RECHTSSACHE KARAMAN gegen DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 17103/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE K. gegen DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 17103/10)
URTEIL
STRASSBURG
27. Februar 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache K. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
André Potocki,
Paul Lemmens
und Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 14. Januar 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 17103/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein türkischer Staatsangehöriger, Herr K. („der Beschwerdeführer“), am 22. März 2010 nach Art. 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn I., Rechtsanwalt in W., Nordrhein-Westfalen, vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention geltend, dass die Bezugnahmen auf seine Beteiligung an einer Straftat, die in einem gegen gesondert verfolgte Mitverdächtige ergangenen Urteil enthalten seien, den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten.

4. Am 18. Oktober 2012 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

5. Der Beschwerdeführer und die Regierung nahmen jeweils zur Zulässigkeit und zur Begründetheit der Beschwerde Stellung. Die türkische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren nach Artikel 36 der Konvention unterrichtet worden war, machte von diesem Recht keinen Gebrauch.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer ist in I. wohnhaft. Er ist Gründer des türkischen Fernsehsenders X und Vorstandsvorsitzender der Betreibergesellschaft dieses Senders,I. Die Programminhalte von X werden in der Türkei und auch in Deutschland über den Fernsehkanal X landesweit ausgestrahlt. Letzterer wird von nach deutschem Recht gegründeten Gesellschaften mit beschränkter Haftung betrieben, seit 2001 von der Y GmbH, zu deren Gesellschaftern der Beschwerdeführer gehört. Der Beschwerdeführer war bei diesen Gesellschaften abwechselnd als Geschäftsführer und als Prokurist tätig.

7. Seit 1998 wurde dem gemeinnützigen Verein „D“ ein fester Sendeplatz im Programm des Senders eingeräumt; zu den Gründern des Vereins zählte u. a. der Personalchef von X, der zugleich dem Vorstand des Vereins angehörte. Im Rahmen des sowohl in der Türkei als auch in Deutschland auf diesem Sendeplatz ausgestrahlten Programms berichtete der Verein über von ihm durchgeführte Hilfsprojekte für Bedürftige und rief dazu auf, für deren Finanzierung zu spenden. 1999 gründete G., ein weiterer Gesellschafter der Y GmbH, der abwechselnd als Geschäftsführer und als Prokurist agierte, unter dem Namen „F.“ (im Folgenden: „F“) einen ähnlichen Verein. G. wurde auch zum Vorsitzenden des Vereins ernannt und hatte diese Position bis 2006 inne. In seinen im Fernsehen ausgestrahlten Spendenaufrufen betonte F die gespendeten Gelder würden unmittelbar und ausschließlich eingesetzt, um bedürftige Personen zu unterstützen und soziale Projekte zu finanzieren.

8. Im Jahr 2006 leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen den Beschwerdeführer und mehrere Mitverdächtige, darunter G., Ermittlungen ein, weil der Verdacht bestand, dass diese den größten Teil der bei dem Verein eingegangen Spenden zu kommerziellen Zwecken und zu ihrem eigenen Nutzen verwendet hatten.

9. Am 11. März 2008 wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer von den Ermittlungen gegen seine Mitverdächtigen abgetrennt.

10. Mitte 2008 wurde wegen derselben Betrugsvorwürfe auch in der Türkei ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet.

B. Das Strafverfahren gegen die Mitverdächtigen

11. In einem Urteil, dessen Tenor zusammen mit einer Zusammenfassung der Begründung am 17. September 2008 (Az. 5/26 Kls 6350 Js 203391/064/08) mündlich verkündet wurde, sprach die Große Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zwei der Mitverdächtigen des Beschwerdeführers, G. und T., des Betrugs in einem besonders schweren Fall schuldig, begangen als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, deren Anführer sich in der Türkei befanden. Der weitere Mitangeklagte E. wurde wegen Beihilfe verurteilt. G. und T. wurden zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren und zehn Monaten bzw. zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, während E. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt wurde, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das schriftliche Urteil mit der vollständigen Begründung erging später, zwischen 17. September und Anfang November 2008.

12. Das Landgericht hielt es für erwiesen, dass G. eine komplexe Struktur aufgebaut und aufrechterhalten hatte, um zu verschleiern, dass der größte Teil der von F für karitative Zwecke eingeworbenen Spenden tatsächlich dazu bestimmt war und dazu verwandt wurde, unternehmerische Tätigkeiten privater Firmen, an denen u. a. G. und der Beschwerdeführer beteiligt waren, zu finanzieren. Auf G.s Veranlassung habe T. zu der arglistigen Täuschung u. a. dadurch beigetragen, dass er Protokolle von Mitgliederversammlungen von Fangefertigt habe, die nie stattgefunden hätten, um die unzulässige Verwendung der Spendengelder vor den Steuerbehörden zu verbergen. E. habe, ebenfalls auf Anweisung von G., die tatsächliche Verwendung der Spendengelder nicht in der offiziellen Buchhaltung des Vereins, sondern in einer Nebenbuchhaltung erfasst.

13. Die Feststellungen des Gerichts stützen sich hauptsächlich auf die von T., E. und G. abgelegten Geständnisse, denen eine zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung erzielte Absprache vorausgegangen war, sowie auf weitere, im Verlauf des Verfahrens erlangte Beweise. Während G. behauptete, er habe über die Verwendung der Spendengelder allein, ohne Rücksprache mit irgendwelchen Kontaktpersonen in der Türkei, entschieden, bezeugten T. und E., dass G. in die Hierarchie einer kriminellen Vereinigung eingebunden gewesen sei, die von der Türkei aus gesteuert worden sei und in der der Beschwerdeführer eine Führungsrolle eingenommen habe. Gemäß den Aussagen von T. und E. brauchte G. für alle wesentlichen Entscheidungen über die Verwendung der von dem Verein erlangten Spendengelder die Zustimmung des Beschwerdeführers. Das Gericht war daher davon überzeugt, dass G. nicht an der Spitze der Hierarchie der kriminellen Vereinigung stand, sondern von den Weisungen der in der Türkei lebenden Anführer abhängig war.

14. Die Begründung des Urteils ist in sechs mit römischen Zahlen bezifferte Teile untergliedert. Teil I enthält Informationen zum persönlichen Hintergrund der Angeklagten. In Teil II sind die Umstände der Rechtssache beschrieben. In Teil III sind die Beweismittel, auf welche sich das Landgericht bei der Tatsachenfeststellung gestützt hat, und die gerichtliche Beurteilung des Wahrheitsgehalts und der Glaubwürdigkeit der maßgeblichen Beweismittel dargelegt. Die Teile IV und V enthalten die rechtliche Würdigung der von den Angeklagten begangenen Straftaten sowie die entsprechenden Schuldfeststellungen und daraus folgenden Strafen. In Teil VI ist festgelegt, dass die Angeklagten die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Das Urteil nimmt an mehreren Stellen auf die Rolle Bezug, die die Anführer der kriminellen Vereinigung in der Türkei im Zusammenhang mit der Verwendung der Spendengelder für nicht karitative Zwecke spielten. In diesem Zusammenhang wird der Vor- und Nachname des Beschwerdeführers in dem zweiunddreißig Seiten langen Urteil vielfach erwähnt. Die insoweit wichtigsten Passagen des Urteils, die sich in den Teilen II bis V der Begründung finden, lauten wie folgt:

„II.

„Über die im Namen des Vereins [F] eingenommenen Spendengelder entschieden weder der Vereinvorstand noch die eingetragenen Vereinsmitglieder, sondern der Angeklagte G. in Abstimmung mit und nach Anweisung der gesondert verfolgten K., …, … sowie …, … (S. 8 und 9)

Dem Angeklagten G. sowie den Verantwortlichen von X in der Türkei war … bewusst, dass die im Namen des deutschen Vereins [F] vereinnahmten Gelder nur zum Teil für hilfsbedürftige Menschen und soziale Projekte verwendet werden würden. Die vereinnahmten Gelder sollten nach den Vorstellungen von G. und den gesondert verfolgten Hinterleuten jedenfalls ab dem Jahr 2002 auch zu einem großen Teil der wirtschaftlichen Betätigung, insbesondere hierbei als Anschubfinanzierung von unternehmerischen Projekten durch Gesellschaften des Privatrechts dienen, bei denen G. bzw. die gesondert verfolgten K., …, … sowie … Gesellschafter wurden. (S. 9 und 10)

Der Angeklagte G. und der gesondert verfolgte K. beauftragten aus diesem Grund den Mitangeklagten E. mit der Führung der Nebenbuchhaltung. (S. 11)

Der Inhalt der Nebenbuchhaltung in Deutschland wurde jeden Monat von G. mit …, … bzw. K. abgestimmt. (S. 12)

An den gesondert verfolgten K. wurden laut der Eintragungen in der Nebenbuchhaltung insgesamt 4.504.000 € übergeben. (S. 15)

Über die Verwendung des durch die Spenden eingenommenen Geldes entschieden die gesondert verfolgten K., …, … und … . Als Vorstandsvorsitzender von I. kam K. hierbei eine hervorgehobene Rolle zu. (S. 15)

Dem Angeklagten T. war die konkrete Höhe der zweckwidrig eingesetzten Spendenmittel nicht bekannt. Er billigte jedoch die Einwerbung von weiteren Spendenmitteln in Kenntnis von zweckwidrigen Verwendungen in erheblichem Umfang. Nach der Festnahme von G. im April 2007 war er Ansprechpartner von K. für alle Angelegenheiten des F in Deutschland. Dieser stellte ihm zur Vermeidung einer befürchteten Überwachung des Telekommunikationsverkehrs ein Mobiltelefon mit einer Prepaid-Karte zur Verfügung. (S. 21)

III.

Dieser Sachverhalt steht aufgrund der Geständnisse der Angeklagten sowie aufgrund der weiteren ausweislich des Sitzungsprotokolls in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise fest. (S. 22)

Soweit G. sich dahin eingelassen hat, dass er die Entscheidungen zur zweckwidrigen Verwendung von Spendengeldern allein und ohne Absprache mit Hinterleuten in der Türkei getroffen hat, ist die Kammer ihm hierin nicht gefolgt. Sowohl der Angeklagte E. als auch der Angeklagte T. haben in ihren Geständnissen in der Hauptverhandlung wie schon zuvor bei ihren Vernehmungen durch die Polizei erklärt, dass G. in eine Hierarchie eingebunden war und er alle wesentlichen Entscheidungen mit den gesondert verfolgten K., … und … abstimmen musste, wobei K. als Vorsitzender von I. eine hervorgehobene Stellung inne hatte. (S. 23)

Diese von den beiden Mitangeklagten geschilderte Einbindung in ein von der Türkei aus beherrschtes System wird durch den Aufbau der inoffiziellen Buchhaltung, durch die parallele Struktur von Fernsehsender und dem Spendensammelverein F in Deutschland und der Türkei, durch die Beteiligungen an den Gesellschaften, die mit den Spendengeldern gegründet wurden, sowie durch den Umstand der Übergaben der Bargeldabhebungen im Gebäude von X in der Türkei hinreichend belegt. Durch die Übernahme der alleinigen Verantwortung für die Einwerbung und zweckwidrige Verwendung von Spendengeldern in Deutschland versuchte der Angeklagte G. ersichtlich, seine Hinterleute in der Türkei vor einer strafrechtlichen Verfolgung in Deutschland und/oder der Türkei zu schützen. (S. 23)

IV.

Der Angeklagte T. hat sich des Betruges in sukzessiver Mittäterschaft nach § 263, 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht. T. wollte durch seine Beiträge nicht nur fremdes Tun fördern, sondern einen Beitrag zu einer gemeinsamen Tätigkeit mit G. und den Hinterleuten in der Türkei leisten. (S. 25)

V.

Darüber hinaus sprach zu seinen [G.s] Gunsten, dass er in der Hierarchie der Organisation des Betrugs nicht an der Spitze stand, sondern von den Weisungen der Hinterleute in der Türkei abhängig war. Über die konkrete und damit auch die zweckwidrige Verwendung der Spendengelder konnte er nicht selbst allein entscheiden, sondern nur Ideen entwickeln, die letztendlich in der Türkei von den Hinterleuten genehmigt werden mussten. Er war mehr ausführendes als bestimmendes Organ. (S. 28)

Sein [T.s] Geständnis hat sich dabei nicht auf den eigenen Tatbetrag beschränkt, er hat auch sein Wissen zu den Hintergründen und insbesondere auch zu den Hinterleuten offenbart. Seine Kenntnisse waren beschränkt, da ihm G. und seine Hinterleute bewusst nur einen beschränkten Einblick gewährten. In der Hierarchie stand er weit unter G. und den Verantwortlichen in der Türkei. (S. 29)

Durch die Führung der inoffiziellen Buchhaltung hat er [E.] einen wesentlichen Tatbeitrag für das Funktionieren des Gesamtsystems geleistet. Welche Bedeutung die Führung der Nebenbuchhaltung durch den Angeklagten zukam, kommt darin zum Ausdruck, dass er nicht nur vom Angeklagten G., sondern auch von dem gesondert verfolgten K. unmittelbar um das Führen der Nebenbuchhaltung ersucht wurde. (S. 30)

Die Hinterleute aus der Türkei hatten zudem im Vorfeld versucht, durch Kontaktaufnahme über seine erste Verteidigerin und Familienangehörige seine Aussagebereitschaft gegenüber den Ermittlungsbehörden zu unterbinden.“ (S. 31)

15. Gemäß einem am 18. September 2008 im Internet veröffentlichten Artikel der Frankfurter Rundschau hatte der Vorsitzende Richter der Großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main bei der Urteilsverkündung erklärt, die Spendengelder seien von Hintermännern für einen Mix aus eigenen wirtschaftlichen und politischen Zwecken, ein Teil aber wohl tatsächlich für Hilfsleistungen ausgegeben worden. Dieselbe Zeitung hatte in einem am 15. September 2008 im Internet veröffentlichten Artikel berichtet, die Staatsanwaltschaft habe den Beschwerdeführer als den „führenden Kopf der gesamten Organisation“ bezeichnet. Ähnliche Zitate wurden am 17. und 18. September 2008 in mehreren türkischen Zeitungen veröffentlicht. Zum Beispiel hatte der Vorsitzende Richter gemäß einem in der türkischen Zeitung Hürriyet am 18. September 2008 veröffentlichen Artikel erklärt: „Alle Fäden liefen bei X zusammen. G. und T. handelten gemäß den Anweisungen, die von X, insbesondere von K., …, … und …, kamen. Die Hauptverantwortlichen waren in der Türkei.“

16. Das Urteil wurde am 28. November 2008 auf der Webseite des Landgerichts veröffentlicht. In der Internetfassung des Urteils wurden die Namen der Angeklagten und gesondert Verfolgten durch Buchstaben und die Namen der beteiligten Firmen durch Zahlen ersetzt. Die einleitenden Bemerkungen zur Internetveröffentlichung enthielten einen Absatz, der besagte, dass das Urteil rechtskräftig geworden und nur in Bezug auf die drei Verurteilten bindend sei. Es wurde ausgeführt, dass die in dem Urteil enthaltenen Bezugnahmen und Feststellungen hinsichtlich der Handlungen anderer Personen, insbesondere der gesondert Verfolgten, in Bezug auf diese Personen nicht bindend seien und für sie weiterhin die Unschuldsvermutung gelte. Das Urteil selbst enthält keine derartige Anmerkung.

17. Das Urteil wurde am 13. November 2008 rechtskräftig.

C. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers

18. Mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2008 reichte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er brachte vor, dass die Bezugnahmen in den Entscheidungsgründen des Urteils des Landgerichts vom 17. September 2008, die von seiner Beteiligung an der betrügerischen Verwendung der Spendengelder ausgingen, den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten, der einen Aspekt des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf ein faires Verfahren i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip darstelle.

19. Mit Beschluss vom 3. September 2009, der dem Beschwerdeführer am 25. September 2009 zugestellt wurde, wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde als unzulässig zurück (Az. 2 BvR 2540/08).

20. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Anfechtung eines aus einem Verfahren gegen Dritte resultierenden Urteils zwar nicht kategorisch ausgeschlossen sei, es jedoch entscheidend sei, ob ein an dem Verfahren nicht beteiligter Beschwerdeführer geltend machen könne, dass seine berechtigten Interessen durch die Gerichtsentscheidung unmittelbar rechtlich und nicht nur unmittelbar faktisch betroffen seien. Das Verfassungsgericht wies darüber hinaus auf seine gefestigte Rechtsprechung hin, nach der, aufgrund der grundgesetzlich garantierten Unschuldsvermutung, gegen einen Beschuldigten keine einer Strafe gleichkommenden Maßnahmen verhängt werden dürften, wenn seine Schuld nicht zuvor im Verlauf eines fairen Verfahrens nachgewiesen worden sei. Darüber hinaus müsse die entsprechende Schuldfeststellung rechtskräftig sein, bevor sie dem Betroffenen vorgehalten werden dürfe. Jedoch hindere die Unschuldsvermutung die Strafverfolgungsbehörden nicht daran, im Kontext eines Strafverfahrens zu beurteilen, ob und in welchem Grad eine Person einer strafbaren Handlung verdächtig sei.

21. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache wies das Verfassungsgericht darauf hin, dass die Unschuldsvermutung einen Beschwerdeführer nicht von vornherein vor faktischen Belastungen schütze, die sich daraus ergäben, dass im Rahmen eines gegen Dritte ergangenen Strafurteils Äußerungen über seine Beteiligung an der Begehung der Straftat getätigt würden. Ein solches Urteil stelle keine Entscheidung dar, die eine Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers erfordere oder ihn Nachteilen aussetze, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkämen. Die in einem Strafverfahren gegen andere Personen getätigten Äußerungen bänden die Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden weder in Bezug auf das gegen einen Beschwerdeführer noch anhängige Ermittlungsverfahren noch in Bezug auf andere gerichtliche oder behördliche Verfahren, an welchen er in Zukunft beteiligt sein könnte. Auf der Grundlage dieses Urteils könne der Beschwerdeführer nicht als schuldig behandelt werden; vielmehr sei er noch durch die Unschuldsvermutung geschützt. Dass die Sachverhaltsfeststellungen des Landgerichts nicht nur die in dem abgeschlossenen Verfahren verurteilten Personen, sondern auch den Beschwerdeführer beträfen, sei eine unvermeidliche Folge der Tatsache, dass Strafverfahren in komplexen Angelegenheiten kaum je gegen alle Beschuldigten gleichzeitig geführt und beendet werden könnten.

D. Weitere Entwicklungen

22. Am 20. Januar 2009 wurde ein Rechtshilfeersuchen an die türkischen Behörden gestellt, um eine Vernehmung des Beschwerdeführers zu erwirken. Hinsichtlich der Erledigung dieses Ersuchens wurden dem Gerichtshof noch keine Informationen vorgelegt.

23. Am 20. August 2009 erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main im Zusammenhang mit den in Rede stehenden Geschehnissen Anklage gegen den Beschwerdeführer und drei weitere Mitbeschuldigte. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft Ankara am 9. April 2012 offenbar eine ähnlich lautende Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben; sein Verfahren in der Türkei hat offenbar am 16. Januar 2013 begonnen. Laut dem Vorbringen der Regierung hat das Landgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 19. August 2013 die Hauptverhandlung in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer eröffnet; dieses scheint noch anhängig zu sein.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Die Strafprozessordnung

24. Laut § 155 Abs. 1 StPO erstrecken sich strafrechtliche Untersuchungen und die entsprechenden Entscheidungen nur auf die in der Klage bezeichnete Tat und auf die durch die Klage beschuldigten Personen. § 264 Abs. 1 bestimmt, dass ein in einem Strafverfahren ergangenes Urteil die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt, zum Gegenstand hat.

25. Laut § 250 muss eine Person in der Hauptverhandlung vernommen werden, wenn der Beweis einer Tatsache in einem Strafverfahren auf deren Wahrnehmung beruht. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden.

26. Nach § 337 StPO kann die Revision gegen ein Urteil eines Strafgerichts nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe.

B. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz

27. Die einschlägigen Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes lauten wie folgt:

§ 90

(1) Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, Artikel 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.

(2) Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.

§ 93a

(1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung.

(2) Sie ist zur Entscheidung anzunehmen,

a) soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt,

b) wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.

C. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung

28. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe beispielsweise BVerfGE 74, 358, 370 f. und 82, 106, 114 f.) leitet sich der Grundsatz der Vermutung der Unschuld bis zum gesetzlichen Beweis der Schuld aus dem Rechtsstaatsprinzip ab; bei der Auslegung seines Inhalts und seiner Reichweite sind die Konvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung ist eng verbunden mit dem Recht der einer Straftat angeklagten Person auf Selbstverteidigung im Rahmen eines fairen Verfahrens. Aufgrund dieses Grundsatzes dürfen gegen einen Beschuldigten keine einer Strafe gleichkommenden Maßnahmen verhängt werden, wenn seine Schuld nicht zuvor in einem ordnungsgemäßen Verfahren nachgewiesen worden ist. Darüber hinaus verlangt der Grundsatz, dass die Schuld gesetzlich nachgewiesen sein muss, bevor sie dem Betroffenen vorgehalten werden darf. Eine Schuldfeststellung ist daher in diesem Sinne erst dann rechtmäßig, wenn sie zum Abschluss eines Verfahrens ausgesprochen wird, welches das Stadium erreicht hat, in dem ein Urteil ergehen kann.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 2 DER KONVENTION

29. Der Beschwerdeführer rügte, dass die in dem Urteil des Landgerichts vom 17. September 2008 enthaltenen Ausführungen über seine Beteiligung an der angeblich gemeinschaftlich mit den Mitbeschuldigten begangenen Straftat den in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hätten; dieser lautet wie folgt:

„…

2. Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

…“

30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

31. Der Gerichtshof stellt zu Beginn fest, dass es zwischen den Parteien unstreitig war, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 6 der Konvention „einer Straftat angeklagt” war.

32. Die Regierung brachte jedoch vor, dass die Beschwerde unzulässig sei, da der Beschwerdeführer nicht geltend machen könne, Opfer eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung zu sein, und zudem den innerstaatlichen Rechtsweg diesbezüglich nicht erschöpft habe. Sie machte hilfsweise geltend, dass kein Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 2 vorliege.

A. Zulässigkeit

1. Die angeblich nicht bestehende Opfereigenschaft des Beschwerdeführers

(a) Die Regierung

33. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht geltend machen könne, Opfer einer Verletzung der Unschuldsvermutung im Sinne von Artikel 34 der Konvention zu sein.

34. Die Regierung brachte in diesem Zusammenhang vor, dass sich aus § 155 Abs. 1 i. V. m. § 264 Abs. 1 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis“) ergebe, dass sich jede Entscheidung oder Schuldfeststellung durch die Strafgerichte nur auf die beschuldigten Personen und die Taten beziehe, die in der Anklageschrift bezeichnet seien, welche einem bestimmten Verfahren zugrunde liege. In der vorliegenden Rechtssache sei das Urteil des Landgerichts in einem gesonderten Verfahren gegen die Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers ergangen; folglich sei jede Schuldfeststellung auf letztere beschränkt gewesen, habe sich nicht auf den Beschwerdeführer erstreckt und könne nicht gegen ihn verwendet werden.

35. Die Regierung brachte ferner vor, dass das Urteil des Landgerichts im Hinblick auf anhängige oder spätere Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer keine Bindungswirkung für die Gerichte oder die Strafverfolgungsbehörden entfalte. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung verhindere eine vorzeitige Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers durch das das Verfahren gegen ihn führende Gericht, und ein möglicher zukünftiger Schuldspruch könne unter keinen Umständen auf die angegriffenen Ausführungen in dem zuvor gegen seine Mitbeschuldigten ergangenen Urteil gegründet werden. Vielmehr wäre dieses Gericht verpflichtet, alle verfügbaren Beweismittel, die von den Strafverfolgungsbehörden vorgelegt würden, in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer selbst unvoreingenommen zu würdigen. Folglich hätten die angegriffenen Passagen des landgerichtlichen Urteils, die für das spätere Verfahren gegen den Beschwerdeführer rechtlich irrelevant seien, lediglich mittelbar faktische Auswirkungen auf ihn, beispielsweise durch die Presseberichterstattung.

36. Die Regierung schloss sich den Feststellungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. September 2009 (siehe Rdnrn. 20 f.) vollumfänglich an und brachte vor, dass die Unschuldsvermutung den Beschwerdeführer nicht vor solchen lediglich faktischen und mittelbaren Auswirkungen schütze, die sich aus einem Urteil ergäben, das in einem gegen Dritte geführten Strafverfahren ergangen sei, und das keine Beurteilung der eigenen Schuld des Beschwerdeführers enthalte und ihn auch keinen Nachteilen aussetze, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkämen.

(b) Der Beschwerdeführer

37. Der Beschwerdeführer widersprach dem Vorbringen der Regierung und betonte, dass die enge Auslegung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch die Regierung und das Bundesverfassungsgericht nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Einklang stehe, wonach der Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 2 nicht auf Situationen beschränkt sei, in denen die Schuld einer Person durch eine förmliche Gerichtsentscheidung festgestellt worden sei (zitiert aus Minelli ./. Schweiz, 25. März 1983, Rdnr. 37, Serie A Band 62; Allenet de Ribemont ./. Frankreich, 10. Februar 1995, Rdnr. 35, Serie A Band 308; und Borovský ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 24528/02, Rdnrn. 45 f., 2. Juni 2009).

38. Nach Ansicht des Beschwerdeführers können in einem Urteil gegen Dritte enthaltene Ausführungen zu einem gesondert verfolgten Verdächtigen, die über die notwendige Sachverhaltsbeschreibung hinausgehen und eine faktische Bewertung seiner Schuld implizieren, die Unschuldsvermutung in Frage stellen. Es stimme zwar, dass die Ausführungen und Feststellungen in dem Urteil des Landgerichts für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, die an einem anhängigen oder zukünftigen Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer beteiligt seien, rechtlich nicht bindend seien. Sie hätten jedoch eine faktische Präjudizierung geschaffen, die sich auf ein solches Verfahren stark negativ auswirken könne, und hätten außerdem dazu geführt, dass er in der Öffentlichkeit als Kopf einer für Betrugszwecke geschaffenen kriminellen Vereinigung wahrgenommen werde.

39. Der Beschwerdeführer kam zu dem Ergebnis, dass die belastenden Bezugnahmen in dem Urteil des Landgerichts entgegen dem Vorbringen der Regierung und der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 3. September 2009 sein Recht auf Achtung der Unschuldsvermutung unmittelbar betroffen hätten und er demnach geltend machen könne, Opfer einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention zu sein.

(c) Würdigung durch den Gerichtshof

40. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob die Unschuldsvermutung durch Ausführungen betroffen sein kann, die in einem Urteil, das in einem gesonderten Verfahren gegen Mitverdächtige erlassen wurde, enthalten sind und keine rechtliche Bindungswirkung für anhängige oder zukünftige Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer haben. Es ist Aufgabe des Gerichtshofs, festzustellen, ob die in dieser Rechtssache festgestellte Situation sich auf das Recht des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention ausgewirkt hat.

41. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass weder der Wortlaut von Artikel 6 Abs. 2 noch die Vorarbeiten zu dieser Vorschrift diesbezüglich Klarheit schaffen. Was seine einschlägige Rechtsprechung angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Unschuldsvermutung eines der Merkmale eines fairen Strafverfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 darstellt (siehe u. a. Daktaras ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 42095/98, Rdnr. 41, ECHR 2000-X, Janosevic ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 34619/97, Rdnr. 96, ECHR 2002-VII, und Yassar Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8866/04, Rdnr. 19, ECHR 2006-III). In ihrem aktuellen Urteil in der Rechtssache Allen ./. Vereinigtes Königreich hat die Große Kammer daran erinnert, dass sich aus der Unschuldsvermutung, wenn sie als verfahrensrechtliche Garantie im Zusammenhang mit einem Strafverfahren betrachtet wird, Anforderungen im Hinblick u. a. auf vorzeitige Äußerungen zur Schuld des Angeklagten durch das Strafgericht oder andere Amtsträger ergeben (Allen ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnr. 93, ECHR 2013). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits in früheren Entscheidungen festgestellt, dass Artikel 6 Abs. 2 darauf abzielt zu verhindern, dass die Fairness eines Strafverfahrens untergraben wird, indem in engem Zusammenhang mit diesem Verfahren nachteilige Äußerungen getätigt werden. Die Bestimmung untersagt nicht nur, dass die Auffassung, eine „einer Straftat angeklagte“ Person sei schuldig, vorzeitig, vor Erbringung des gesetzlichen Nachweises ihrer Schuld, durch das Strafgericht selbst geäußert wird, sondern gilt auch für Äußerungen anderer Amtsträger über laufende strafrechtliche Ermittlungen, welche die Öffentlichkeit dahingehend beeinflussen, den Verdächtigen für schuldig zu halten, und der Tatsachenbewertung durch die zuständige Justizbehörde vorgreifen. Auch ohne formellen Schuldspruch reicht es aus, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Gericht oder der Amtsträger den Angeklagten für schuldig hält (siehe u. a. Minelli, a. a. O., Rdnr. 37; Allenet de Ribemont, a. a. O., Rdnr. 35; Butkevičius ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 48297/99, Rdnr. 49, ECHR 2002‑II (Auszüge); Lavents ./. Lettland, Individualbeschwerde Nr. 58442/00, Rdnrn. 125 f., 28. November 2002; und Borovský, a. a. O., Rdnr. 45 f., 2. Juni 2009). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Unschuldsvermutung betroffen sein kann, wenn Amtsträger nachteilige Bemerkungen über die Beteiligung eines Verdächtigen an der Begehung einer Straftat machen, wenn gegen den Verdächtigen bereits gerichtliche Ermittlungen geführt werden, er aber noch nicht formell der in Rede stehenden Straftat angeklagt ist (siehe Allenet de Ribemont, a. a. O.). Der Gerichtshof hat ferner ausgeführt, dass Artikel 6 Abs. 2 anwendbar sein kann, wenn eine Gerichtsentscheidung, die in einem Verfahren erging, das nicht gegen den Beschwerdeführer als „Angeklagten“ gerichtet war, ihn aber dennoch betraf und mit einem gleichzeitig gegen ihn geführten Strafverfahren in Verbindung stand, eine vorzeitige Bewertung seiner Schuld impliziert (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 37568/97, Rdnr. 67, 3.Oktober 2002, und Diamantides ./. Griechenland (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 71563/01, Rdnr. 35, 19. Mai 2005).

42. Entgegen dem Vorbringen der Regierung ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Unschuldsvermutung grundsätzlich auch betroffen sein kann, wenn im Rahmen eines Urteils gegen gesondert verfolgte Mitverdächtige verfrühte Äußerungen zur Schuld eines Verdächtigen getätigt werden, wie vom Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache vorgebracht. Er weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass Ziel und Zweck der Konvention als Instrument zum Schutz des Menschen es erforderlich machen, die Konventionsbestimmungen so auszulegen und anzuwenden, dass die Schutzmechanismen praktisch und wirksam sind.Der Gerichtshof hat ausdrücklich erklärt, dass dies auch für das in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Recht gilt (siehe u. a. Allenet de Ribemont, a. a. O., Rdnr. 35; Lavents, a. a. O., Rdnr. 126; und Allen, a. a. O., Rdnr. 92).

43. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass zu dem Zeitpunkt, als das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main gegen die Mitverdächtigen des Beschwerdeführers erging, in Deutschland und der Türkei strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Betrugs gegen den Beschwerdeführer eingeleitet worden waren und er demnach im Sinne von Artikel 6 Abs. 2 „einer Straftat angeklagt“ war, obwohl noch nicht förmlich Anklage gegen ihn erhoben worden war (siehe E. ./. Deutschland, 15. Juli 1982, Rdnr. 73, Serie A Band 51, und Šubinski ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 19611/04, Rdnr. 62, 18. Januar 2007). Die maßgeblichen Passagen des Urteils betrafen seine Beteiligung an der betrügerischen Verwendung von Spendengeldern, die auch Gegenstand des parallelen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen ihn war und demnach eine direkte Verbindung zu diesem Verfahren hatte. Der Gerichtshof stellt fest, dass solche Äußerungen, auch wenn sie keine Bindungswirkung in Bezug auf den Beschwerdeführer haben, eine ebenso nachteilige Wirkung auf das gegen ihn anhängige Strafverfahren haben können wie vorzeitige Äußerungen, die eine andere Behörde in engem Zusammenhang mit einem anhängigen Strafverfahren über die Schuld eines Verdächtigen tätigt (vgl. Diamantides, a. a. O., Rdnr. 44). Der Gerichtshof hält es für wichtig, in diesem Zusammenhang anzumerken, dass in Situationen wie der, die der vorliegenden Individualbeschwerde zugrunde liegt, dem gesondert verfolgten Beschuldigten, der an dem Verfahren gegen seine Mitbeschuldigten nicht beteiligt ist, tatsächlich jede Möglichkeit genommen ist, den im Laufe dieses Verfahrens erhobenen Vorwürfen in Bezug auf seine Beteiligung an dem Verbrechen zu widersprechen.

44. Entsprechend der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass das in Artikel 6 Abs. 2 garantierte Recht praktisch und wirksam ist, kommt der Gerichtshof daher zu dem Schluss, dass die Unschuldsvermutung in der vorliegenden Rechtssache Anwendung findet und der Beschwerdeführer geltend machen kann, Opfer einer möglichen Verletzung der Unschuldsvermutung geworden zu sein.

2. Die angebliche Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

(a) Die Regierung

45. Die Regierung machte ferner geltend, der Beschwerdeführer habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft.

46. Ihrer Meinung nach hätte der Beschwerdeführer zunächst den Ausgang seines eigenen Strafverfahrens abwarten müssen und daraufhin eine etwaige Verurteilung mit der Begründung anfechten können, dass das Strafgericht die verfügbaren Beweismittel gegen ihn nicht unabhängig gewürdigt habe. Erst nachdem ein Strafverfahren mit einer Verurteilung geendet habe, könne aufgezeigt werden, ob aus der Begründung des Strafgerichts hervorgehe, dass es den Beschwerdeführer, unter Verletzung der Unschuldsvermutung, bereits vorab für schuldig gehalten habe.

47. Soweit der Beschwerdeführer sich über die mediale Aufmerksamkeit beschwerte, die ihm nach dem Urteil des Landgerichts vor allem in der Türkei zuteilwurde, war die Regierung der Ansicht, dass selbst unter der Annahme, dass der Schutz vor öffentlicher Aufmerksamkeit Teil der Unschuldsvermutung sei, von ihm hätte erwartet werden können, dass er sich dagegen mit geeigneten zivilrechtlichen Mitteln wehre. In jedem Fall könne die Regierung für Äußerungen der türkischen Medien ohnehin nicht verantwortlich gemacht werden.

(b) Der Beschwerdeführer

48. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass er mit seiner Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht, der zufolge die angegriffenen Ausführungen im Urteil des Landgerichts den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hatten, die verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft habe.

49. Er führte hierzu weiter aus, dass er in seiner Beschwerde im Wesentlichen geltend mache, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung durch die genannten Ausführungen in dem Urteil gegen seine Mitverdächtigen verletzt worden sei, und dass seiner Ansicht nach die anschließende mediale Berichterstattung über das Urteil für eine mögliche Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 nicht maßgeblich sei. Folglich widersprach er dem Vorbringen der Regierung, dass er gegen die nachteilige Medienberichterstattung über das Urteil des Landgerichts zivilrechtlich hätte vorgehen müssen.

(c) Würdigung durch den Gerichtshof

50. Der Gerichtshof erinnert daran, dass der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main eingereicht hat, und darin, wie in seiner später beim Gerichtshof eingereichten Individualbeschwerde, eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung geltend gemacht hat. Er stellt fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt und die Regierung auch nicht vorgebracht hat, dass dem Beschwerdeführer ein anderer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden hätte, mit dem er unmittelbar gegen eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte durch ein gegen Dritte ergangenes Urteil hätte vorgehen können. Darüber hinaus möchte der Gerichtshof darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in seinem Beschluss vom 3. September 2009 die Beschwerde des Beschwerdeführers nicht wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückgewiesen hat, sondern mit der Begründung, dass sich die angegriffene Entscheidung seiner Ansicht nach nicht unmittelbar auf die berechtigten Interessen des Beschwerdeführers auswirke. Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Gerichten Gelegenheit gab, die mutmaßlichen Verletzungen seines Konventionsrechts zu verhindern oder ihnen abzuhelfen, bevor der Gerichtshof mit ihnen befasst wurde, wie mit Artikel 35 Abs. 1 der Konvention bezweckt (siehe u. a. Slimani ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 57671/00, Rdnr. 38, ECHR 2004‑IX (Auszüge), und ASBL Eglise de Scientologie ./. Belgien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43075/08, Rdnr. 26, 27. August 2013).

51. Angesichts der Feststellung, dass die Unschuldsvermutung auch dann betroffen sein kann, wenn die Schuld eines Beschuldigten nicht förmlich festgestellt wurde (siehe Rdnrn. 40-44), weist der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zurück, dem zufolge der Beschwerdeführer den Ausgang des gegen ihn anhängigen Strafverfahrens hätte abwarten müssen, bevor er eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung rügt. Der Gerichtshof stellt fest, dass ein solcher Einwand zwar berechtigt sein kann, wenn ein Beschwerdeführer eine Verletzung der in Artikel 6 Abs. 1 und 3 verankerten Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit dem Strafverfahren selbst rügt und es die Aufgabe des Gerichtshofs wäre, die Fairness des Strafverfahrens insgesamt zu bewerten (siehe u. a. Taxquet ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 926/05, Rdnr. 84, ECHR 2010), er einen Beschwerdeführer jedoch nicht daran hindert, eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung vor Abschluss des gegen ihn anhängigen Verfahrens zu rügen.

52. Darüber hinaus teilt der Gerichtshof auch nicht die Auffassung der Regierung, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Medienberichterstattung über das Urteil des Landgerichts zivilrechtliche Mittel hätte ergreifen müssen. Der Gerichtshof hält fest, dass sich der Zweck eines solchen Zivilverfahrens von dem Gegenstand der vorliegenden Individualbeschwerde, wie vom Beschwerdeführer vorgebracht (siehe Rdnr. 49), nämlich der Frage, ob die maßgeblichen Passagen im Urteil des Landgerichts das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung der Unschuldsvermutung verletzten, unterschieden hätte. Folglich hätte ein Zivilverfahren in dieser Hinsicht keinen wirksamen Rechtsbehelf dargestellt (siehe Shuvalov ./. Estland, Individualbeschwerden Nrn. 39820/08 und 14942/09, Rdnr. 73, 29. Mai 2012).

53. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass der Beschwerdeführer, wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich, den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat.

3. Schlussfolgerung

54. Unter Bezugnahme auf die vorstehenden Ausführungen weist der Gerichtshof die Unzulässigkeitseinwendungen der Regierung zurück. Der Gerichtshof hält die Rüge auch nicht nach Art. 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention für offensichtlich unbegründet oder aus anderen Gründen für unzulässig. Dementsprechend erklärt er die Individualbeschwerde für zulässig.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

55. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge geht aus den angegriffenen Ausführungen im Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main, das gegen seine gesondert verfolgten Mitverdächtigen erging, deutlich hervor, dass das Gericht ihn für der mutmaßlichen Straftat schuldig hielt. Ohne dass man ihm die Gelegenheit gegeben habe, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, sei er als Inhaber einer Führungsrolle bei der Organisation der Straftat bezeichnet worden. Das Urteil habe nicht nur hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer in Deutschland und der Türkei zu einer faktischen Präjudizierung geführt, sondern auch dazu, dass er als Kopf einer kriminellen Vereinigung angesehen werde, die betrügerische Zwecke verfolge.

56. Der Beschwerdeführer erkannte an, dass Bezugnahmen auf die Beteiligung von gesondert verfolgten Mitverdächtigen in strafgerichtlichen Urteilen notwendig seien, um den Sachverhalt einer Rechtssache mit mehreren Verdächtigen festzustellen und ihre individuellen Beiträge zur Begehung der Straftat zu bestimmen. Er war jedoch der Ansicht, dass derartige Bezugnahmen auf die Beschreibung der Verdachtslage bezüglich der Beteiligung von gesondert verfolgten Mitverdächtigen beschränkt sein und keine Schuldfeststellungen beinhalten sollten.

57. Seines Erachtens enthielt das Urteil des Landgerichts nicht nur eine Beurteilung der Schuld der Verurteilten, sondern auch Ausführungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers, die über eine reine Beschreibung der Verdachtslage hinausgingen. Die Urteilsbegründung sei nicht auf eine neutrale Beschreibung der angeblichen Beteiligung des Beschwerdeführers an der Straftat begrenzt gewesen, sondern habe Bezugnahmen auf seine Motivation, Absicht und andere subjektive, seiner Beteiligung an dem in Rede stehenden Geschehen zugrundeliegende Aspekte enthalten. Darüber hinaus habe das Landgericht rechtliche Begriffe und Ausdrucksweisen verwendet, die eindeutig implizierten, dass die Beteiligung des Beschwerdeführers strafrechtlich als mit den Verurteilten gemeinschaftlich begangener Betrug einzustufen sei.

58. Als Ganzes betrachtet kämen die angegriffenen Ausführungen in der Urteilsbegründung daher einer Feststellung der Schuld des Beschwerdeführers gleich, welche den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletze.

(b) Die Regierung

59. Die Regierung brachte vor, dass ein Sachzusammenhang zwischen den Vorwürfen gegen die Mitverdächtigen des Beschwerdeführers und seiner Rolle in dem ihrer Verurteilung zugrundeliegenden Geschehen bestanden habe und es daher unerlässlich gewesen sei, auf seine Beteiligung an der Straftat Bezug zu nehmen, um die Tatbeiträge der Mitbeschuldigten und damit ihre jeweilige Schuld zu beurteilen und eine entsprechende Strafe festzulegen. Dies sei der übliche Ansatz, den Strafgerichte bei komplexen Strafverfahren mit mehreren Verdächtigen anwendeten, bei denen es so gut wie nie möglich sei, die Verfahren gegen alle Beschuldigten gleichzeitig zu führen und abzuschließen. Wenn zum Beispiel die Schuld von Verdächtigen zu beurteilen sei, die in gesonderten Verfahren als Anstifter oder Gehilfen angeklagt seien, müsse das Strafgericht die tatsächliche Begehung der Haupttat feststellen; reine Vermutungen seien diesbezüglich nicht ausreichend. Diese Vorgehensweise entspreche auch dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Beschleunigungsgrundsatz, insbesondere wenn es um in Untersuchungshaft sitzende Beschuldigte gehe, wie es in der vorliegenden Rechtssache im Fall der Mitverdächtigen des Beschwerdeführers der Fall gewesen sei.

60. Die Regierung machte darüber hinaus geltend, dass die Bezugnahmen auf den Beschwerdeführer in dem Urteil des Landgerichts hauptsächlich dessen Position in den diversen Unternehmen und Vereinigungen, die an der Organisation und Verschleierung der in Rede stehenden Straftat beteiligt gewesen seien, betroffen hätten. Sie betonte, dass diese Bezugnahmen auf die neutrale Beschreibung der Tatsachen beschränkt gewesen seien und keinen Zusammenhang mit seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit hergestellt hätten. In der Begründung des Landgerichts Frankfurt am Main werde an keiner Stelle der Eindruck vermittelt, dass der Beschwerdeführer, der in dem Urteil durchgängig als „gesondert Verfolgter“ bezeichnet werde, einer bestimmten Straftat für schuldig gehalten werde.

61. Dies gelte umso mehr, als das angegriffene Verfahren vor dem Landgericht nicht gegen den Beschwerdeführer gerichtet und eine Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers deshalb nicht erforderlich gewesen sei. Das Urteil des Landgerichts habe keine Bindungswirkung für das anhängige Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer oder irgendwelche zukünftigen Verfahren, an denen er beteiligt sein könnte, und habe somit insofern keine nachteilige Wirkung. Eine Feststellung der Schuld des Beschwerdeführers sei seinem eigenen Strafverfahren vorbehalten, bei dem er auch Gelegenheit hätte, den Tatsachen zu widersprechen, die dem vorangegangenen Urteil des Landgerichts gegen seine Mitverdächtigen zugrunde gelegen hätten. Aus diesem Grund sei es auch nicht notwendig gewesen, den Beschwerdeführer in dem Verfahren gegen seine Mitverdächtigen anzuhören.

62. Schließlich brachte die Regierung vor, dass die innerstaatlichen Behörden sichergestellt hätten, dass der Beschwerdeführer von der Öffentlichkeit nicht vorzeitig als schuldig wahrgenommen werde, indem sie in den einleitenden Bemerkungen zur Internetveröffentlichung des Urteils am 25. November 2008 ausgeführt hätten, dass jegliche Bezugnahmen und Feststellungen im Hinblick auf gesondert verfolgte Mitverdächtige nicht bindend seien und für diese weiterhin die Unschuldsvermutung gelte.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

63. Unter Bezugnahme auf seine Auslegung des Anwendungsbereichs von Artikel 6 Abs. 2 in den Randnummern 40 bis 44 weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Unschuldsvermutung verletzt wird, wenn eine Gerichtsentscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers im Hinblick auf eine einer Straftat angeklagte Person die Meinung widerspiegelt, die Person sei schuldig, obwohl der gesetzliche Beweis ihrer Schuld noch nicht erbracht wurde. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen einer Äußerung, nach der jemand der Begehung einer Straftat nur verdächtig ist, und einer eindeutigen Erklärung – jedoch ohne rechtskräftige Verurteilung–, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung betont, die der Wortwahl von Amtsträgern bei Äußerungen zukommt, die diese tätigen, bevor eine Person wegen einer bestimmten Straftat verurteilt worden ist (siehe Daktaras, a. a. O., Rdnr. 41; B., a. a. O., Rdnrn. 54 und 56; Nešťák ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 65559/01, Rdnrn. 88 und 89, 27. Februar 2007; Khuzhin u. a. ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 13470/02, Rdnr. 94, 23. Oktober 2008; und Borovský, a. a. O., Rdnrn. 45 f.). Obgleich der Sprachgebrauch hier von maßgeblicher Bedeutung ist, hat der Gerichtshof auch darauf hingewiesen, dass die Frage, ob eine Äußerung eines Amtsträgers gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstößt, im Zusammenhang mit den besonderen Umständen zu bestimmen ist, unter denen die angegriffene Äußerung getätigt wurde (siehe Daktaras, a. a. O., Rdnr. 43; Y.B. u. a. ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 48173/99 und 48319/99, Rdnr. 44, 28. Oktober 2004; A.L. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 72758/01, Rdnr. 31, 28. April 2005; und Allen, a. a. O., Rdnrn. 125 und 126). Selbst ein bisweilen unglücklicher Sprachgebrauch muss nicht entscheidend sein, wenn der Art und dem Kontext des speziellen Verfahrens Rechnung getragen wird (Allen, a. a. O.,Rdnr. 126).

64. Der Gerichtshof erkennt das Vorbringen der Regierung an, wonach es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld der abzuurteilenden Personen unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Strafgerichte müssen den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich feststellen und dürfen entscheidende Tatsachen nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darstellen. Das gilt auch für Tatsachen mit Bezug auf die Beteiligung Dritter. Wenn solche Tatsachen allerdings eingeführt werden müssen, sollte das Gericht es vermeiden, mehr Informationen zu geben als für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der in dem betreffenden Verfahren angeklagten Personen nötig.

65. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Bestimmungen des deutschen Rechts eindeutig verbieten, aus einem Strafverfahren, an dem eine Person nicht beteiligt war, Rückschlüsse auf deren Schuld zu ziehen. Die angegriffenen Ausführungen im Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main müssen in diesem Kontext betrachtet werden (siehe sinngemäß Allen, a. a. O., Rdnr. 125). Der Gerichtshof muss jedoch auch prüfen, ob die Begründung des Strafgerichts in dem konkreten Fall nicht in einer Art und Weise formuliert war, die Zweifel hinsichtlich einer möglichen vorzeitigen Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers aufwarf und damit die faire Prüfung der gegen ihn in gesonderten Verfahren in Deutschland und/oder der Türkei erhobenen Vorwürfe gefährdete.

66. In der vorliegenden Rechtssache hatte das Landgericht Frankfurt am Main unter anderem zu prüfen, inwieweit G., wie von ihm behauptet, allein und ohne Rücksprache mit Kontaktpersonen in der Türkei über die Verwendung der Spendengelder entschieden habe, oder inwieweit er, wie von den Zeugen und Mitbeschuldigten behauptet, in die Hierarchie einer kriminellen Vereinigung eingebunden gewesen sei, die von der Türkei aus gesteuert worden sei. Um über diese Frage zu entscheiden, musste das Gericht herausfinden, wer die missbräuchliche Verwendung der Spenden geplant hatte und, auf dieser Grundlage, wer wem welche Weisungen erteilt hat. Der Gerichtshof erkennt an, dass es in diesem Zusammenhang für das Gericht unvermeidlich war, die konkreten Rollen und sogar die Absichten aller Hinterleute in der Türkei, einschließlich des Beschwerdeführers, zu erwähnen.

67. Der Gerichtshof wird ferner prüfen, ob das Strafgericht hinreichend klar gemacht hat, dass es nicht implizit auch über die Schuld des Beschwerdeführers entschieden hat.

68. Im Hinblick auf die Äußerungen des Vorsitzenden Richters bei der mündlichen Verkündung der Gerichtsentscheidung am 17. September 2008 betont der Gerichtshof, dass ihm der exakte Wortlaut dieser Äußerungen nicht vorgelegt wurde. Der Beschwerdeführer verweist lediglich auf einen am 18. September 2008 im Internet veröffentlichten Zeitungsbericht. Er selbst vertrat die Ansicht, dass die anschließende mediale Berichterstattung zu dem Urteil für eine mögliche Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 nicht maßgeblich sei (siehe Rdnr. 49). Auf der Grundlage des ihm vorliegenden Materials kann der Gerichtshof daher nicht feststellen, dass der Vorsitzende Richter Äußerungen getätigt hätte, welche den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hätten. In jedem Fall ging das schriftliche Urteil, das einige Zeit später vorgelegt wurde, diesen Äußerungen vor.

69. Es ist richtig, dass das Gericht in der schriftlichen Fassung des Urteils, das den Angeklagten zugesandt wurde, den vollständigen Namen des Beschwerdeführers verwendete, während in der am 25. November 2008 im Internet veröffentlichten Fassung des Urteils Akronyme verwendet wurden. Der Gerichtshof ist jedoch nicht der Ansicht, dass die Verwendung von Akronymen in der offiziellen Fassung notwendig war, um falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden. Wichtiger ist es, festzuhalten, dass das Gericht, indem es den Beschwerdeführer das ganze Urteil hindurch als „gesondert Verfolgten“ bezeichnete, die Tatsache unterstrichen hat, dass es die Schuld des Beschwerdeführers nicht zu beurteilen hatte, sondern sich entsprechend den Bestimmungen des innerstaatlichen Strafprozessrechts nur mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Personen befasste, die in dem in Rede stehenden Verfahren angeklagt waren. Die rechtliche Würdigung in Teil III des Urteils enthält Anspielungen auf „Hinterleute“, aber keine Äußerung, die als Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers verstanden werden könnte.

70. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass sowohl in den einleitenden Bemerkungen zur Internetveröffentlichung des Urteils als auch im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. September 2009, mit dem die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers abgelehnt wurde, betont wurde, dass es der Unschuldsvermutung entgegenstehen würde, dem Beschwerdeführer irgendeine Schuld zuzuweisen, und dass die Prüfung seiner möglichen Beteiligung an der Straftat dem gegen ihn zu führenden Verfahren vorbehalten sei. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die Gerichte es vermieden haben, den Anschein einer vorzeitigen Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers aufkommen zu lassen, soweit dies im Rahmen eines Urteils möglich war, das mehrere Mitverdächtige betraf, die nicht alle anwesend waren. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main es für den Beschwerdeführer unmöglich macht, in den Rechtssachen, an denen er beteiligt ist, ein faires Verfahren zu erhalten.

71. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die angegriffenen Ausführungen in der Begründung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 17. September 2008 den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht verletzt haben. Folglich ist Artikel 6 Abs. 2 nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Er erklärt die Individualbeschwerde einstimmig für zulässig;

2. er erkennt mit fünf zu zwei Stimmen, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 27. Februar 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                          Mark Villiger
Kanzlerin                                           Präsident

__________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung des Richters Villiger und der Richterin Yudkivska beigefügt.

M.V.
C.W.

GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG
DES RICHTERS VILLIGER UND DER RICHTERIN YUDKIVSKA

Wir bedauern, dass wir uns der Schlussfolgerung der Mehrheit nicht anschließen können. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass die angegriffenen Ausführungen in der Begründung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 17. September 2008 den Grundsatz der Unschuldsvermutung durchaus verletzt haben.

Wie die Mehrheit erkennen wir an, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld eines Angeklagten unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung gesondert verfolgter Mitverdächtiger Bezug nimmt. Der Beschwerdeführer selbst hat eingeräumt, dass derartige Bezugnahmen notwendig sind, um den Sachverhalt einer Rechtssache mit mehreren Angeklagten festzustellen und ihre individuellen Beiträge zur Begehung der Straftat zu bestimmen.

Wir erkennen auch an, dass das Landgericht Frankfurt am Main in dem in Rede stehenden Verfahren die Schuld des Beschwerdeführers nicht zu beurteilen hatte und seine Zuständigkeit entsprechend den Bestimmungen des innerstaatlichen Strafprozessrechts darauf beschränkt war, die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personen zu bewerten, die in dem konkreten, von ihm geführten Verfahren angeklagt waren.

Unseres Erachtens reichen diese Überlegungen jedoch nicht aus, um zu dem Schluss zu kommen, dass die angegriffenen Bezugnahmen auf den Beitrag des Beschwerdeführers zu der untersuchten Straftat die Unschuldsvermutung, einer der wesentlichen in der Konvention verankerten Grundsätze, nicht verletzt hätten.

In diesem Zusammenhang möchten wir an die Rechtsprechung des Gerichtshofs erinnern, wonach bei der Bestimmung, ob eine gerichtliche Entscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers einer vorzeitigen Beurteilung der Schuld einer Person gleichkommt, grundsätzlich unterschieden werden muss zwischen einer Äußerung, nach der jemand nur der Begehung einer Straftat verdächtig ist, und einer eindeutigen Erklärung – jedoch ohne rechtskräftige Verurteilung–, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. Wenngleich die Wortwahl von Amtsträgern in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung ist (siehe u. a. Daktaras ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 42095/98, Rdnr. 41, ECHR 2000‑X), hat der Gerichtshof in seinem aktuellen Urteil in der Rechtssache Allen ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, ECHR 2013) betont, dass selbst ein bisweilen unglücklicher Sprachgebrauch nicht entscheidend sein muss, wenn der Art und dem Kontext des speziellen Verfahrens Rechnung getragen wird (ebenda, Rdnr. 126).

Die Unschuldsvermutung setzt voraus, dass die Handlungen eines Beschuldigten nur von einem Gericht und nur im Rahmen von kontradiktorischen Gerichtsverfahren moralisch und rechtlich bewertet werden dürfen. In der vorliegenden Rechtssache hat das Gericht jedoch in einem gesonderten Verfahren gegen die Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers eine Beurteilung und rechtliche Würdigung seiner Handlungen vorgenommen. Entgegen der Mehrheit sind wir der Auffassung, dass die Bezugnahmen auf die Beteiligung des Beschwerdeführers an dem organisierten Verbrechen und die diesbezüglich vom Landgericht gebrauchte Sprache selbst dann, wenn sie im Rahmen des konkreten Verfahrens betrachtet werden, einer vorzeitigen Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers gleichkamen.

Nicht nur nennt das Landgericht mehrmals den vollständigen Vor- und Nachnamen des Beschwerdeführers, diese Erwähnungen in Verbindung mit den Passagen, in denen der Beitrag der weiteren Täter im Ausland beschrieben wird, lassen zudem eindeutig den Schluss zu, dass die „Hinterleute“ in der Türkei in der kriminellen Vereinigung die Fäden gezogen und der Beschwerdeführer hierbei eine „hervorgehobene Rolle“ gespielt hat.

Somit hat das Landgericht im Laufe des gesondert gegen die Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers geführten Verfahrens festgestellt, dass durch die Handlungen des Beschwerdeführers ein objektiver Tatbestand erfüllt war, obwohl das Gericht in diesem Verfahren lediglich die Aufgabe hatte, festzustellen, ob die Mitbeschuldigten eine Straftat begangen haben. Es stimmt zwar, dass diese Fragen in einem gewissen Umfang miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und Querverweise wie oben ausgeführt unvermeidlich sind. Allerdings war das Gericht nicht verpflichtet, die Rolle des Beschwerdeführers genau zu bestimmen, um festzustellen, inwieweit die Handlungen der Mitbeschuldigten nachweislich begrenzt waren; ein Verweis auf eine mutmaßliche Rolle des gesondert Verfolgten hätte ausgereicht.

Wir möchten in diesem Zusammenhang unterstreichen, dass das Landgericht in dem Urteil dargelegt hat, dass der Sachverhalt – einschließlich der Rolle des Beschwerdeführers – aufgrund der verfügbaren Beweise feststehe (siehe S. 22 des Urteils des Landgerichts). Noch deutlicher kann eine Äußerung nicht sein!

Angesichts dieser Überlegungen sind wir der Ansicht, dass die maßgeblichen Passagen in der Urteilsbegründung nicht auf die Beschreibung einer reinen Verdachtslage gegen den Beschwerdeführer beschränkt waren und folglich über das Maß hinausgingen, das für die Feststellung der Schuld der Verurteilten notwendig war. Sie implizierten vielmehr, dass es das Landgericht für erwiesen ansah, dass der Beschwerdeführer einer der Haupttäter einer gemeinsamen kriminellen Vereinigung war, womit es dem Ausgang von künftigen Strafverfahren gegen ihn vorgriff. Als Ganzes betrachtet mussten die Ausführungenin der Öffentlichkeit den Anschein erwecken, der Beschwerdeführer sei Kopf einer zu betrügerischen Zwecken gegründeten kriminellen Vereinigung – und all das, obwohl der Beschwerdeführer an dem Strafverfahren nicht beteiligt war.

Unseres Erachtens stellt die Darstellung des Beschwerdeführers als „gesondert Verfolgter“ in der Urteilsbegründung diesbezüglich keinen hinreichenden Vorbehalt dar; genauso wenig machen die einleitenden Bemerkungen zu der anschließenden Urteilsveröffentlichung im Internet die vorgreifliche Wirkung der Urteilsbegründung wett.

Wir kommen daher zu dem Schluss, dass die maßgeblichen Passagen des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main insgesamt betrachtet dem Recht des Beschwerdeführers auf Achtung der Unschuldsvermutung zuwiderliefen und Artikel 6 Abs. 2 der Konvention folglich verletzt wurde.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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