RECHTSSACHE CHIARELLO gegen DEUTSCHLAND (Individualbeschwerde Nr. 497/17) (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE C. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 497/17)
URTEIL
STRASSBURG
20. Juni 2019

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache C. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Mārtiņš Mits,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Lәtif Hüseynov,
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 21. Mai 2019,

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 497/17) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, C. („der Beschwerdeführer“), am 29. Dezember 2016 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn G., Rechtsanwalt in D., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren unfair und überlang gewesen sei und damit gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe, und dass seine Entlassung als Justizbeamter (Gefängniswärter) gegen Artikel 7 der Konvention verstoßen habe.

4. Am 8. Januar 2018 wurde die nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention erhobene Rüge hinsichtlich der Verfahrensdauer der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

5. Die Bundesrechtsanwaltskammer, die vom Vizepräsidenten zur Teilnahme am schriftlichen Verfahren ermächtigt worden war, gab eine Stellungnahme als Drittbeteiligte ab (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in Ü. Er war als Justizbeamter (Gefängniswärter) in der Justizvollzugsanstalt S. tätig.

7. Im April 2007 stellte die JVA-Verwaltung fest, dass im Dezember 2006 ein Handy in die JVA eingeschmuggelt worden war. Im Mai 2007 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet und im Oktober 2007 mehrere Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn angeordnet, einschließlich Telekommunikationsüberwachung. Am 14. Januar 2008 wurde der Beschwerdeführer zu einer polizeilichen Vernehmung geladen, die am 16. Januar 2008 erfolgte. Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 13. Mai 2008 wurde er wegen Bestechlichkeit angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, ein Bestechungsgeld in Höhe von 200 Euro angenommen sowie ein Handy in die JVA eingeschmuggelt und einem Gefangenen überreicht zu haben. Gegen sieben weitere Angeschuldigte wurde ebenfalls Anklage erhoben.

8. Im Anschluss ordnete das Amtsgericht allen Angeklagten Pflichtverteidiger bei, denen es der Reihe nach Einsicht in die Akten, einschließlich der Aufzeichnungen der Telekommunikationsüberwachung, gewährte. Gegen die Ablehnung, einem der Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wurde Beschwerde vor dem Landgericht eingelegt, das im April 2009 über diese Sache entschied.

9. Am 8. Januar 2010 wurde das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht eröffnet, das am 12. Januar 2010 die Termine für die Hauptverhandlung anberaumte. Im Anschluss fragte es bei den Verteidigern an, an welchen Terminen im Juni und Juli 2010 weitere Verhandlungstermine stattfinden könnten und an welchen Tagen im April 2010 eine Vorbesprechung stattfinden könnte.

B. Das Strafverfahren

10. Der erste Termin der Hauptverhandlung fand am 3. Mai 2010 statt; nach 14 Verhandlungstagen verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das schriftliche Urteil wurde von dem Gericht am 23. September 2010 zugestellt. Im Oktober 2010 wurde der Beschwerdeführer vorläufig vom Dienst suspendiert und sein Gehalt um ca. 25 % gekürzt.

11. Der Beschwerdeführer legte Berufung gegen das Urteil ein. Auch die vier Mitangeklagten und die Staatsanwaltschaft legten Berufung gegen die jeweiligen Urteile ein.

12. Im September 2011 wechselte der Beschwerdeführer seinen Verteidiger; seinem neuen Verteidiger wurde Akteneinsicht gewährt.

13. Das Berufungsverfahren begann am 25. Oktober 2011 und endete nach sieben Terminen am 18. November 2011. Das Landgericht sprach den Beschwerdeführer und seine Mitangeklagten frei. Das schriftliche Urteil legte es am 23. Dezember 2011 vor.

14. Gegen das am 18. November 2011 verkündete Urteil legte die Staatsanwaltschaft noch am selben Tag Revision ein, die sie am 16. Januar 2012 begründete. Die Angeklagten legten Gegenerklärungen zu der Revision vor und das Oberlandesgericht setzte einen Verhandlungstermin für den 21. Januar 2013 an.

15. Am 21. Januar 2013 hob das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück.

16. Das neue Berufungsverfahren begann am 11. Februar 2015 und endete am 2. April 2015. Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Bestechlichkeit zu acht Monaten Freiheitsstrafe. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe setzte es zur Bewährung aus und erklärte drei der acht Monate für vollstreckt.

17. In seiner Urteilsbegründung führte das Gericht u. a. aus, zugunsten des Beschwerdeführers sei zu berücksichtigen, dass die Tat bereits im Jahr 2006 begangen worden sei und nunmehr über acht Jahre zurückliege, und, dass er seit 2007 dem gegen ihn geführten langjährigen Ermittlungs- und strafgerichtlichen Verfahren ausgesetzt gewesen sei. Das Gericht berücksichtigteauch, dass der Beschwerdeführer bereits seit seiner erstinstanzlichen Verurteilung vom Dienst suspendiert worden sei und seitdem nur ein gekürztes Gehalt bezogen habe.

18. Schließlich erklärte das Gericht drei Monate der erkannten Freiheitsstrafe für vollstreckt, um die überlange Verfahrensdauer zu kompensieren. Diese habe sich daraus ergeben, dass die Sache nach der Zurückverweisung an das Landgericht am 29. Januar 2013 von dem Vorsitzenden erst wieder ab dem 11. Februar 2015 habe terminiert werden können. Die vom Beschwerdeführer beantragte Einstellung des Verfahrens aufgrund der unangemessenen Verfahrensdauer sei jedoch nicht geboten. Dies komme nur in Extremfällen in Betracht, wenn das Gewicht des zu kompensierenden Nachteils die zu vollstreckende Strafe übersteige, auf welche die Kompensation anzurechnen wäre. Dieses Maß sei vorliegend beim Beschwerdeführer nicht erreicht, so das Gericht.

19. Gegen das Urteil des Landgerichts vom 2. April 2015 legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 8. April 2015 Revision ein.

20. Am 29. April 2016 verwarf das Oberlandesgericht die Revision des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet. Seine daraufhin erhobene Anhörungsrüge blieb ebenfalls erfolglos. Das Berufungsurteil des Landgerichts wurde daher am 12. Mai 2016 rechtskräftig.

C. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

21. Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2016 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Mit Beschluss vom 4. Juli 2016 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1140/16).

D. Weitere Entwicklungen

22. Mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils verlor der Beschwerdeführer nach dem Beamtenstatusgesetz seinen Beamtenstatus. Erforderlich war hierzu weder eine entsprechende Erklärung der Behörden noch eine förmliche Mitteilung an den Beschwerdeführer.

23. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin vor dem Verwaltungsgericht einen Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass er einstweilen seinen Beamtenstatus behalte und dass dem Bundesland aufzugeben sei, ihm weiterhin sein Grundgehalt zu zahlen. Mit Beschluss vom 12. Juli 2016 wies das Verwaltungsgericht diesen Antrag zurück und führte u. a. aus, dass ihm das Beamtenstatusgesetz (siehe Rdnr. 34) entgegenstehe. Ferner ändere die Tatsache, dass er für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung letztlich nur fünf Monate zu verbüßen hätte, nichts daran, dass er zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden sei.

24. Am 6. Oktober 2016 wies das Oberlandesgericht die vom Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Beschwerde vom 12. Juli 2016 zurück.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Strafgesetzbuch

25. Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lauten wie folgt:

§ 46 Grundsätze der Strafzumessung

„(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, […] die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.“

§ 51 Anrechnung

„(1) Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf zeitige Freiheitsstrafe und auf Geldstrafe angerechnet. Das Gericht kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. […]

(4) Bei der Anrechnung von Geldstrafe oder auf Geldstrafe entspricht ein Tag Freiheitsentziehung einem Tagessatz. Wird eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung angerechnet, so bestimmt das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen. […]“

§ 56 Strafaussetzung

„(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. […]“

§ 56b Auflagen

„(1) Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Dabei dürfen an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

(2) Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen,

1. nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen,

2. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen, wenn dies im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters angebracht ist,

3. sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen oder

4. einen Geldbetrag zugunsten der Staatskasse zu zahlen.

Eine Auflage nach Satz 1 Nr. 2 bis 4 soll das Gericht nur erteilen, soweit die Erfüllung der Auflage einer Wiedergutmachung des Schadens nicht entgegensteht. […]“

§ 56f Widerruf der Strafaussetzung

„(1) Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person

1. in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat,

2. gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlaß zu der Besorgnis gibt, daß sie erneut Straftaten begehen wird, oder

3. gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt.

Satz 1 Nr. 1 gilt entsprechend, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft oder bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe begangen worden ist.

(2) Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht,

1. weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, insbesondere die verurteilte Person einer Bewährungshelferin oder einem Bewährungshelfer zu unterstellen, oder

2. die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern.

In den Fällen der Nummer 2 darf die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden. […]“

B. Gerichtsverfassungsgesetz

26. Nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes hat ein Verfahrensbeteiligter, der infolge unangemessener Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet, Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld. § 198 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

§ 198

„(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung.Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. […]

(4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. […]“

27. § 199 regelt die Entschädigung für überlange Strafverfahren und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

§ 199

„(1) Für das Strafverfahren einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage ist § 198 nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 anzuwenden. […]

[…]

(3) Hat ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt, ist dies eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Absatz 2 Satz 2; insoweit findet § 198 Absatz 4 keine Anwendung. Begehrt der Beschuldigte eines Strafverfahrens Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, ist das Entschädigungsgericht hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden. […]“

C. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

28. In dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 17. Januar 2008 wich der Bundesgerichtshof von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Art und Weise der Entschädigung für eine überlange Verfahrensdauer in Strafsachen ab (GSSt 1/07).

29. Der Bundesgerichtshof befand, dass in Fällen, in denen das Strafverfahren übermäßig verzögert worden sei, anstelle der bisher gewährten unmittelbaren Strafminderung („Strafabschlagslösung“) von den Strafgerichten in der Urteilsformel auszusprechen sei, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gelte („Vollstreckungslösung“).

30. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs sei die nach dem Grundgesetz und der Konvention gebotene Strafminderung zur Kompensation der überlangen Verfahrensdauer in bestimmten Fällen nicht mit dem Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung vereinbar. Insbesondere in Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, sei die Strafabschlagslösung nicht mit den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in Einklang zu bringen. So könne von der gesetzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht abgewichen werden, um eine unangemessene Verfahrensdauer zu kompensieren.

31. Die Vollstreckungslösung hingegen, die aus dem in der Konvention verankerten Entschädigungsprinzip und aus § 51 Abs. 1 und 4 Strafgesetzbuch abgeleitet werden könne (siehe Rdnr. 25) und mit den Artikeln 6 und 13 der Konvention vereinbar sei, ermögliche in allen Fällen überlanger Verfahrensdauer eine Kompensation. Sie gestatte den Strafgerichten, die gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststrafen zu verhängen und dennoch durch die Erklärung, dass ein bezifferter Teil der Strafe als vollstreckt anzusehen sei, eine Entschädigung zu leisten. Durch die Trennung von Strafzumessung auf Grundlage der Schuld des Angeklagten und Entschädigung belasse sie ferner der Strafe die ihr in sonstigen strafrechtlichen Bestimmungen (z. B. zur Strafaussetzung zur Bewährung oder zur Sicherungsverwahrung) sowie in Bestimmungen zu Beamten und Ausländern beigelegte Funktion.

32. Bei der Vollstreckungslösung hätten die Strafgerichte zunächst das Ausmaß der Verfahrensverzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln. Bei der Strafzumessung auf Grundlage der Schuld des Angeklagten hätten sie mildernd zu berücksichtigen, dass ein großer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil im Allgemeinen die Notwendigkeit der Bestrafung des Täters verringere. Ferner könne die unangemessene Dauer des Verfahrens insoweit eine Rolle spielen, als der Angeklagte dadurch einer größeren Belastung ausgesetzt sei. In einem nächsten Schritt hätten die Strafgerichte unter Berücksichtigung aller Umstände der Rechtssache festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe als vollstreckt gelten solle, um den Angeklagten für die von den staatlichen Behörden und Gerichten rechtsstaatswidrig verursachte Verzögerung zu entschädigen. Sowohl die Strafe als auch der als vollstreckt geltende Teil der Strafe seien in den Urteilstenor aufzunehmen.

33. Im Hinblick auf Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird, stellte das Gericht klar, dass sich aus dem neuen Ansatz keine Unterschiede zur bisherigen Rechtslage ergäben, denn nach beiden Modellen werde die Entschädigung faktisch nur bei einem Bewährungswiderruf wirksam. Allerdings sei es nicht ausgeschlossen, die unangemessene Verfahrensdauer neben der Anrechnung auf die Strafe auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 Strafgesetzbuch verzichtet werde (siehe Rdnr. 25).

D. Beamtenstatusgesetz

34. § 24 des Gesetzes sieht die automatische Beendigung des Beamtenverhältnisses nach einer Verurteilung vor und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

§ 24 Verlust der Beamtenrechte

„(1) Wenn eine Beamtin oder ein Beamter im ordentlichen Strafverfahren durch das Urteil eines deutschen Gerichts

1. wegen einer vorsätzlichen Tat zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr oder

2. wegen einer vorsätzlichen Tat, die nach den Vorschriften über Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit oder, soweit sich die Tat auf eine Diensthandlung im Hauptamt bezieht, Bestechlichkeit, strafbar ist, zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten

verurteilt wird, endet das Beamtenverhältnis mit der Rechtskraft des Urteils. […]“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION

35. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Dauer des gegen ihn geführten Strafverfahrens überlang gewesen sei und damit gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe, der wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem … Gericht … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

A. Zulässigkeit

36. Die Regierung machte geltend, soweit das Landgericht bereits eine Verfahrensverzögerung festgestellt habe, sei die überlange Verfahrensdauer bereits anerkannt und wiedergutgemacht worden. Ferner habe das Landgericht die lange Verfahrensdauer auch bei der Bemessung der gegen den Beschwerdeführer verhängten Strafe berücksichtigt. Damit sei die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 34 der Konvention entfallen.

37. Der Beschwerdeführer bestritt diese Auffassung und trug vor, die Erklärung, dass drei Monate der Strafe als bereits vollstreckt gelten, habe keine angemessene Wiedergutmachung für die anerkannte Verfahrensverzögerung dargestellt. Darüber hinaus habe es weitere Verfahrensverzögerungen gegeben, die von den innerstaatlichen Stellen bislang nicht anerkannt worden seien. Folglich sei seine Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention nicht entfallen.

38. Nach Auffassung des Gerichtshofs steht die Frage, ob die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 34 der Konvention entfallen ist, in engem Zusammenhang mit der Frage, die seine Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention wegen der Verfahrensdauer aufwirft. Diese Frage wird daher mit der Prüfung der Begründetheit der Beschwerde verbunden.

39. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass die Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Angemessenheit der Verfahrensdauer

(a) Die Stellungnahmen der Parteien

40. Der Beschwerdeführer trug vor, dass er am 3. Januar 2008 von dem Ermittlungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden sei und das Strafverfahren mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2016 geendet habe. Somit habe das Verfahren acht Jahre und sechs Monate gedauert. Ferner hätten die strafrechtlichen Ermittlungen bereits zwei Jahre angedauert, bevor er darüber in Kenntnis gesetzt worden sei. In diesem Zeitraum sei das Verfahren von den verschiedenen Gerichten ca. sieben Jahre lang nicht mit der erforderlichen Zügigkeit geführt worden. Nach Ansicht des Beschwerdeführers habe es keine konkreten Gründe für diese Verzögerungen gegeben und sie könnten nicht seinem Verhalten während des Verfahrens zugerechnet werden. Darüber hinaus sei das Verfahren nicht besonders komplex gewesen.

41. Der Beschwerdeführer brachte weiter vor, dass der Zeitraum zwischen der Anklageerhebung und dem ersten Termin der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ein besonders offensichtliches Beispiel der Untätigkeit sei. Dieser Zeitraum von fast zwei Jahren sei nicht dadurch gerechtfertigt gewesen, dass den Verteidigern Akteneinsicht gewährt worden sei, denn bei einem zügig geführten Verfahren hätten die Gerichte Kopien der Verfahrensakte anfertigen und mehreren Anwälten gleichzeitig Akteneinsicht gewähren müssen.

42. Die Regierung brachte vor, der maßgebliche Zeitraumbetreffend Artikel 6 Abs. 1 der Konvention habe vom Tag der Anklageerhebung, dem 13. Mai 2008, bis zur Rechtskraft des Strafurteils gedauert, die am 12. Mai 2016 eingetreten sei, als das Oberlandeslandesgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers verworfen habe. Das Strafverfahren habe somit acht Jahre gedauert. Bis auf den Zeitraum vom 30. Januar 2013 bis zum 11. Februar 2015, für den das Landgericht eine Konventionsverletzung ausdrücklich anerkannt habe, sei dieser Zeitraum nicht unangemessen lang gewesen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten das Verfahren fortlaufend gefördert. Die erhebliche Länge des Verfahrens sei auf die Komplexität des Verfahrens, die große Anzahl von Angeklagten und Verteidiger, die umfangreiche Beweisaufnahme, die Vielzahl der gestellten Anträge sowie die zahlreichen eingelegten Rechtsmittel zurückzuführen.

43. Im Hinblick darauf, dass zwischen Anklageerhebung und dem ersten Tag der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht fast zwei Jahre vergangen seien, sei insbesondere zu beachten, dass allen acht Pflichtverteidigern Akteneinsicht habe gewährt werden müssen, einschließlich der Gelegenheit zur Anhörung der umfangreichen Telekommunikationsüberwachungen. Gegen die Ablehnung der Beiordnung einer Rechtsanwältin sei von einem Mitangeklagten Beschwerde eingelegt worden.

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

44. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die „angemessene Frist“ nach Artikel 6 Abs. 1 in Strafverfahren beginnt, sobald eine Person „beschuldigt“ wird. Eine „strafrechtliche Beschuldigung“ liegt ab dem Zeitpunkt vor, zu dem eine Person eine amtliche Mitteilung der zuständigen Behörde erhält, dass ihr die Begehung einer Straftat angelastet wird, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem die Maßnahmen, die die Behörden aufgrund des Verdachts gegen sie ergriffen haben, ernsthafte Auswirkungen auf ihre Situation haben (siehe Simeonovi ./.Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/04, Rdnr. 110, 12. Mai 2017 (Auszüge), und Ibrahim u. a. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nr. 50541/08 und drei weitere, Rdnr. 249, ECHR 2016). In Strafsachen erstreckt sich der zu berücksichtigende Zeitraum auf das gesamte in Rede stehende Verfahren, einschließlich des Rechtsmittelverfahrens (siehe K. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 6232/73, Rdnr. 98, 28. Juni 1978) und des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (siehe K. und T. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 45749/06 und 51115/06, Rdnr. 61, 22. Januar 2009).

45. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist im Lichte der jeweiligen Umstände der Rechtssache sowie in Anbetracht der in der Spruchpraxis des Gerichtshofs festgelegten Kriterien, insbesondere der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Stellen sowie der Tragweite dessen, was für den Beschwerdeführer auf dem Spiel stand, zu beurteilen (siehe u. v. a. Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25444/94, Rdnr. 67, ECHR 1999-II; U. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 64387/01, Rdnr. 27, 10. Februar 2005, und Abdoella ./. Niederlande, 25. November 1992, Rdnr. 24, Serie A Bd. 248‑A).

46. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache begann der maßgebliche Zeitraum nach Ansicht des Gerichtshofs am 14. Januar 2008, als der Beschwerdeführer zur Vernehmung vorgeladen und von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen in Kenntnis gesetzt wurde. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer nicht substantiiert hat, weshalb oder wie er bereits vor diesem Datum benachrichtigt worden sein soll und weshalb der Zeitraum bereits am 3. Januar 2008 begonnen haben soll. Er stellt weiterhin fest, dass in der Verfahrensakte keine Informationen enthalten sind, die darauf hinweisen, dass er bereits vor dem 14. Januar 2008 Kenntnis von dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren hatte. Darüber hinaus hält der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung, wonach der Zeitraum erst am 13. Mai 2008 begonnen haben soll, angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer bereits vorher von der Beschuldigung in Kenntnis gesetzt worden war, für nicht überzeugend.

47. Der Zeitraum endete nicht, wie von der Regierung vorgebracht, mit der Rechtskraft des Urteils, sondern am 4. Juli 2016 mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (siehe K. und T., a. a. O., Rdnr. 61). Insgesamt dauerte das Strafverfahren acht Jahre und fünf Monate und erstreckte sich über vier Instanzen, wobei die Sache einmal vom Oberlandesgericht an das Landgericht zurückverwiesen wurde.

48. Was die Angemessenheit dieses Zeitraums angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Fall des Beschwerdeführers, in dem es um den Vorwurf der Bestechlichkeit gegen ihn ging, an sich nicht besonders komplex war. Allerdings gab es sieben Mitangeklagte, die jeweils von einem eigenen Verteidiger vertreten wurden, und eine umfangreiche Beweisaufnahme, die auch Aufzeichnungen der Telekommunikationsüberwachung beinhaltete. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass insbesondere die große Anzahl der Mitangeklagten und der Umfang der Beweismittel u. a. zu dem langen Zeitraum zwischen der Anklageerhebung und der ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht beigetragen haben. Ferner stellt er fest, dass dieser Zeitraum durch die von einem Mitangeklagten gestellte Beschwerde gegen die Ablehnung der Beiordnung einer bestimmten Rechtsanwältin verlängert wurde. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann diese Verzögerung nicht dem Verhalten des Beschwerdeführers zugeschrieben werden, sie kann aber auch nicht der Regierung vorgeworfen werden.

49. Der Gerichtshof berücksichtigt auch, dass sich der Beschwerdeführer zu keiner Zeit in Untersuchungshaft befand und keine schwere Strafe im Raum stand. Allerdings hatte das Verfahren erhebliche soziale Auswirkungen auf den Beschwerdeführer, da sein Beamtenverhältnis auf dem Spiel stand.

50. Im Hinblick auf den Verlauf des Verfahrens war die einzige längere Phase der Untätigkeit der Zeitraum vom 30. Januar 2013 bis zum 11. Februar 2015, was das Landgericht in seinem Urteil und auch die Regierung anerkannt haben. Der Gerichtshof befindet, dass – abgesehen von diesem Zeitraum – die Verfahrensdauer im Lichte dieser verschiedenen Faktoren insgesamt nicht überlang war und noch als angemessen im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention angesehen werden kann.

2. Wegfall der Opfereigenschaft

(a) Die Stellungnahmen der Parteien

(i) Die Regierung

51. Die Regierung trug vor, das Landgericht habe ausdrücklich anerkannt, dass die Phase der Untätigkeit zwischen dem 30. Januar 2013 und dem 11. Februar 2015 gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen habe. Der Beschwerdeführer sei für diese Verzögerung jedoch bereits entschädigt worden, indem drei Monate der Freiheitsstrafe für vollstreckt erklärt worden seien. Das Gericht habe damit die Strafe des Beschwerdeführers ausdrücklich und messbar gemindert. Dass gegen den Beschwerdeführer eine Bewährungsstrafe verhängt worden sei, ändere nichts daran, dass eine ausreichende Wiedergutmachung geleistet worden sei. Im Fall des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung hätte der Beschwerdeführer nur fünf und nicht acht Monate verbüßen müssen. Daher sei die psychische Belastung durch die Strafe geringer gewesen. Zudem sei eine Bedingung der Bewährungsstrafe, dass die Kompensation durch eine geminderte Strafe erst bei einem Bewährungswiderruf wirksam werde. Insoweit seien die Folgen der „neuen“ Vollstreckungslösung dieselben wie bei der vorherigen Strafabschlagslösung. Wie der Bundesgerichtshof in seinem Urteil (siehe Rdnr. 33) festgestellt habe, werde nach beiden Kompensationsmodellen die Entschädigung faktisch erst dann gewährt, wenn die Freiheitsstrafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden müsse. Darüber hinaus habe das Landgericht bei der Strafzumessung nicht nur die Strafe ausdrücklich gemindert, sondern zugunsten des Beschwerdeführers auch die insgesamt lange Verfahrensdauer und die seit der Straftat verstrichene Zeit berücksichtigt. Dies habe zu einer recht milden Freiheitsstrafe von lediglich acht Monaten geführt. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen kam die Regierung zu dem Schluss, dass dem Beschwerdeführer bereits eine Kompensation für die überlange Dauer des Verfahrens gewährt worden sei und er nicht mehr geltend machen könne, Opfer einer Konventionsverletzung im Sinne von Artikel 34 der Konvention zu sein.

(ii) Der Beschwerdeführer

52. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass ihm keine Wiedergutmachung gewährt worden sei, auch wenn das Landgericht die überlange Dauer des Verfahrens anerkannt habe. Dass drei der acht Monate für bereits vollstreckt erklärt worden seien, habe keine ausdrückliche und messbare Minderung seiner Strafe und somit keine faktische Kompensation dargestellt. Da er in der Bewährungszeit keine weiteren Straftaten begangen habe und die Strafaussetzung zur Bewährung daher nicht widerrufen worden sei, habe es keine messbare Strafminderung gegeben und es sei auch nicht in sonstiger Weise eine Kompensation gewährt worden. Da das Landgericht die Vollstreckungslösung angewandt und somit seine Strafe nicht gemindert habe, habe er zudem seinen Beamtenstatus verloren, weil er zu einer (zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt worden sei, auch wenn er im Falle eines Bewährungswiderrufs nur fünf Monate hätte verbüßen müssen. Insgesamt sei ihm keine Wiedergutmachung für den Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gewährt worden und er könne nach wie vor geltend machen, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.

(iii) Die Bundesrechtsanwaltskammer

53. Die Bundesrechtsanwaltskammer trug – soweit ihre Ausführungen zulässig waren – vor, dass im Falle einer Bewährungsstrafe eine Wiedergutmachung im Wege eines Abschlags eines Teils der Strafe, der für bereits vollstreckt erklärt werde, nur theoretisch möglich sei, da die Kompensation nur bei einem Bewährungswiderruf wirksam werde. Damit werde derjenige, dem ein Strafgericht künftig ein gesetzeskonformes Verhalten zutraue und dessen Freiheitsstrafe es daher zur Bewährung aussetze, schlechter behandelt als derjenige, bei dem das Gericht dies nicht annehme. Ferner führe die Einführung der Vollstreckungslösung dazu, dass sich die Nebenfolgen einer strafrechtlichen Verurteilung, etwa der Verlust des Beamtenstatus, ausgehend von der nicht geminderten Freiheitsstrafe bestimmten.

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

54. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass grundsätzlich nicht schon eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Beschwerdeführers genügt, um ihm die Opfereigenschaft im Hinblick auf die Verletzung eines Konventionsrechts abzuerkennen, es sei denn, die innerstaatlichen Stellen haben die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und sodann Wiedergutmachung geleistet (siehe u. a. Scordino ./. Italien (Nr. 1) [GK], Individualbeschwerde Nr. 36813/97, Rdnr. 180, ECHR 2006‑V, mit weiteren Nachweisen).

55. Im Hinblick auf die Wiedergutmachung, die einem Beschwerdeführer zu gewähren ist, um einer Verletzung eines Konventionsrechts auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, hat der Gerichtshof im Allgemeinen die Auffassung vertreten, dass dies von den Gesamtumständen des Falls abhängt, wobei insbesondere die Art der festgestellten Konventionsverletzung zu berücksichtigen ist. In Fällen, in denen es um eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 infolge überlanger Verfahrensdauer geht, hat der Gerichtshof mehrfach festgestellt, dass eine Wiedergutmachung insbesondere dadurch gewährt werden kann, dass die Freiheitsstrafe der verurteilten Person ausdrücklich und messbar herabgesetzt wird (siehe O. ./. Deutschland (Nr. 1), Individualbeschwerde Nr. 10597/03, Rdnr. 68, 13. November 2008, mit weiteren Nachweisen; Ščensnovičius ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 62663/13, Rdnr. 92, 10. Juli 2018, und Malkov ./. Estland, Individualbeschwerde Nr. 31407/07, Rdnr. 40, 4. Februar 2010). Der Gerichtshof hat ferner in anderen Fällen, in denen es um überlange Verfahrensdauer ging, anerkannt, dass eine Geldentschädigung eine Wiedergutmachung für ein überlanges Verfahren darstellen kann und die betroffene Partei dann nicht mehr geltend machen kann, Opfer einer Konventionsverletzung im Sinne von Artikel 34 der Konvention zu sein (siehe Scordino, a. a. O., Rdnr. 181).

56. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache nimmt der Gerichtshof die ausdrückliche Anerkenntnis seitens des Landgerichts zur Kenntnis, dass das Strafverfahren aufgrund der nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnenden Verzögerung vom 30. Januar 2013 bis zum 11. Februar 2015 überlang gewesen sei. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass dem Beschwerdeführer keine Geldentschädigung zugesprochen wurde und das Strafverfahren wegen seiner unangemessenen Dauer auch nicht eingestellt wurde. Daher bleibt die Frage, ob die Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers ausdrücklich und messbar gemindert wurde.

57. Der Gerichtshof nimmt den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach der Beschwerdeführer eine milde Strafe erhalten habe, weil das Landgericht bei der Strafzumessung auch die Gesamtdauer des Verfahrens berücksichtigt habe. Er stellt jedoch fest, dass sich das Landgericht dabei nicht auf die Phase der Untätigkeit zwischen dem 30. Januar 2013 und dem 11. Februar 2015 bezog, sondern auf den Zeitraum, der seit der mutmaßlichen Straftat Ende 2006 vergangen war (siehe Rdnr. 17). Daher kann nicht gesagt werden, dass das Landgericht in diesem Teil des Urteils einen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ausdrücklich anerkannt hat. Zudem ist die von der Regierung behauptete Strafminderung nicht messbar, denn die Verfahrensdauer war einer von vielen Aspekten, die das Landgericht bei der Strafzumessung berücksichtig hat.

58. Jedoch stellt der Gerichtshof auch fest, dass drei Monate der gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafe für vollstreckt erklärt wurden. In diesem Zusammenhang nimmt er auch zur Kenntnis, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde und, wie der Bundesgerichtshof festgestellt hat (siehe Rdnr. 33) und die Parteien vorgetragen haben, die Kompensation nur im Fall eines Bewährungswiderrufs Wirkung entfalten würde. Sie ist daher bedingt, denn dem Beschwerdeführer würde die Strafminderung nur dann zugutekommen, wenn er innerhalb der Bewährungszeit erneut straffällig werden würde. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist diese Form der Kompensation dennoch nicht nur theoretischer Natur, vielmehr wird die in einer Bewährungsfreiheitsstrafe enthaltene Androhung des Freiheitsentzugs abgemildert, indem sie von acht auf fünf Monate verkürzt und damit ausdrücklich und messbar gemindert wurde. Für diese Feststellung ist unerheblich, dass diese Minderung keine Auswirkungen auf die Nebenfolgen der bedingten Freiheitsstrafe hatte.

59. Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Vollstreckterklärungvon drei Monaten der Bewährungsstrafe des Beschwerdeführers eine hinreichende und angemessene Wiedergutmachung darstellte. Der Beschwerdeführer kann daher nicht mehr geltend machen, Opfer einer Konventionsverletzung im Sinne von Art. 34 der Konvention zu sein. Daher befindet der Gerichtshof, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist, und akzeptiert die diesbezügliche Einwendung der Regierung.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Einwendung der Regierung bezüglich der Opfereigenschaft des Beschwerdeführers wird mit der Prüfung der Begründetheit verbunden;

2. die Rüge betreffend Artikel 6 Abs. 1 der Konvention (Verfahrensdauer) wird für zulässig erklärt;

3. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention (Verfahrensdauer) ist nicht verletzt worden und die Einwendung der Regierung bezüglich der Opfereigenschaft des Beschwerdeführers wird akzeptiert.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. Juni 2019 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                    Yonko Grozev
Kanzlerin                                    Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 5, 2020 von eurogesetze

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