Chiarello gg. Deutschland – 497/17 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Urteil vom 20.6.2019, Sektion V

SachverhaltDer Bf. arbeitete als Justizwachebeamter im Gefängnis von Saarbrücken. Nachdem im Dezember 2006 ein Mobiltelefon ins Gefängnis eingeschmuggelt worden war, wurde gegen ihn im Zusammenhang mit diesem Vorfall im Mai 2007 eine Untersuchung eingeleitet. Am 14.1.2008 wurde er zu einer polizeilichen Befragung geladen, die am 16.1. stattfand. Der Staatsanwalt erhob am 13.5.2008 Anklage gegen den Bf. wegen der Annahme von Bestechungsgeld. Letzterer wurde beschuldigt, € 200,– angenommen, ein Mobiltelefon ins Gefängnis geschmuggelt und es an einen Insassen weitergegeben zu haben. Gleichzeitig wurde im Zusammenhang mit dem Vorfall Anklage gegen sieben weitere Beschuldigte erhoben.

Das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht wurde am 8.1.2010 anhängig gemacht, nachdem das Landgericht zwischenzeitlich über ein Rechtsmittel gegen die Verweigerung der Bestellung eines Verteidigers für einen der Angeklagten zu entscheiden gehabt hatte. Die erste Verhandlung fand am 3.5.2010 statt. Nach 14 Verhandlungen verurteilte das Amtsgericht den Bf. zu einer Bewährungsstrafe.

Gegen das Urteil erhob Letzterer Berufung an das Landgericht. Das Berufungsverfahren begann am 25.10.2011 und endete nach sieben Verhandlungen am 18.11.2011 mit einem Freispruch des Bf.

Das OLG hob dieses Urteil am 21.1.2013 auf und verwies den Fall zurück an das Landgericht. Das neue Verfahren vor diesem dauerte vom 11.2.2015 bis zum 2.4.2015. Das Gericht verurteilte den Bf. schließlich wegen der Annahme von Bestechungsgeld zu acht Monaten Haft auf Bewährung. Es berücksichtigte dabei zugunsten des Bf., dass das Delikt bereits 2006 begangen worden war, dieser seit 2007 einer strafrechtlichen Untersuchung unterworfen war und bereits nach dem erstinstanzlichen Urteil vom Dienst suspendiert worden war. Um einen Ausgleich für das übermäßig lange Verfahren zu schaffen, erklärte das Gericht drei Monate der verhängten Haftstrafe als schon verbüßt.

Die Rechtsberufung des Bf. gegen das vorgenannte Urteil wurde vom OLG am 29.4.2016 abgewiesen. Seine Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG am 4.7.2016 nicht zur Entscheidung angenommen (2 BvR 1140/16).

Als Folge der Verurteilung verlor der Bf. seinen Beamtenstatus, da das Beamtenstatusgesetz unter § 24 einen Verlust dieses Status vorsah, wenn ein Beamter wegen Annahme von Bestechungsgeld zu einer mehr als sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Rechtsausführungen

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

1. Zulässigkeit

(36) Die Regierung brachte vor, dass soweit das Landgericht bereits eine Verzögerung im Verfahren festgestellt hatte, die übermäßig lange Dauer des Verfahrens anerkannt und wiedergutgemacht worden wäre. Zusätzlich hätte das Landgericht auch die lange Dauer des Verfahrens berücksichtigt, als es über die Strafe des Bf. entschieden habe. Deshalb habe der Bf. seinen Opferstatus iSd. Art. 34 EMRK verloren.

(38) Nach Ansicht des GH ist die Frage, ob der Bf. seinen Opferstatus iSd. Art. 34 EMRK verloren hat, eng mit der Frage verbunden, die im Zusammenhang mit seiner Rüge unter Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen einer überlangen Verfahrensdauer aufgeworfen wurde. Er verbindet diese Frage daher mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

(39) Da die Rüge des Bf. nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

2. In der Sache

a. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer

(45) Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist im Lichte der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen, wobei die in der Rechtsprechung des GH dargelegten Kriterien zu berücksichtigen sind – insbesondere die Komplexität des Falles, das Verhalten des Bf. und der zuständigen Behörden sowie die Bedeutung dessen, was für den Bf. auf dem Spiel stand.

(46) Im vorliegenden Fall begann die relevante Periode am 14.1.2008, als der Bf. zur Befragung geladen und von den Beschuldigungen ihm gegenüber in Kenntnis gesetzt wurde. […]

(47) Die Periode endete nicht, als die Entscheidung rechtskräftig wurde, wie es die Regierung behauptet, sondern am 4.7.2016 mit der Entscheidung des BVerfG. Insgesamt dauerte das Strafverfahren in vier Instanzen acht Jahre und fünf Monate, einschließlich einer Zurückverweisung vom OLG an das Landgericht.

(48) Was die Angemessenheit dieses Zeitraumes angeht, bemerkt der GH zunächst, dass der Fall des Bf., in dem dieser der Annahme von Bestechungsgeldern beschuldigt wurde, als solches nicht besonders komplex war. Allerdings umfasste er auch sieben Mitangeklagte, die alle von einem Verteidiger vertreten wurden, sowie eine umfangreiche Beweisaufnahme, die Aufnahmen aus Telekommunikationsüberwachung mit einschloss. Der GH befindet, dass neben anderen Dingen insbesondere die große Zahl an Mitangeklagten und die Menge an Beweisen zu dem langen Zeitraum zwischen der Anklage und der ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht beitrugen. Er hält ferner fest, dass die Periode durch die Berufung verlängert wurde, die von einem der Mitangeklagten gegen die Verweigerung, einen bestimmten Anwalt bestellen zu können, erhoben wurde. Diese Verzögerung ist zwar nicht dem Verhalten des Bf. zuzuschreiben, kann aber auch nicht der Regierung vorgeworfen werden.

(49) Der GH befindet auch, dass der Bf. zu keinem Zeitpunkt in Untersuchungshaft genommen wurde und es um keine schwere Strafe ging. Allerdings hatte das Verfahren beträchtliche soziale Folgen für den Bf., da seine Anstellung als Beamter auf dem Spiel stand.

(50) Wenn man den Verfahrensverlauf berücksichtigt, war die einzige Phase von längerer Inaktivität zwischen dem 30.1.2013 und dem 11.2.2015. Dies wurde vom Landgericht in seinem Urteil und von der Regierung anerkannt. Lässt man diese Periode außer Betracht, so befindet der GH, dass die Gesamtdauer des Verfahrens vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Faktoren nicht exzessiv war und noch als angemessen iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden kann.

b. Verlust der Opfereigenschaft

(54) Der GH wiederholt, dass eine für den Bf. günstige Entscheidung oder Maßnahme nicht grundsätzlich ausreicht, um ihn seines Status als »Opfer« der Verletzung eines Konventionsrechts zu berauben, wenn die nationalen Behörden die Konventionsverletzung nicht ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und eine Wiedergutmachung dafür gewährt haben.

(55) Was die Wiedergutmachung angeht, die einem Bf. gewährt werden muss, um den Verstoß gegen ein Konventionsrecht auf nationaler Ebene zu beheben, hat der GH allgemein befunden, dass dies von allen Umständen des Falles abhängt und dabei die Natur der festgestellten Konventionsverletzung besonders zu berücksichtigen ist. In Fällen, welche die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen der übermäßigen Dauer von Strafverfahren betrafen, hat der GH wiederholt festgestellt, dass die Wiedergutmachung insbesondere dadurch gewährt werden konnte, dass die Haftstrafe der einer Straftat für schuldig befundenen Person auf angemessene Weise sowie ausdrücklich und messbar reduziert wurde oder dass das Strafverfahren aufgrund seiner übermäßigen Länge eingestellt wurde. In anderen Verfahrensdauerfällen hat der GH zudem akzeptiert, dass eine finanzielle Entschädigung eine Wiedergutmachung für übermäßig lange Verfahren begründen und die betreffende Partei dann nicht länger behaupten kann, ein Opfer iSd. Art. 34 EMRK zu sein.

(56) Zu den Umständen des vorliegenden Falles bemerkt der GH, dass das Landgericht ausdrücklich anerkannte, dass das Strafverfahren aufgrund der Verzögerung, die zwischen dem 30.1.2013 und dem 11.2.2015 erfolgt und dem Bf. nicht zurechenbar war, übermäßig lang gewesen wäre. Der GH beobachtet weiters, dass der Bf. keine finanzielle Entschädigung erhielt und das Strafverfahren aufgrund seiner unangemessenen Länge auch nicht eingestellt wurde. Es bleibt daher die Frage, ob die Haftstrafe des Bf. ausdrücklich und messbar reduziert wurde.

(57) Die Regierung brachte vor, der Bf. hätte eine mildere Strafe erhalten, weil das Landgericht auch die Gesamtdauer des Verfahrens berücksichtigt hätte, als es die Strafe festlegte. Allerdings verwies das Landgericht nicht auf den Zeitraum der Inaktivität zwischen 30.1.2013 und 11.2.2015, sondern auf die Zeit, die seit der mutmaßlichen Straftat Ende 2006 vergangen war. Es kann daher nicht gesagt werden, dass das Landgericht eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in diesem Teil des Urteils ausdrücklich anerkannte. Zudem ist die von der Regierung behauptete Reduktion der Strafe nicht messbar, da die Dauer des Verfahrens einer von vielen Aspekten war, die vom Landgericht berücksichtigt wurden, als es die Strafe festlegte.

(58) Dennoch beobachtet der GH auch, dass drei Monate der Haftstrafe des Bf. als verbüßt erklärt wurden. In diesem Zusammenhang bemerkt er zudem, dass die Strafe ausgesetzt wurde und […] die Wiedergutmachung nur gewährt werden würde, wenn die Aussetzung widerrufen würde. Sie ist somit bedingt, da der Bf. von der Reduktion der Haftstrafe nur dann profitiert hätte, wenn er innerhalb des Bewährungszeitraumes erneut eine Straftat begangen hätte. Nach Ansicht des GH ist diese Form der Wiedergutmachung dennoch nicht theoretisch, sondern schwächt die drohende Gefängnisstrafe ab, die einer bedingten Haftstrafe immanent ist, und reduziert sie von acht auf fünf Monate und somit ausdrücklich und messbar. Für diese Feststellung ist es unerheblich, dass diese Reduktion die Nebenfolgen der bedingten Haftstrafe nicht betraf.

(59) Unter diesen Umständen kommt der GH zum Schluss, dass die Erklärung von drei Monaten der ausgesetzten Haftstrafe des Bf. als verbüßt eine ausreichende und angemessene Wiedergutmachung darstellte. Der Bf. kann deshalb nicht länger behaupten, ein Opfer iSd. Art. 34 EMRK zu sein. Demgemäß stellt der GH fest, dass keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt ist und akzeptiert die diesbezügliche Einrede der Regierung (einstimmig).

Zuletzt aktualisiert am November 5, 2020 von eurogesetze

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