei der Entschädigungsbetrag anzuheben. Überdies seien Kindschaftssachen regelmäßig besonders belastend für die Verfahrensbeteiligten (siehe OLG Braunschweig, 4 SchH 1/12, Urteil vom 8. Februar 2013, Rdnrn. 188 und 193-195).

RÜGEN

Der Beschwerdeführer rügte insbesondere nach den Artikeln 8, 6, 13 und 14 der Konvention, dass die innerstaatlichen Gerichte ihm versagt hätten, B.s rechtliche Vaterschaft anzufechten und seine eigene Vaterschaft feststellen zu lassen, wodurch sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt und er diskriminiert worden sei. Er machte ferner geltend, dass das Verfahren unangemessen lang gewesen sei und ihm diesbezüglich kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 8 und 6 der Konvention, dass er dadurch, dass die innerstaatlichen Gerichte ihm selbst nach B.s Tod die Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft von B. und die Feststellung seiner eigenen Vaterschaft versagt hätten, sowie durch die unangemessene Verfahrensdauer in seinem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt worden sei.

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass dieser Teil der Rüge in erster Linie nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen ist, der wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

In Anbetracht seiner Rechtsprechung (siehe insbesondere K., a. a. O., Rdnr. 63; und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 45071/09, Rdnr. 60, 22. März 2012) vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung seiner Vaterschaft für M. zurückzuweisen, einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens darstellte.

Zur Beurteilung der Frage, ob dieser Eingriff, der im Einklang mit §§ 1600d Abs. 1, 1592 Nr. 2 und 1600 BGB und zum Schutz der Rechte von B., S. B. und M. erfolgte, im Sinne des Artikels 8 Abs. 2 in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, weist der Gerichtshof erneut auf Folgendes hin:

1. Inhaltliche Erfordernisse

Artikel 8 kann dahingehend ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zu prüfen, ob es dem Kindeswohl dient, dem biologischen Vater den Aufbau einer Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, insbesondere durch die Gewährung eines Umgangsrechts (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20578/07, Rdnrn. 67-73, 21. Dezember 2010; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17080/07, Rdnrn. 95-105, 15. September 2011; und K. a. a. O., Rdnr. 76). Dies bedeutet gegebenenfalls die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft in einem Umgangsverfahren, wenn unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgegangen wird, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen leiblichen Vater – angenommen, dass er tatsächlich der biologische Vater des Kindes ist – und dem Kind dem Kindeswohl dienen würde (siehe S., a. a. O., Rdnr. 103; und K., a. a. O., Rdnr. 76).

Allerdings hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass sich daraus keine konventionsrechtliche Pflicht ergibt, dem mutmaßlichen leiblichen Vater zu gestatten, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine separate Klage im Hinblick auf die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft zuzulassen (siehe K., a. a. O., Rdnr. 77; und A., a. a. O., Rdnr. 74). Mit Blick insbesondere auf den fehlenden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten und auf den größeren Ermessensspielraum, der den Staaten in Angelegenheiten einzuräumen ist, die die rechtliche Stellung betreffen, war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidung, ob dem feststehenden oder mutmaßlichen biologischen Vater die Vaterschaftsanfechtung zu gestatten sei, unter den Umständen der Rechtssachen A. und K. in den staatlichen Ermessensspielraum fiel (siehe A. und K., beide a. a. O., Rdnr. 75 bzw. 78; und K. ./. Deutschland [Ausschuss] (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 11858/10, 11. Dezember 2012).

Der Gerichtshof kann keine Merkmale erkennen, die nahelegen würden, dass sich der vorliegende Fall anders darstellt als die letztgenannten Rechtssachen. Der Umstand, dass B., der rechtliche Vater des Kindes, im Dezember 2006 verstarb, führt im Ergebnis nicht zu einer anderen Bewertung. Es kann dahinstehen, ob die Entscheidung, einem leiblichen Vater die Anfechtung der Vaterschaft auch nach dem Tod des rechtlichen Vaters zu versagen, unter jedweden Umständen in den staatlichen Ermessensspielraums fallen würde. In jedem Fall ist festzuhalten, dass B. verstarb, als das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig war, also nach Beendigung des Verfahrens vor den Zivilgerichten, denen allein die Feststellung der hier in Frage stehenden Tatsachen oblag. Mithin gelten die oben dargestellten, in den Rechtssachen A. und K. (a. a. O., ebenda) aufgestellten Grundsätze auch im vorliegenden Fall.

2. Verfahrenserfordernisse

Im Hinblick auf die Einhaltung der sich aus Artikel 8 ergebenden Verfahrenserfordernisse während des Entscheidungsprozesses erinnert der Gerichtshof daran, dass in Rechtssachen, die das Verhältnis einer Person zu ihrem Kind betreffen, die Pflicht zu außergewöhnlich zügigem Vorgehen gilt, weil die Gefahr besteht, dass der fortschreitende Zeitablauf zu einer faktischen Entscheidung der Sache führt (siehe u. a. H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnr. 54, 5. Dezember 2002; und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 100, 10. November 2005). Darüber hinaus ist ein besonders zügiges Vorgehen in Fällen geboten, in denen es um den Personenstand eines kleinen Kindes geht (siehe Mikulić ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 53176/99, Rdnr. 44, ECHR 2002‑I; und K., a. a. O., Rdnr. 81).

Der Gerichtshof stellt fest, dass der zur Bestimmung der Dauer des Verfahrens heranzuziehende Zeitraum am 20. März 2002 begann, als der Beschwerdeführer seine Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft einreichte. Er endete am 31. Oktober 2008 mit der Zustellung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts an den Rechtsanwalt des Beschwerdeführers. Somit betrug er mehr als sechs Jahre und sieben Monate und erstreckte sich über drei Instanzen. Das Verfahren war insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht mehr als fünf Jahre und drei Monate anhängig.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der dem GVG neu hinzugefügte § 198 Abs. 1 seit dem 3. Dezember 2011 einen Entschädigungsanspruch für Verfahrensbeteiligte vorsieht, die infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleiden (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis“). Er nimmt ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach er durch eine Klage auf Entschädigung nach den neuen Bestimmungen keine hinreichende Wiedergutmachung der Verletzung seiner Rechte aus Artikel 8 hätte erlangen können, da sie keine zügigere Verfahrensführung hätte herbeiführen können.

Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er in der Rechtssache T. ./. Deutschland ([Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 53126/07, 29. Mai 2012) festgestellt hat, dass kein Grund für die Annahme besteht, der neue Rechtsbehelf werde Beschwerdeführern nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung im Zusammenhang mit ihren Rügen nach Artikel 6 wegen unangemessen langer Verfahren zu erlangen. Daher hätten auch Beschwerdeführer, die ihre Beschwerden zum Gerichtshof vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Schaffung des neuen Rechtsbehelfs erhoben hatten, diesen in Anspruch zu nehmen, um das Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung zu erfüllen (a. a. O., Rdnrn. 37-47; und B. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 41394/11, Rdnr. 13, 22. Januar 2013).

Was die Frage anbelangt, inwiefern eine angemessene Wiedergutmachung für eine mutmaßliche Verletzung von Artikel 8 (im Unterschied zu Artikel 6) der Konvention aufgrund unangemessen langer Verfahren im Wege eines Verfahrens nach §§ 198 ff GVG erlangt werden kann, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte diese Bestimmungen bereits auf Verfahren vor den Familiengerichten angewendet haben. Er stellt ferner fest, dass § 198 Abs. 2 GVG so gefasst ist, dass die innerstaatlichen Gerichte insbesondere berücksichtigen können, dass überlange Verfahren in Familiensachen zu einer Entfremdung zwischen Elternteil und Kind und somit zu einer faktischen Entscheidung der Sache führen können (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht, Rechtsvergleichung und innerstaatliche Praxis“).

In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof jedoch nicht darüber zu befinden, ob der neue Rechtsbehelf dem Beschwerdeführer eine angemessene und hinreichende Entschädigung für die behauptete Verletzung seiner Rechte aus Artikel 8 ermöglichen konnte. Mit Blick auf die Urteilsbegründung der innerstaatlichen Gerichte ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Ausgang des in Rede stehenden Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers jedenfalls nicht durch die überlange Verfahrensdauer präjudiziert wurde. Das Verfahren wurde von den Familiengerichten, die in den Tatsachenfragen zu entscheiden hatten, zügig geführt. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Vaterschaft für M. insbesondere deshalb zurückwies, weil bereits zu diesem Zeitpunkt eine sozial-familiäre Beziehung zwischen M. und seinem rechtlichen Vater B. bestand. In dieser Hinsicht wirkte sich die anschließende Dauer des Verfahrens daher nicht mehr auf die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 aus. Überdies wurden, abgesehen von der Frage des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem betreffenden Kind, die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte von weiteren Rechtsfragen und tatsächlichen Merkmalen (insbesondere der zuvor erfolgten Vaterschaftsanerkennung durch B.) bestimmt, an denen der Zeitablauf nichts änderte.

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Verfahrenserfordernisse aus Artikel 8 erfüllt waren. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte war demnach im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt.

Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründetund nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

B. Übrige Rügen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die Dauer des Vaterschaftsverfahrens unangemessen gewesen sei und auch zu einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geführt habe.

Angesichts seiner vorstehenden Feststellungen und seiner Feststellungen in der Rechtssache T. (a. a. O., ebenda) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.

Außerdem rügte der Beschwerdeführer, dass ihm kein wirksamer Rechtsbehelf zur Rüge der Dauer des Verfahrens, wie nach Artikel 13 der Konvention erforderlich, zur Verfügung gestanden habe.

Da die nach Artikel 6 erhobene Rüge des Beschwerdeführers wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückgewiesen worden ist, stellt der Gerichtshof fest, dass die damit im Zusammenhang stehende Rüge nach Artikel 13 offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Unter Berufung auf Artikel 8 und 14 der Konvention machte der Beschwerdeführer zudem geltend, dass er dadurch, dass ihm die innerstaatlichen Gerichte die Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft von B. und die Feststellung seiner eigenen Vaterschaft versagten, sowie durch die dem zugrunde liegenden Rechtsvorschriften als leiblicher Vater gegenüber der Mutter, dem rechtlichen Vater und dem Kind diskriminiert worden sei.

Angesichts seiner vorstehenden Feststellungen und seiner Feststellungen in vergleichbaren Rechtssachen (siehe insbesondere K., a. a. O., Rdnrn. 90-92; und A., a. a. O., Rdnrn. 88-90) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung, der bestehenden familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang vor der Beziehung zu dem mutmaßlichen biologischen Vater einzuräumen, in den Ermessensspielraum des Staates fällt, soweit die rechtliche Stellung betroffen ist. Der Beschwerdeführer wurde somit im Vergleich zu Personen in ähnlichen Situationen nicht ohne sachliche und vernünftige Gründe unterschiedlich behandelt.

Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                                Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                                        Präsident

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[1] korrigiert, Anm. d. Übersetzerin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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