RECHTSSACHE MÜLLER gegen DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 54963/08

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE M. gegen DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 54963/08)
URTEIL
STRASSBURG
27. März 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache M. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
André Potocki und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 18. Februar 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 54963/08) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr M. („der Beschwerdeführer“), am 3. November 2008 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Frau A. Wittling‑Vogel, Frau K. Behr und Herrn H. J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass die Entscheidungen über seine Anträge auf bedingte Entlassung den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hätten.

4. Am 22. März 2011 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19[…] geboren. Er verbüßt derzeit eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt X.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Am 29. Februar 1984 wurde der Beschwerdeführer festgenommen, nachdem er seine Ehefrau I. M., die ihn kurz zuvor verlassen hatte, erschossen und zwei umstehende Personen verletzt hatte. Am 17. Dezember 1984 verurteilte das Landgericht Frankfurt am Main den Beschwerdeführer wegen Mordes und fahrlässiger Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Seitdem befindet er sich in Haft.

7. Mit Beschluss vom 3. Dezember 1993 stellte das Landgericht Marburg fest, dass eine „besondere Schwere“ der Schuld im Sinne des § 57a StGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) nicht vorliege; demnach gebiete die Schwere der Schuld des Beschwerdeführers keine Vollstreckung der Freiheitsstrafe über 15 Jahre hinaus.

8. Von November 1995 bis März 1997 verbüßte der Beschwerdeführer seine Strafe im offenen Vollzug. Diese Lockerung wurde am 13. März 1997 zurückgenommen, nachdem gegen den Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, weil er verdächtigt wurde, während einer Abwesenheit von der Justizvollzugsanstalt im Januar 1997 eine weibliche Bekannte, Frau J., mittels eines Elektroschockers verletzt zu haben. Am 2. Februar 1999 sprach ihn das Amtsgericht Frankfurt aus tatsächlichen Gründen ohne weitere schriftliche Begründung von dieser ihm zur Last gelegten Tat frei.

B. Frühere Überprüfung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe

9. Am 23. Februar 1999 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung seiner Reststrafe zur Bewährung von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg abgewiesen. Die Kammer war der Auffassung, dass das Amtsgericht Frankfurt den Sachverhalt des Vorfalls vom Januar 1997 nicht hinreichend aufgeklärt habe. Nach Anhörung von Zeugen stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer im Herbst 1995 eine sexuelle Beziehung mit der verheiraten Frau J. eingegangen sei. Als Frau J. im November beschlossen habe, die Beziehung zu beenden, habe der Beschwerdeführer gedroht, ihren Ehemann und ihre Kinder über die außereheliche Beziehung zu informieren. Die Kammer war aufgrund mehrerer Zeugenaussagen auch davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer Frau J. am Abend des 10. Januar 1997 angegriffen habe. Sie hielt das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe sich zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Vorfalls nicht in Frankfurt aufgehalten, nicht für glaubwürdig.

10. Im Hinblick auf die Prognoseentscheidung lautet der Beschluss wie folgt:

„Die Kammer ist überzeugt, dass von [dem Beschwerdeführer] weiterhin schwerwiegende Gefahren für Leib und Leben anderer ausgehen. Das jetzt festgestellte Geschehen weist bemerkenswerte Parallelen zu der Tat an I. M. auf. Beide Frauen hat der Verurteilte in seiner Jugend kennengelernt. …Beide Taten – wobei die genaue strafrechtliche Einordnung der jetzt festgestellten Vorfälle für die Prognosefrage unerheblich ist – haben eine jahrelange Vorgeschichte, in der sich Täter und Opfer gleichermaßen intensiv in ihren Gefühlen aufeinander bezogen haben. Mit beiden Frauen hat der Verurteilte tiefgreifende gemeinsame Lebensträume entwickelt, beide Mal wurde er darin enttäuscht, und beide Mal war für die Frauen ausschlaggebend, dass sie sich von ihm ab und anderen Männern zugewandt haben … Der Verurteilte hat gegenüber beiden Frauen keine klare Position zur Trennung beziehen können. Er hat zwischen aggressiven Akten und Drohungen einerseits und bittendem Verhalten andererseits geschwankt. Dabei zeigten seine gewaltsamen Handlungen beidemal ein mit eher geringfügiger Aggression beginnendes Muster, das sich im Verlaufe der offensichtlich als tiefe … Kränkung … empfundenen Krise steigert. … Wie damals hat er auch jetzt sowohl Gewalt wie auch der Tendenz nach suizidale Überlegungen angekündigt. …Es mag wohl sein, dass bislang eine ernstliche Gefahr für Frau J. noch nicht bestanden hat, weil der Verurteilte sich noch in einem Stadium befand, in dem er sich noch Grenzen setzen konnte. Dass er sich auch künftig darin bewegen kann, hält die Kammer derzeit für im höchsten Maße zweifelhaft.“

Die Kammer merkte weiter an, dass der psychologische Sachverständige Professor F. dem Beschwerdeführer in einem am 7. September 1994 erstellten Gutachten eine günstige Legalprognose attestiert habe. Diese Feststellungen seien jedoch durch die jetzt festgestellten Ereignisse hinfällig geworden. Die Kammer vertrat schließlich die Auffassung, dass die Tatsache, dass der Verurteilte in dem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Frankfurt freigesprochen worden sei, sie nicht daran hindere, eine eigene Sachverhaltsaufklärung vorzunehmen, da das Amtsgericht Frankfurt die Sache nicht hinreichend überzeugend aufgeklärt habe.

11. Am 28. Juni 1999 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers. Das Gericht war der Auffassung, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung die Strafvollstreckungskammer nicht daran hindere, den für die Prognose maßgeblichen Sachverhalt eigenverantwortlich aufzuklären.

12. Am 11. Oktober 2001 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ab. Am 16. Oktober 2001 legte der Beschwerdeführer eine Individualbeschwerde (Nr. 5598/02) beim Gerichtshof ein, in der er die Fortdauer seiner Freiheitsentziehung rügte. Am 6. April 2004 erklärte ein aus drei Richtern bestehender Ausschuss die Beschwerde für unzulässig.

13. Zwischen Februar 2001 und November 2006 stellte der Beschwerdeführer vier weitere Anträge auf Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe, die von den innerstaatlichen Gerichten ebenfalls abgewiesen wurden.

14. Seit 2002 wurden dem Beschwerdeführer wieder Vollzugslockerungen wie begleiteter Ausgang und Therapie gewährt. Weitere Vollzugslockerungen wurden nicht gewährt, weil das Hessische Justizministerium am 13. Januar 2004 einen entsprechenden Vorschlag der Justizvollzugsanstalt ablehnte.

C. Das in Rede stehende Verfahren

15. Nach Anhörung des Beschwerdeführers lehnte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel mit Beschluss vom 4. September 2007 dessen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe zu Bewährung ab. Das Gericht befand, dass keine reale Chance bestehe, dass der Beschwerdeführer nach seiner Entlassung nicht wieder straffällig werden würde. Diese Ansicht stützte sich auf das von Professor K. am 20. April 2007 erstattete psychiatrische Sachverständigengutachten, in dem festgestellt worden war, dass die Gefährlichkeit bei dem Beschwerdeführer fortbestehe. Das Landgericht hat außerdem Folgendes festgestellt:

“Anderenfalls war hierbei jedoch zu berücksichtigen, dass auch nach den Ausführungen des Gutachters in der Person des Verurteilten Risikofaktoren festgestellt wurden, die eine uneingeschränkt positive Sozial- und Legalprognose …erschweren. Diese Risikofaktoren ergeben sich zum einen daraus, dass der Verurteilte sich nach der Tat nicht mit seinem eigenen Tun auseinandergesetzt hat und weder seine eigene Schuld eingeräumt noch Mitleid mit den Opfern gezeigt hat. Bei ihm besteht nach Auffassung des Sachverständigen eine massive infantile Egozentrik, die sich in einer ausgeprägten Rechthaberei widerspiegelt. Zwar führe dies nicht notwendig zur Begehung weiterer Straftaten. Doch zeige die Straftat zum Nachteil der Frau J., dass der Verurteilte geneigt und imstande sei, wieder Beziehungen zu Frauen einzugehen und dass es bei Trennungen zu Gewalttaten aus gekränkter Eitelkeit komme. Seine Problematik bestehe darin, dass er auβerstande sei, sich mit seinen eigenen Schwächen, aber auch mit seinen eigenen katastrophalen Handlungen auseinanderzusetzen und diesen gegenüber einen reifen, erwachsenen Standpunkt zu gewinnen.“

16. Das Landgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass es nicht erforderlich sei, weitere Sachverständigengutachten einzuholen. Es stellte in diesem Zusammenhang fest, dass es zu den Aufgaben eines Sachverständigen gehöre, einen Sachverhalt aus seiner medizinischen Betrachtungsweise zu würdigen, um zu dem bei ihm in Auftrag gegebenen Prognosegutachten zu gelangen. Das Gericht stellte fest, dass das mit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verbundene Risiko erst bei feststehender Einhaltung der Normen durch den Beschwerdeführer und einer längeren Erprobung seines Verhaltens im Rahmen von Vollzugslockerungen, insbesondere innerhalb eines offenen Vollzugs, verantwortet werden könne. Dabei stellte das Gericht auch positiv fest, dass der Beschwerdeführer nunmehr kooperiere und deshalb im September 2007 eine Einzeltherapie begonnen werden solle.

17. Am 13. September 2007 legte der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts sofortige Beschwerde ein. Er trug u. a. vor, er habe die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, auf die sich das Landgericht in seinem Beschluss berufen habe, nicht erhalten und seine Rechte aus Artikel 6 Abs. 2 der Konvention seien verletzt, weil das Landgericht seine Entscheidung auf den angeblichen Vorfall mit J. gestützt habe, obwohl er diesbezüglich von allen ihm zur Last gelegten Tatvorwürfen freigesprochen worden sei. Er führte ferner aus, dass die Entscheidung nicht darauf beruhen könne, dass Vollzugslockerungen nicht gewährt worden seien; das Gericht sei im Übrigen verpflichtet sicherzustellen, dass geeignete Maßnahmen getroffen würden.

18. Am 9. Oktober 2007 wies das Oberlandesgericht Frankfurt die Beschwerde ab. Das Oberlandesgericht stützte seine Entscheidung auf das Gutachten des Sachverständigen und wies darauf hin, dass dieser u. a. dargelegt habe, dass der Mord des Beschwerdeführers an seiner Ehefrau und der Vorfall mit J., so wie sie das Landgericht und das Oberlandesgericht in ihren bisherigen Entscheidungen zugrunde gelegt hätten, zeigten, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf Frauen davon ausgehe, nach eigenem Gutdünken sein „Recht“ exekutieren zu können. Er habe immer noch keinen Blick für seine eigenen Schwächen und kein Konzept dafür, wie er in Zukunft kritische Situationen vermeiden oder bewältigen wolle. Das Oberlandesgericht kam mit Blick auf seine früheren Entscheidungen aus den Jahren 1999, 2001 und 2005 zu dem Schluss, dass die Umstände sich nicht entscheidend geändert hätten. Der Mord an seiner Ehefrau sei nicht durch äußere Umstände, sondern durch die Persönlichkeit des Beschwerdeführers ausgelöst worden. Da die kriminogene Struktur seiner Persönlichkeit unverändert geblieben sei, sei sein beanstandungsfreies Verhalten allenfalls von untergeordneter prognostischer Relevanz.

19. Das Oberlandesgericht stellte fest, es sei rechtmäßig gewesen, dass die Strafvollstreckungskammer den Vorfall mit Frau J. eigenverantwortlich aufgeklärt habe, da dies für die Prognose relevant gewesen sei. Demzufolge habe der Sachverständige die diesbezüglichen Feststellungen der Strafvollstreckungskammer seiner prognostischen Einschätzung zugrunde legen dürfen. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts, das auf seine Vorentscheidungen verwies, lag hierin kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. In Anbetracht des Fortbestehens der Gefahr, dass der Beschwerdeführer in einer Situation, die mit der, die bei der Anlasstat vorgelegen habe, vergleichbar sei, weitere Gewaltdelikte begehen könnte, war das Oberlandesgericht der Auffassung, dass es nicht vertretbar sei, das mit einer Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe verbundene Risiko einzugehen.

20. Am 19. Oktober 2007 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Er brachte insbesondere die Frage der Unschuldsvermutung vor und machte ferner eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör geltend, weil er die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft nicht erhalten habe.

21. Am 6. Februar 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde für unzulässig; der Beschwerdeführer habe den Rechtsweg nicht erschöpft, weil er keine Anhörungsrüge erhoben habe.

22. Am 19. März 2008 wies das Landgericht Kassel den Antrag des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör mit der Begründung zurück, dass dem Beschwerdeführer und seinem Anwalt in einer Anhörung der Inhalt der Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft und der Justizvollzugsanstalt bekannt gegeben worden sei. Überdies sei die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 12. Juli 2007 zur Stellungnahme zugeleitet worden. Am 5. Juni 2008 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt die Beschwerde des Beschwerdeführers aus denselben Gründen.

23. Am 18. Juli 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die am 12. Mai 2008 erhobene weitere Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 9. Oktober 2007 und den Beschluss des Landgerichts Kassel vom 4. September 2007 zur Entscheidung anzunehmen. Diese Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 29. Juli 2008 zugestellt.

D. Weitere Entwicklungen

24. Am 21. Januar 2013 lehnte es das Landgericht[1]Marburg ab, den Beschwerdeführer auf Bewährung zu entlassen, und leitete gleichzeitig eines neues Verfahren zur Prüfung der Fortdauer seiner Haft ein. Am 28. Mai 2013 bestätigte das Oberlandesgericht Frankfurt diese Entscheidung.

25. Bis Juli 2013 unterzog sich der Beschwerdeführer einer Therapie. Zur Teilnahme an den Therapiestunden erhielt er Ausgang. Ab März 2013 erhielt er zusätzlich ein- bis zweimal pro Woche Ausgang. Seit dem 23. Oktober 2013 verbüßt der Beschwerdeführer seine Strafe im offenen Vollzug.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

26. Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lauten wie folgt:

§ 57

Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe

„(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1. zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,

2. dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und

3. die verurteilte Person einwilligt.

Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.“

§ 57a

Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe

„(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1. fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind,

2. nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet und

3. die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 vorliegen.

§ 57 Abs. 1 Satz 2 … gilt entsprechend.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 2 DER KONVENTION

27. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Entscheidungen des Landgerichts Kassel vom 4. September und des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 9. Oktober 2007 nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hätten; Artikel 6 Abs. 2 lautet wie folgt:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

28. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

29. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Entscheidungen des Landgerichts Kassel vom 4. September und des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 9. Oktober 2007 nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hätten; Artikel 6 Abs. 2 lautet wie folgt:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

1. Die Stellungnahme der Regierung

30. Die Regierung trug zunächst vor, dass der Beschwerdeführer nicht alle einschlägigen Unterlagen innerhalb der Sechs-Monats-Frist vorgelegt habe. Insbesondere habe er keine Abschriften der Entscheidung des Landgerichts Marburg vom 23. Februar 1999 und des Sachverständigengutachtens vom 20. April 2007 vorgelegt. Die Regierung war der Auffassung, dass es sachgerecht gewesen wäre, die Beschwerde gemäß Artikel 47 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht zu prüfen.

31. Die Regierung brachte weiter vor, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung auf das vorliegende Verfahren nicht anwendbar sei, da der Beschwerdeführer keiner Straftat angeklagt worden sei und es in dem Verfahren nicht um die Feststellung seiner Schuld gehe. Bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 57a Abs. 1 StGB müsse die Strafvollstreckungskammer eine eigene Prognose über die Gefährlichkeit des Verurteilten erstellen.

2. Die Vorbringen des Beschwerdeführers

32. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass Art. 6 Abs. 2 der Konvention in der vorliegenden Rechtssache anwendbar sei. Die Unschuldsvermutung gelte nicht nur, bis das Urteil ergangen sei, sondern verpflichte die innerstaatlichen Gerichte auch, bei ihren zukünftigen Entscheidungen zu beachten, dass der Beschwerdeführer von den gegen ihnerhobenen Tatvorwürfen frei gesprochen worden sei.

3. Würdigung durch den Gerichtshof

33. Der Gerichtshof weist eingangs darauf hin, dass der Beschwerdeführer seine Beschwerde innerhalb der Sechs-Monats-Frist eingelegt (Artikel 35 Abs. 1 der Konvention) und alle von der Kanzlei angeforderten Unterlagen eingereicht hat. Folglich ist diese Beschwerde nicht wegen Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist unzulässig.

34. In der Rechtssache Allen ./. Vereinigtes Königreich([GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09 [GK], Rdnrn. 95-102, ECHR 2013) hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention unlängst zusammengefasst. Der Gerichtshof hat insbesondere seine frühere Auffassung bestätigt, nach der Artikel 6 Abs. 2 nicht nur auf anhängige Verfahren, in denen über eine strafrechtliche Anklage entschieden wird, anwendbar ist, sondern auch nach Abschluss eines Strafverfahrens anwendbar bleibt, damit sichergestellt ist, dass hinsichtlich jedes nicht bewiesenen Vorwurfs die Unschuld der in Rede stehenden Person beachtet wird. Wann immer sich die Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention im Zusammenhang mit nachfolgenden Verfahren stellt, muss der Beschwerdeführer nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen dem abgeschlossenen Strafverfahren und dem nachfolgenden Verfahren besteht (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 104; vgl. auch Sekanina ./. Österreich, 25. August 1993, Rdnr. 22, Serie A Band 266‑A und Yassar Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8866/04, Rdnr. 19, ECHR 2006‑III). Der Gerichtshof hat die Auffassung vertreten, dass ein solcher Zusammenhang wahrscheinlich dann vorliegt, wenn das nachfolgende Verfahren es erfordert, das Ergebnis des vorherigen Strafverfahrens zu prüfen und, insbesondere, einzuschätzen, in welchem Maß der Beschwerdeführer an einigen oder allen Geschehnissen, die zu der strafrechtlichen Anklage führten, beteiligt war (siehe Allen, a.a.O.).

35. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer verdächtigt wurde, während einer Abwesenheit von der Justizvollzugsanstalt im Januar 1997 eine weibliche Bekannte verletzt zu haben. Im Februar 1999 sprach ihn das Amtsgericht Frankfurt aus tatsächlichen Gründen ohne weitere schriftliche Begründung von diesem Vorwurf frei. Im Jahr 2007 waren die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel und das Oberlandesgericht Frankfurt der Auffassung, dass die Umstände des angeblichen Vorfalls vom Januar 1997 für die Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Strafaussetzung zur Bewährung von Belang seien. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass zwischen dem 1999 mit Freispruch beendeten Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer und dem Verfahren über seinen Antrag auf Strafaussetzung zur Bewährung ein hinreichender Zusammenhang besteht und das Verfahren somit in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention fällt.

36. Daraus folgt, dass die Rüge des Beschwerdeführers nicht ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention nicht offensichtlich unbegründet und auch aus anderen Gründen nicht unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Vorbringen des Beschwerdeführers

37. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte, insbesondere die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg in ihrer Entscheidung vom 23. Februar 1999, angenommen hätten, er habe die Straftat, derer er 1997 angeklagt worden sei, begangen, obwohl er diesbezüglich von allen Tatvorwürfen freigesprochen worden sei. Daher habe dieses Gericht die Unschuldsvermutung nicht beachtet. Bei allen weiteren Entscheidungen über seine Anträge auf Aussetzung der weiteren Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung sei von der Annahme ausgegangen worden, er habe die Tat, derer er 1997 angeklagt worden sei, begangen, wodurch die Verletzung seiner Konventionsrechte fortgesetzt worden sei.

38. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Strafvollstreckungskammer habe die Hauptverhandlung vor dem Tatgericht neu durchgeführt. Der Strafvollstreckungskammer stehe es jedoch nicht zu, über seine Schuld zu entscheiden. Außerdem habe er nicht die Verfahrensrechte genossen, die er vor einem Tatgericht gehabt hätte. Im Gegensatz zur Hauptverhandlung in einem Strafverfahren sei die Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer nicht öffentlich. Darüber hinaus stehe ihm dort nicht das förmliche Recht zu, die Aufnahme weiterer Beweise zu beantragen. Daher sei es nicht erstaunlich, dass die Strafvollstreckungskammer zu einem anderen Ergebnis als das Tatgericht gekommen sei.

39. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass die Situation mit der vergleichbar sei, die der Gerichtshof in der Rechtssache B. ./. Deutschland untersucht habe (Individualbeschwerde Nr. 37568/97, 3. Oktober 2002).In beiden Fällen habe ein anderes Gericht als das zuständige Tatgericht die Funktionen des Tatgerichts übernommen. Es treffe zu, dass es in der vorliegenden Rechtssache nicht erforderlich gewesen sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer erneut eine Straftat begangen habe. Die Strafvollstreckungskammer habe jedoch angenommen, dass eine neue Straftat begangen worden sei.

40. Der Beschwerdeführer trug weiter vor, dass die Strafvollstreckungskammer ihre Entscheidung, die Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu gewähren, ausschließlich auf die Annahme gestützt habe, er habe die Straftat, derer er 1997 angeklagt worden war, begangen, da alle weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für die Strafaussetzung zur Bewährung erfüllt worden seien. Er betonte insbesondere, er habe 15 Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt, ihm seien Vollzugslockerungen gewährt worden und die 1994 erstellte Legalprognose sei positiv ausgefallen.

2. Die Stellungnahme der Regierung

41. Die Regierung brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die Unschuldsvermutung durchaus beachtet hätten. Bei einer Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 57a Abs. 1 StGB müsse die Strafvollstreckungskammer eine eigene Prognose über die Gefährlichkeit des Verurteilten erstellen.

42. Nach Auffassung der Regierung unterschied sich der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache beträchtlich von dem, den der Gerichtshof in der Rechtssache B. (a.a.O.) zu beurteilen hatte. In der Rechtssache B. sei es um den Bewährungswiderruf gegangen, der gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften erfordere, dass die verurteilte Person während der Bewährungsfrist eine Straftat begangen habe. In jener Rechtssache habe der Gerichtshof eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung festgestellt, da die Strafvollstreckungskammer, obwohl es kein entsprechendes Strafurteil gegeben habe, davon ausgegangen sei, dass der Beschwerdeführer eine neue, den Bewährungswiderruf rechtfertigende Straftat begangen habe. Hingegen habe das Gericht in der vorliegenden Rechtssache nicht die Aufgabe gehabt festzustellen, ob der Beschwerdeführer eine neue Straftat begangen habe, sondern in eigener Verantwortung eine Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers durchführen müssen. Hieraus ergebe sich, dass die in der Rechtssache B. aufgestellten Regeln nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden könnten.

43. Unabhängig hiervon sei die Unschuldsvermutung nicht missachtet worden, da die Strafvollstreckungskammer sich nicht mit der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers befasst und ihm nicht vorgeworfen habe, erneut eine Straftat begangen zu haben. Die Kammer sei unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung des Vorfalls und auch schon allein aufgrund des von dem Beschwerdeführer selbst eingeräumten Verhaltens der Auffassung gewesen, der Beschwerdeführer sei so gefährlich, dass eine vorzeitige Entlassung nicht verantwortet werden könne.

44. Die Regierung brachte vor, dass die Strafvollstreckungskammer nicht an die Feststellungen des Amtsgerichts Frankfurt, das den Beschwerdeführer hinsichtlich des angeblichen Vorfalls vom 10. Januar 1997 freigesprochen habe, gebunden gewesen sei, da es über eine vollkommen andere Frage zu entscheiden gehabt habe. Das Tatgericht habe allein über den strafrechtlichen Aspekt des Vorfalls zu entscheiden gehabt. Hingegen habe die Strafvollstreckungskammer beurteilen müssen, ob und in welchem Umfang der Beschwerdeführer künftig gefährlich sein würde. Für diese Einschätzung sei das gesamte Verhalten des Beschwerdeführers nach der Trennung von Frau J. relevant gewesen.

45. Die Regierung bestritt, dass die Entscheidungen über die weiteren Anträge des Beschwerdeführers lediglich einen Fehler der Strafvollstreckungskammer aus dem Jahr 1999 fortgeschrieben hätten. Die nachfolgenden Verfahren hätten sich auf neue Einschätzungen der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers gestützt.

3. Würdigung durch den Gerichtshof

46. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 eines der Merkmale eines fairen Strafverfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 darstellt. Sie wird verletzt, wenn die Äußerung eines Amtsträgers, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, die Auffassung widerspiegelt, sie sei schuldig, sofern diese Person nicht entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen schuldig gesprochen worden ist. Aus der Rechtsprechung, wie sie der Gerichtshof in der Rechtssache Allen (a.a.O., Rdnrn. 120-124) geprüft hat, geht hervor, dass es keine einheitliche Vorgehensweise zur Bestimmung der Umstände gibt, unter denen diese Vorschrift im Rahmen von auf den Abschluss des Strafverfahrens folgenden Verfahren verletzt wird. Wie in der vorhandenen Rechtsprechung des Gerichtshofs dargelegt, kommt es in hohem Maße auf die Art und den Kontext des Verfahrens an, in dem die angegriffene Entscheidung erging (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 125, und Yassar Hussain, a.a.O., Rdnr. 19). Darüber hinaus ist die von der entscheidenden Person verwendete Sprache bei der Beurteilung der Frage, ob die Entscheidung und ihre Begründung mit Artikel 6 Abs. 2 vereinbar sind, von entscheidender Bedeutung (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 126, sowie die weitere darin zitierte Rechtsprechung). Wenn der Art und dem Kontext des speziellen Verfahrens Rechnung getragen wird, muss jedoch selbst ein bisweilen unglücklicher Sprachgebrauch nicht entscheidend sein. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich einige Beispiele dafür, dass keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 festgestellt wurde, obwohl der Sprachgebrauch der innerstaatlichen Behörden und Gerichte kritisiert wurde (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 126; A.L. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 72758/01, Rdnrn. 39-39, 28. April 2005 und Reeves ./. Norwegen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 4248/02, 8. Juli 2004).

47. Was die Umstände des vorliegenden Falles angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Beschwerdeführer wegen der Erschießung seiner Ehefrau im Jahr 1984 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Im Januar 1997 wurde der Beschwerdeführer verdächtigt, während einer Abwesenheit von der Justizvollzugsanstaltim Januar 1997 eine weibliche Bekannte, Frau J., verletzt zu haben. Am 2. Februar 1999 sprach ein Tatgericht ihn diesbezüglich von sämtlichen Tatvorwürfen frei. Nachdem er 15 Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt hatte, kam eine Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht; Voraussetzung hierfür war, dass dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden konnte (vgl. §§ 57 und 57a StGB, Rdnr. 26).

48. Der Gerichtshof weist weiter darauf hin, dass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg nach einer Zeugenanhörung am 23. Februar 1999 die Auffassung vertrat, dass der angebliche Vorfall im Januar 1997 stattgefunden habe. Die Strafvollstreckungskammer befand, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Parallelen zwischen seinem Verhalten gegenüber Frau J. und dem Verhalten, dass er gegenüber seiner Frau an den Tag gelegt habe, bevor er sie 1984 erschossen habe, weiterhin gefährlich sei, und wies seinen Antrag auf Strafaussetzung zur Bewährung zurück. Am 4. September 2007 war die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel, die sich bei der Prüfung auf ein neues Sachverständigengutachten stützte, der Auffassung, es bestehe immer noch keine realistische Chance, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung nicht rückfällig werde. Das Landgericht nahm die Ausführungen des Sachverständigen zur Kenntnis, nach denen „die Straftat zum Nachteil von Frau J. zeige, dass [der Beschwerdeführer] geneigt und imstande sei, wieder Beziehungen zu Frauen einzugehen und dass es bei einer Trennung zu Gewalttaten aus gekränkter Eitelkeit komme“ (siehe Rdnr. 15). Am 28. Mai 2013 bestätigte das Oberlandesgericht Frankfurt diese Entscheidung.

49. Hinsichtlich des Umfangs der vorzunehmenden Prüfung stellt der Gerichtshof fest, dass sich die vorliegende Beschwerde unmittelbar nur auf die Entscheidungen des Landgerichts Kassel vom 4. September 2007 und des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 9. Oktober 2007 bezieht. Die Entscheidungen über die früheren Anträge des Beschwerdeführers auf Strafaussetzung zur Bewährung, insbesondere die Entscheidung des Landgerichts Marburg vom 23. Februar 1999, sind nur insofern von Bedeutung, als sie den Kontext für die vorgenannten Entscheidungen bilden.

50. Hinsichtlich der Art der angegriffenen Entscheidung und des Kontextes, in dem sie erging, stellt der Gerichtshof fest, dass die Strafvollstreckungskammer nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen hatte, ob die Entlassung des Beschwerdeführers auf Bewährung die öffentliche Sicherheit gefährden würde. Zu diesem Zweck hatte die Kammer u. a.das Verhalten des Beschwerdeführers im Vollzug zu berücksichtigen. Die von der Strafvollstreckungskammer vorgenommene Untersuchung des Verhaltens des Beschwerdeführers nach seiner Trennung von Frau J. erfolgte in diesem Rahmen. Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das Landgericht Marburg in seiner Entscheidung vom 23. Februar 1999 ausdrücklich feststellte, dass die strafrechtliche Einordnung des angeblichen Vorfalls für die vorzunehmende Prognoseentscheidung irrelevant sei (siehe Rdnr. 10). Angesichts dessen ist der Gerichtshof nicht der Auffassung dass die Strafvollstreckungskammer a priori daran gehindert war, gewisse Fakten, die 1999 von dem Strafgericht zu beurteilen waren, bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.

51. Hinsichtlich des Sprachgebrauchs der Strafvollstreckungskammer stellte der Gerichtshof fest, dass das Landgericht Kassel, in der deutschen Originalfassung, den Konjunktiv benutzte, der die indirekte Rede kennzeichnen soll. Damit ist klar, dass die Erwähnung der „Straftat zum Nachteil von Frau J.“ nicht Teil der eigenen Argumentation des Landgerichts Kassel, sondern Teil der Zusammenfassung des von Prof. K. am 20. April 2007 vorgelegten Gutachtens war (siehe Rdnr. 15). Es trifft zu, dass sich das Landgericht nicht ausdrücklich von der Formulierung des Sachverständigen distanzierte, der jedoch die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers überhaupt nicht zu beurteilen hatte. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass es klüger gewesen wäre, wenn das Landgericht sich entweder klar von den missverständlichen Aussagen des Sachverständigen distanziert oder diesen sogar angewiesen hätte, keine unerbetenen Aussagen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers zu machen, um der fälschlichen Annahme, dass Fragen von Schuld und Unschuld für das in Rede stehende Verfahren in irgendeiner Weise relevant seien, vorzubeugen (siehe sinngemäß Adams ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 70601/11, Rdnr. 41, 12. November 2013; und A. L. F. ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 5908/12, Rdnr. 24, 12. November 2013).

52. Dennoch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass aus der vom Landgericht in dem vorliegenden Fall verwendeten Formulierung hinreichend klar hervorgeht, dass es sich bei dem angegriffenen Satz um ein direktes Zitat aus dem Sachverständigengutachten handelte und dass die Erwähnung im Nachgang zu der Analyse erfolgte, die die Strafvollstreckungskammer im Jahr 1997 vorgenommen hatte. Weder das Landgericht Kassel noch das Oberlandesgericht Frankfurt führten aus, dass der Beschwerdeführer sich einer neuen Straftat schuldig gemacht habe; sie stützten lediglich ihre Prognose zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers auf die Einschätzung, dass sein Verhalten gegenüber seiner Bekannten Frau J. Ähnlichkeiten mit seinem Verhalten vor dem Mord an seiner Frau aufweise. Darüber hinaus stellte das Landgericht ausdrücklich fest, dass es zu den Aufgaben des Sachverständigen gehöre, einen Sachverhalt aus seiner medizinischen Betrachtungsweise zu würdigen. Nach Auffassung des Gerichtshofs lässt sich, wenn man den Text genau liest, ausschließen, dass er so verstanden werden kann, als berühre er den Ruf des Beschwerdeführers und die Art und Weise, in der dieser von der Öffentlichkeit wahrgenommen werde (vgl. Allen, a.a.O., Rdnr. 94).

53. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache B. unterscheidet. In der letztgenannten Rechtssache widerrief die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung der ursprünglichen Strafe von Herrn B. mit der Begründung, er habe während der Bewährungszeit eine weitere Straftat begangen, obwohl er dieser angeblichen Straftat nicht schuldig gesprochen worden war.Die maßgeblichen Rechtsvorschriften erforderten ausdrücklich, dass die Gerichte ihre Beurteilung auf die Feststellung stützten, die betreffende Person habe während der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen (siehe B., a.a.O., Rdnr. 63). Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention fest, weil die Strafvollstreckungskammer unmissverständlich erklärt hatte, der Beschwerdeführer habe sich einer Straftat schuldig gemacht, obwohl er für diese Straftat nicht verurteilt worden war (siehe B., a.a.O., Rdnrn. 65 und 70). Umgekehrt ist es nach den in dem vorliegenden Fall anwendbaren Rechtsvorschriften nicht erforderlich, dass die Strafvollstreckungskammer feststellt, dass der Beschwerdeführer eine neue Straftat begangen hat. Hieraus ergibt sich, dass die in der Rechtssache B. aufgestellten Regeln in dem vorliegenden Fall nicht anwendbar sind.

54. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nach Rechtsprechung des Gerichtshof selbst ein bisweilen unglücklicher Sprachgebrauch angesichts der Art und des Kontextes des betreffenden Verfahrens nicht entscheidend sein muss (siehe Rdnr. 46 in fine), ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass die Strafvollstreckungskammer das Recht des Beschwerdeführers auf Beachtung der Unschuldsvermutung bezüglich des Vorwurfs, von dem er freigesprochen wurde, bei ihrer Entscheidung über seinen Antrag auf Strafaussetzung zur Bewährung nicht außer Acht gelassen hat.

55. Folglich ist Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht verletzt worden.

II. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN

56. Unter Bezugnahme auf die Artikel 6 und 14 der Konvention sowie auf Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention rügte der Beschwerdeführer darüber hinaus, dassdas Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer unfair gewesen und dass er benachteiligt worden sei. Darüber hinaus rügte der Beschwerdeführer nach Artikel 5 der Konvention die Fortdauer seiner Freiheitsentziehung. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof allerdings fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

57. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF

1. einstimmig, die Rüge nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig zu erklären;

2. mit fünf zu zwei Stimmen, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 27. März 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                     Mark Villiger
Kanzlerin                                                      Präsident

___________

Gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die persönliche Meinung von Richter De Gaetano, der sich Richterin Yudivska angeschlossen hat, beigefügt.

M.V.
C.W.

TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG VON RICHTER DE GAETANO; DER SICH RICHTERIN YUDIVSKA ANGESCHLOSSEN HAT

1. Ich kann mich der Auffassung der Mehrheit, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention in dem vorliegenden Fall nicht verletzt worden ist (Punkt 2 des Urteilstenors), leider nicht anschließen.

2. In der Darlegung meiner (zustimmenden) persönlichen Meinung in der Rechtssache Allen ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, ECHR 12. Juli 2013) hatte ich bereits Gelegenheit, meine Bedenken hinsichtlich der Frage des Sprachgebrauchs in ähnlichen Fällen – insbesondere wenn es sich bei dem auf den Freispruch des Beschwerdeführers folgenden Verfahren um ein Zivilverfahren wegen einer Entschädigungsforderung, die aus demselben Sachverhalt resultiert wie die strafrechtliche Anklage – zu äußern. Zwar ist klar, dass die bloße Feststellung einer Entschädigungspflicht in einem solchen späteren Zivilverfahren nicht per se eine Frage nach Artikel 6 aufwerfen kann, da man derartige zivilrechtliche Haftungsklagen sonst abschaffen müsste – ein Argument, das erst kürzlich in der Rechtssache Vella ./. Malta (Individualbeschwerde Nr. 69122/10, 11. Februar 2014, Rdnr. 60) vorgebracht wurde – so bleibt es doch dabei, dass das Problem dadurch, dass man zunächst von einem „unglücklichen Sprachgebrauch“ spricht und dann zwischen einem unglücklichen Sprachgebrauch, durch den die Unschuldsvermutung verletzt wird, und einem unglücklichen Sprachgebrauch, durch den sie nicht verletzt wird, unterscheidet, in den Bereich des Aleatorischen abgeschoben wird.

3. In dem vorliegenden Fall handelte es sich bei dem in Rede stehenden Verfahren nicht um ein Zivilverfahren, sondern um ein Nebenverfahren zur Entscheidung darüber, ob die Strafvollstreckung auszusetzen und der Beschwerdeführer auf Bewährung zu entlassen war (siehe Rdnrn. 9 und 15 des Urteils). In diesem Sinne könnte man sagen, dass dieses Verfahren eng mit dem Strafverfahren im Zusammenhang steht. Man hätte erwartet, dass das Landgericht bei der Prüfung des Verhaltens des Beschwerdeführers nach seiner Verurteilung extrem vorsichtig vorgeht und nicht auch nur annähernd suggeriert, dass der Beschwerdeführer die Tat gegen Frau J. tatsächlich begangen hat. Tatsächlich jedoch haben die Gerichte nicht nur einmal, sondern sogar zweimal suggeriert, dass die Tat des Beschwerdeführers zum Nachteil von Frau J. tatsächlich begangen wurde, nämlich in der Entscheidung vom 23. Februar 1999 (Landgericht Marburg, siehe Rdnr. 9) und in der Entscheidung vom 4. September 2007 (Landgericht Kassel, siehe Rdnr. 15). Was die erste Entscheidung betrifft (die, wie betont werden muss, im Urteil nur als Hintergrund der Rechtssache erwähnt wird; die für die Zwecke des vorliegenden Urteils „beanstandeten“ Entscheidungen sind die vom September und Oktober 2007), so hat das Landgericht Marburg, obwohl es ausführte, dass der Beschwerdeführer Frau J. am Abend des 10. Januar 1997 angegriffen habe (und dabei sogar noch den Ausdruck „Täter“ verwendete) dadurch, dass es die oberflächliche Formulierung „wobei die genaue strafrechtliche Einordnung der jetzt festgestellten Vorfälle […] unerheblich ist“ verwendete, zumindest noch versucht, den Sachverhalt zu „entkriminalisieren“ (siehe Rdnr. 10). Dagegen gab das Landgericht Kassel in seiner Entscheidung vom 4. September 2007 ohne jegliche Bedenken, Vorbehalte oder Kritik die Auffassung des Sachverständigen wieder, nach der „die Straftat zum Nachteil von Frau J. zeige, dass [der Beschwerdeführer] geneigt und imstande sei, wieder Beziehungen zu Frauen einzugehen und dass es bei einer Trennung zu Gewalttaten aus gekränkter Eitelkeit komme …“ (siehe Rdnr. 15). Weder das Landgericht Kassel noch das Oberlandesgericht Frankfurt (Entscheidung vom 9. Oktober 2007, siehe Rdnrn. 18 und 19) versuchten, sich von dieser klaren Zuordnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit hinsichtlich des Frau J. betreffenden Vorfalls zu distanzieren. Obwohl keines der beiden Gerichte ausdrücklich festgestellt hat, der Beschwerdeführer habe sich einer neuen Straftat schuldig gemacht, haben beide Gerichte dies jedoch dadurch, dass sie die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen unkritisch behandelten, eindeutig impliziert.

4. Auch wenn man noch so sehr den pädagogischen Zeigefinger hebt (siehe letzter Satz von Rdnr. 51), lautet die unvermeidliche Schlussfolgering meines Erachtens, dass die Entscheidungen vom September und Oktober 2007 klar implizierten, dass der Beschwerdeführer sich der Straftat, derer er – zu Recht oder zu Unrecht – im Februar 1999 freigesprochen worden war, schuldig gemacht hatte. Die Rechtssachen A. L. ./. Deutschland und Reeves ./. Norwegen, die beide am Ende von Randnummer 46 zur Stützung der Auffassung, ein „unglücklicher Sprachgebrauch“ müsse nicht notwendigerweise zu einer Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung führen, zitiert wurden, sind wohl kaum die besten Beispiele, die man hätte anführen können. In der Rechtssache A.L. war der „unglückliche Sprachgebrauch“ nicht Teil eines öffentlichen Gerichtsurteils, sondern in einem Schreiben enthalten, dass der Vorsitzende Richter an den Anwalt des Beschwerdeführers gerichtet hatte; jedenfalls wurde der Fehler des Vorsitzenden Richters in jener Rechtssache vom Oberlandesgericht Frankfurt und vom Bundesverfassungsgericht korrigiert (siehe Rdnr. 38 des Urteils in jener Rechtssache). Die Rechtssache Reeves sollte man besser gar nicht erst erwähnen – der drittletzte Absatz der betreffenden Entscheidung stellt meines Erachtens eine angestrengte exegetische Übung dar, mit der etwas verteidigt werden soll, was nicht verteidigt werden kann.

_______

[1] Im englischen Originaltext heißt es irrtümlich: „District Court“

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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