ZIERD gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 75095/11

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 75095/11
Z. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 8. April 2014 als Ausschuss mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki, Richter,
und Stephen Phillips, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 4. Dezember 2011 erhoben wurde,

mit Blick auf die am 16. Dezember 2013 von der Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde in seinem Register zu streichen, und die Erwiderung der Beschwerdeführerin auf diese Erklärung,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT UND VERFAHREN

1. Die 19[…] geborene Beschwerdeführerin, Frau Z., ist deutsche Staatsangehörige und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn S., Rechtsanwalt in S., vertreten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Die Beschwerde wurde der Regierung übermittelt.

A. Die Umstände der Rechtssache

4. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter und einzige Erbin des 1982 geborenen und am 27. Februar 2011 verstorbenen H.

5. Am 31. Mai 2006 befand das Landgericht Meiningen, dass H. im Zustand der Schuldunfähigkeit eine Reihe von Verkehrsdelikten, darunter eine fahrlässige Tötung, begangen habe, und ordnete als Maßregel der Besserung und Sicherung seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

6. Seit Februar 2010 weigerte sich der Beschwerdeführer, die von den Krankenhausärzten verschriebenen Medikamente einzunehmen. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2010 trafen Mitarbeiter des Krankenhauses H. auf seinem Bett liegend und mit einem nassen Handtuch um den Hals an. Es wurden ihm gegen seinen Willen antipsychiotische Medikamente verabreicht. Am 21., 23. und 26. Juli sowie am 1. und 8. August 2010 fanden weitere Verabreichungen von Medikamenten ohne Einwilligung des Beschwerdeführers statt. Der Beschwerdeführer verblieb etwa drei Monate im Kriseninterventionsraum.

7. Am 30. Juli 2010 beantragte H.s Anwalt die unverzügliche Einstellung jeglicher Maßnahmen der Zwangsmedikation. Das Krankenhaus erwiderte, das Krankenhauspersonal habe befürchtet, dass der Beschwerdeführer Suizid durch Strangulation begehen werde, und der Beschwerdeführer habe Krankenhausmitarbeiter angegriffen.

8. Am 13. September 2010 wies das Landgericht Mühlhausen die Anträge des Beschwerdeführers als unbegründet ab. Das Landgericht war der Auffassung, dass in dem vorliegenden Fall „die zumindest äußerlich begründete Gefahr einer Selbstschädigung sowie […] die tatsächlichen Fremdschädigungen“ vorgelegen hätten. Daher seien sämtliche Medikamentengaben nach den einschlägigen Bestimmungen des Thüringischen Gesetzes zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen (ThürPsychKG) gerechtfertigt gewesen.

9. Am 30. November 2010 verwarf das Thüringer Oberlandesgericht H.s Rechtsbeschwerde.

10. Am 19. Januar 2011 erhob H.s Rechtsanwalt Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht.

11. Am 28. Januar 2011 leitete das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers dem Thüringer Justizministerium zur Stellungnahme zu.

12. Am 3. Februar 2011 lehnte das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 132/11) den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, es sei nicht auszuschließen, dass H., wenn er wiederum in einen als gefährlich anzusehenden Zustand verfalle, erneut einer Zwangsmedikation unterworfen werde. Die Zwangsmedikation eines Untergebrachten stelle einen sehr schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Es bestehe aber auch die Gefahr, dass der Beschwerdeführer in gravierender Weise sich selbst oder Dritte schädigen könnte, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde. Unter diesen Umständen könne die beantragte einstweilige Anordnung nicht gewährt werden, da die für den Erlass der Anordnung sprechenden Gründe die dagegen sprechenden Gründe nicht hinreichend deutlich überwiegen würden.

13. Am 27. Februar 2011 wurde H. in seinem Krankenzimmer tot aufgefunden.

14. Am 4. März 2011 setzte H.s Anwalt das Bundesverfassungsgericht vom Ableben seines Mandanten in Kenntnis und beantragte, das Verfahren dennoch fortzuführen, da es um eine Frage von allgemeinem Interesse gehe.

15. Im Hinblick auf H.s Tod beschloss das Bundesverfassungsgericht in einem aus drei Richtern bestehenden Ausschuss am 26. Mai 2011, das Verfahren einzustellen. Besondere Gründe, welche die Fortführung des Beschwerdeverfahrens nach dem Tod des Beschwerdeführers ausnahmsweise rechtfertigen würden, lägen nicht vor.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

16. Seit April 2011 hat das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Beschlüssen zur Frage der medizinischen Zwangsbehandlung in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachter Personen erlassen (Beschlüsse 2 BvR 882/09 vom 2. April 2011, 2 BvR 633/11 vom 20. Oktober 2011 und 2 BvR 228/12 vom 20 Februar 2013).

17. Das Bundesverfassungsgericht stellte eingangs fest, dass die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen Willen in sein grundgesetzlich garantiertes Recht auf körperliche Unversehrtheit eingreife. Daher seien derartige Maßnahmen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Darüber hinaus seien zum Schutz der Grundrechte des Untergebrachten besondere verfahrensmäßige Sicherungen geboten.

RÜGEN

18. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die medizinische Behandlung ihres verstorbenen Sohnes gegen dessen Willen ihre Konventionsrechte und die ihres verstorbenen Sohnes verletze.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

19. Die Beschwerdeführerin rügte in ihrem eigenen Namen und im Namen ihres verstorbenen Sohnes die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten. Sie berief sich auf die Artikel 2, 3, 5 und 8 der Konvention.

20. Nachdem mehrere Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.

21. Die Erklärung lautete wie folgt:

„1. Die Beschwerdeführerin hat das Angebot der Bundesregierung, in Vergleichsverhandlungen zu treten, nicht angenommen.

2. Die Bundesregierung erkennt angesichts dessen – durch diese einseitige Erklärung – an, dass in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles:

die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 8Absatz 1 der Konvention verletzt worden ist;

der Sohn der Beschwerdeführerin in seinen Konventionsrechten aus Artikel 8 Absatz 1 und Artikel 3 (2. Alternative) verletzt worden ist.

3. Die Bundesregierung ist bereit, eine Entschädigung in Höhe von 20.000 € an die Beschwerdeführerin zu leisten, wenn der Gerichtshof das Individualbeschwerdeverfahren unter der Bedingung der Zahlung dieses Betrages gemäß Artikel 37 Absatz 1 c) EMRK aus dem Register streicht. Damit würden sämtliche Ansprüche der Beschwerdeführerinim Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Thüringen abgegolten.“

Die Bundesregierung trug ferner vor, dass das Land Thüringen nach den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (siehe Rdnrn. 16 – 17) die einschlägigen Rechtsvorschriften zur Zwangsbehandlung in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachter Personen einer allgemeinen Reform unterzogen habe.

22. Mit Schreiben vom 30. Januar 2014 erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil der Fall eine ernsthafte Frage von allgemeinem Interesse aufwerfe, und dass die Erklärung der Regierung und die angebotene Entschädigungssumme unzureichend seien.

23. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn

„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“

24. Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht. Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Kriterien, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere aus dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75-77, EGMR 2003-VI); WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03).

25. Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen seine Praxis in Bezug auf Beschwerden über zwangsweise Verabreichung von Medikamenten etabliert (siehe insbesondere Herczegfalvy ./. Österreich, 24. September 1992, Rdnr. 82, Serie A Bd. 244; Naumenko ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 42023/98, Rdnr. 112, 10. Februar 2004 und Gorobet ./. Moldawien, Individualbeschwerde Nr. 30951/10, Rdnr. 51, 11. Oktober 2011). Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme – die den in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochenen Beträgen entsprichtund5000 €, dienach Auffassung des Gerichtshofs eine angemessene Summe für Kosten und Auslagen darstellen – ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung der Rügen nach den Artikeln 3 und 8 der Konvention nicht mehr gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c). Er ist ferner der Auffassung, dass die vorliegende Rechtssache keine gesonderten Fragenim Hinblick auf die anderen Konventionsartikel, auf die sich die Beschwerdeführerin beruft, aufwirft.

26. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der Ausführungen der Regierung zur allgemeinen Reform der einschlägigen Rechtsvorschriften ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, eine weitere Prüfung dieser Beschwerde nicht erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).

27. Nach Ansicht des Gerichtshofs sollte dieser Betrag binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention gezahlt werden. Erfolgt die Zahlung innerhalb dieser Frist nicht, fallen für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

28. Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung nach den Artikeln 8 und 3 der Konvention sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis;

die Beschwerde ist gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention im Register zu streichen.

Stephen Phillips                                       Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler                               Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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