ENGWER ./. Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 76871/12

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 76871/12
E. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 25. März 2014 als Ausschuss mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
sowie Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 26. November 2012 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT UND VERFAHREN

Der 19[…] geborene Beschwerdeführer, Herr E., ist deutscher Staatsangehöriger und derzeit in der Justizvollzugsanstalt X inhaftiert. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde wurde er von Herrn S., Rechtsanwalt in W., vor dem Gerichtshof vertreten.Dieser teilte dem Gerichtshof mit Schreiben vom 30. Oktober 2013 mit, dass er den Beschwerdeführer in dem vorliegenden Verfahren nicht mehr vertrete.

Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

Mit seiner Beschwerde rügte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention, dass die nachträgliche Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 und 2 StGB, die am 28. Oktober 2010 vom Landgericht Potsdam erlassen und am 21. Juni 2011 vom Bundesgerichtshof bzw. am 15. Juli 2012 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, sein Recht auf Freiheit und das Verbot der rückwirkenden Bestrafung verletzt habe.

Die Beschwerde wurde der Regierung übermittelt, die ihre Stellungnahme zur Zulässigkeit und Begründetheit am 24. September 2013 in deutscher Sprache und die englische Übersetzung am 28. Oktober 2013 einreichte. In dieser Stellungnahme bestätigte die Regierung die zuvor vom Rechtsanwalt des Beschwerdeführers übermittelte Auskunft, dass das Berliner Landgericht mit Beschluss vom 19. April 2013 die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers für erledigt erklärt und seine Entlassung nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses angeordnet habe. Nach den Informationen, die dem Gerichtshof vorliegen, ist der Beschluss (noch) nicht rechtskräftig geworden, da das Verfahren aufgrund einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin noch beim Berliner Kammergericht anhängig ist.

Die Stellungnahme der Regierung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers mit der Aufforderung übersandt, bis zum 7. November 2013 eine Stellungnahme im Namen des Beschwerdeführers vorzulegen. In seinem Schreiben vom 30. Oktober 2013, in dem er dem Gerichtshof mitteilte, dass er den Beschwerdeführer nicht mehr vertrete, wies der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers darauf hin, dass sich der Beschwerdeführer noch in der Justizvollzugsanstalt X befinde. Mit Schreiben vom 5. November 2013, das an den Beschwerdeführer persönlich an dessen Adresse in der Justizvollzugsanstalt X gesandt wurde, setzte die Kanzlei des Gerichtshofs den Beschwerdeführer von der Mandatsniederlegung seines Rechtsanwalts in Kenntnis. Sie wies den Beschwerdeführer ferner auf den bevorstehenden Ablauf der Frist zur Stellungnahme und auf die Möglichkeit der Verlängerung dieser Frist hin und forderte ihn unter Bezugnahme auf Artikel 36 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs auf, bis zum 26. November 2013 einen neuen Vertreter zu benennen. Das Schreiben der Kanzlei blieb unbeantwortet.

Mit Schreiben vom 10. Dezember 2013, das dem Beschwerdeführer per Einschreiben zugesandt wurde, wurde er nochmals aufgefordert, einen Vertreter zu benennen, und zwar bis spätestens 2. Januar 2014. Ferner wurde ihm mitgeteilt, dass die Frist für die Abgabe seiner Stellungnahme am 7. November 2013 abgelaufen ist. Der Beschwerdeführer wurde darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof zu dem Schluss kommen könnte, dass er an einer Weiterverfolgung seiner Beschwerde nicht mehr interessiert sei, und beschließen könnte, sie im Register zu streichen, wenn er nicht antworten sollte.

Die Bestätigung des Eingangs des Schreibens des Gerichtshofs bei derJustizvollzugsanstalt X (vermutlich unterschrieben von einem Vollzugsbediensteten), erreichte den Gerichtshof am 19. Dezember 2013. Eine Antwort auf das Schreiben des Gerichtshofs ist jedoch ausgeblieben.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

Der Gerichtshof erinnert daran, dass nach seiner Praxis die Nichterfüllung des Erfordernisses der ordnungsgemäßen rechtlichen Vertretung, wie in Artikel 36 Abs. 2 und 4 definiert, zur Einstellung des Verfahrens führen kann (vgl. u.a., Grimaylo ./. Ukraine (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69364/01, 7. Februar 2006; und R.W. ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 37281/05, 14. September 2010).

Der Gerichtshof stellt fest, dass er den Beschwerdeführer zweimal, nämlich am 5. November 2013 und am 10. Dezember 2013, aufgefordert hat, einen Vertreter in dem Verfahren vor dem Gerichtshof zu benennen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer die Schreiben des Gerichtshofs in der Justizvollzugsanstalt X nicht erhalten hat; insbesondere wurde das letzte Schreiben per Einschreiben versandt und ist bei der Justizvollzugsanstalt eingegangen.  Der Beschwerdeführer erwiderte auf keines der Schreiben des Gerichtshofs. Der Gerichtshof sieht daher keinen Grund, von seiner Praxis abzuweichen, die weitere Prüfung einer Beschwerde für nicht mehr gerechtfertigt anzusehen, wenn es der Beschwerdeführer versäumt, einen Rechtsbeistand zu benennen (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention; siehe Grimaylo, a.a.O.; und R.W. ./. Niederlande, a.a.O.

Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass der Umstand, dass ein Beschwerdeführer keine schriftliche Stellungnahme zur Zulässigkeit und Begründetheit der Rechtssache abgibt oder sonstige vom Gerichtshof angeforderte Informationen oder Unterlagen nicht vorlegt, den Schluss rechtfertigen kann, dass er die Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt (siehe u.a. Kazimov ./. Russland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 17645/04, 9. März 2006;O. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9643/04, 7. Dezember 2010; und Gvozden ./. Slowenien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 36344/12, 17. Dezember 2013).

Im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer unter den genannten Umständen auf die Stellungnahme der Regierung bzw. die Schreiben des Gerichtshofs nicht erwidert hat, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass im Sinne von Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention davon ausgegangen werden muss, dass der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt.

Der Gerichtshof stellt ferner gemäß Artikel 37 Abs. 1 in fine fest, dass keine besonderen Umstände hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen anerkannt sind, vorliegen, die eine weitere Prüfung der Beschwerde erfordern würden. Er stellt insbesondere fest, dass die entsprechenden Maßgaben für die Vereinbarkeit der Sicherungsverwahrung nach dem Strafgesetzbuch mit Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention in mehreren aktuelleren Urteilen des Gerichtshofs geklärt worden sind (siehe insbesondere M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, ECHR 2009; B ./.Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61272/09, 19. April 2012; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7345/12, 28. November 2013 (noch nicht endgültig)).

Nach Ansicht des Gerichtshofs sollte die vorliegende Beschwerde in seinem Register gestrichen werden.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

die Beschwerde in seinem Register zu streichen.

Stephen Phillips                                 Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler                             Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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