RECHTSSACHE SCHATSCHASCHWILI gegen DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 9154/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE S. gegen DEUTSCHLAND
Individualbeschwerde Nr. 9154/10
URTEIL
STRASSBURG
17. April 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache S.gegen Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 11. März 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 9154/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein georgischer Staatsangehöriger, Herr S. („der Beschwerdeführer“), am 12. Februar 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn H., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau Regierungsdirektorin K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Mit Schreiben vom 29. Dezember 2013 teilte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers dem Gerichtshof mit, dass der Beschwerdeführer von Deutschland nach Georgien umgezogen sei, wo er nun unter einem anderen Namen lebe. Der Gerichtshof teilte den Parteien am 14. Januar 2014 mit, dass er die Individualbeschwerde weiterhin unter dem Namen S. ./. Deutschland behandeln werde, da dies der Name des Beschwerdeführers sei, so wie er in dem in Rede stehenden innerstaatlichen Verfahren sowie in seiner Beschwerde vor dem Gerichtshof verwendet worden sei.

4. Der Beschwerdeführer brachte insbesondere vor, dass weder er noch sein Rechtsanwalt zu irgendeinem Zeitpunkt des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens die Möglichkeiten gehabt habe, die einzigen unmittelbaren Zeuginnen und Geschädigten der angeblich von ihm im Februar 2007 in Göttingen begangenen Straftat, auf deren Aussagen sich seine diesbezügliche Verurteilung gründe, zu befragen, was eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention darstelle.

5. Am 15. Januar 2013 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

6. Der Beschwerdeführer und die Regierung nahmen jeweils zur Zulässigkeit und zur Begründetheit der Beschwerde Stellung. Die georgische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren nach Artikel 36 der Konvention unterrichtet worden war, machte von diesem Recht keinen Gebrauch.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

7. Der Beschwerdeführer wurde 19[…] geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf, Niedersachsen, inhaftiert.

8. Am 25. April 2008 verurteilte das Landgericht Göttingen den Beschwerdeführer wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten (63 Js 1244/07).

9. Die Straftaten waren am 14. Oktober 2006 in Kassel und am 3. Februar 2007 in Göttingen begangen worden.

A. Der von dem Landgericht Göttingen festgestellte Sachverhalt

1. Die Geschehnisse in Kassel

10. Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass sich der Beschwerdeführer am Abend des 14. Oktober 2006 gemeinsam mit einem nicht ermittelten Komplizen entsprechend dem zuvor gemeinsam gefassten Tatplan gewaltsam Zutritt zu einer Wohnung in Kassel verschafft und die Bewohnerinnen beraubt habe. Den Männern sei bekannt gewesen, dass die Wohnung zur Prostitution genutzt wurde; sie seien davon ausgegangen, dass die beiden Bewohnerinnen dort Wertgegenstände und Bargeld aufbewahrten. Sie hätten der Wohnung am frühen Abend einen Besuch abgestattet, um sicherzugehen, dass keine Freier anwesend waren. Kurze Zeit später hätten sie an der Wohnungstür geklingelt, die von der Mieterin, Frau L., geöffnet worden sei. Nachdem der Beschwerdeführer Frau L. überwältigt habe, habe er sie mit einer Gaspistole bedroht, die einer echten Schusswaffe geglichen habe, und habe sie aufgefordert, ruhig zu sein. Danach habe er sich in die Küche begeben und sei dort auf die andere Bewohnerin, Frau I., getroffen, eine litauische Staatsangehörige, die in der Wohnung gewohnt und als Prostituierte gearbeitet habe. Er habe die Gaspistole auf I. gerichtet und sie aufgefordert, ihm ihr Handy zu geben. Während sein Komplize die beiden Frauen bewacht habe, habe der Beschwerdeführer die Wohnung nach Wertsachen durchsucht und dabei fünf weitere Mobiltelefone sowie 100 Euro in I.s Handtasche gefunden. Dann habe der Beschwerdeführer den Frauen angedroht, sie zu erschießen, wenn sie ihm nicht sagten, wo sich weiteres Geld befinde. Auf diese Drohung hin habe L. ihm weitere 1.000 Euro übergeben, die sie in der Tasche ihres Blazers aufbewahrt habe. Sodann hätten die Männer mit ihrer Beute die Wohnung verlassen. Später an diesem Abend habe ein Bekannter von L., dem sie von dem Vorfall berichtet habe, die Polizei angerufen, die zu der Wohnung gekommen sei.

2. Die Geschehnisse in Göttingen

11. Hinsichtlich der Geschehnisse vom 3. Februar 2007 stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit mehreren Komplizen, von denen zwei die Mitangeklagten des Beschwerdeführers in dem Verfahren vor dem Gericht gewesen seien, eine weitere Wohnung in Göttingen ausgeraubt habe. Die Männer seien dabei einem im Vorfeld gemeinschaftlich gefassten Tatplan gefolgt. Zur maßgeblichen Zeit sei die Wohnung von Frau O. und Frau P. bewohnt worden, zwei lettischen Staatsangehörigen, die sich illegal in Deutschland aufgehalten und in der Wohnung als Prostituierte gearbeitet hätten. O. und P. seien mit L., einer der Geschädigten der am 14. Oktober 2006 in Kassel begangenen Tat, befreundet gewesen, und beide hätten vor ihrem Umzug nach Göttingen für einige Zeit als Prostituierte in der von L. in Kassel gemieteten Wohnung gearbeitet.

12. Am Abend des 2. Februar 2007, dem Tag vor der Tat, habe einer der Mitangeklagten des Beschwerdeführers zusammen mit dem Komplizen R. der Wohnung von O. und P. in Göttingen einen Besuch abgestattet, um zu prüfen, ob die Wohnung nur von den beiden Frauen bewohnt wurde und ob sich dort Wertsachen befanden. R. sei ein Bekannter von O. und P. gewesen; sie hätten ihn über die mit ihnen befreundete L. während ihrer Zeit in deren Kasseler Wohnung kennengelernt. Die nichtsahnenden Frauen hätten die Männer daher ungehindert eintreten lassen. Nach ihrem Besuch hätten die beiden Männer dem Rest ihrer Gruppe berichtet, dass sie in der Küche der Wohnung einen Tresor gesehen hätten.

13. Am 3. Februar 2007 hätten sich der Beschwerdeführer und ein weiterer Komplize, B., gegen 20.00 Uhr Zugang zur Wohnung von O. und P. verschafft, indem sie vorgaben, potenzielle Kunden zu sein, während einer der Mitangeklagten in einem unweit des Mietshauses geparkten Wagen und der andere Mitangeklagte vor dem Haus gewartet habe. In der Wohnung habe B. dann ein Messer hervorgezogen, das er in seinem Mantel bei sich getragen habe. Um den Tätern zu entkommen, sei P. von dem etwa 2 m hohen Balkon der Wohnung gesprungen und weggelaufen. Der Beschwerdeführer sei ihr hinterhergesprungen, habe die Verfolgung aber nach einigen Minuten aufgegeben, als sich in der Nähe Passanten auf der Straße gezeigt hätten. Dann habe er den vor der Wohnung der Frauen wartenden Mitangeklagten auf seinem Mobiltelefon angerufen und ihm von den Geschehnissen berichtet. Er habe mit ihm einen Treffpunkt verabredet, an dem ihn die Mitangeklagten mit dem Wagen abholen würden, sobald der Komplize B. den Tatort verlassen und sich ihnen wieder angeschlossen habe. In der Wohnung habe B. inzwischen O. überwältigt und ihr angedroht, er würde sie mit dem Messer töten, wenn sie ihm nicht sage, wo sie ihr Geld aufbewahrten und ihm nicht den Safe öffne. Aus Angst um ihr Leben habe O. den Safe geöffnet, dem B. 300 Euro entnommen habe, und ihm auch den Inhalt ihres Portemonnaies übergeben, der sich auf 250 Euro belaufen habe. Gegen 20.30 Uhr habe B. die Wohnung verlassen, wobei er das Geld, P.s Mobiltelefon und das Festnetztelefon der Wohnung mitgenommen habe, und habe sich wieder den Mitangeklagten angeschlossen. Anschließend hätten die Mitangeklagten und B. den Beschwerdeführer mit dem Wagen an dem vereinbarten Treffpunkt abgeholt.

14. P. sei ungefähr gegen 21.30 Uhr zu O. in die Wohnung zurückgekehrt. Die Frauen hätten ihre Freundin L. in Kassel angerufen und ihr kurz von den Geschehnissen berichtet. Am Folgetag hätten sie auch ihrer Nachbarin E. von der Tat erzählt. Später an diesem Tag seien die Frauen, die Angst gehabt hätten, alleine in der Göttinger Wohnung zu bleiben, nach Kassel gefahren, wo sie einige Tage bei ihrer Freundin L. verbracht hätten. Nach anschließenden Kurzaufenthalten in Frankfurt am Main und wieder in Göttingen seien sie im Februar 2007 nach Lettland zurückgekehrt.

B. Tatsachenfeststellung und Würdigung der Beweise durch das Landgericht

1. Die Geschehnisse in Kassel

15. Das Landgericht stellte die Tatsachen im Hinblick auf die erste, am 14. Oktober 2006 in Kassel begangene Tat aufgrund der von den Geschädigten L. und I. bei den polizeilichen Befragungen und anschließend im Verlauf der Verhandlung gemachten Angaben fest. Beide Zeuginnen hatten – als ihnen im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmungen ein Lichtbild von ihm vorgelegt wurde und bei der späteren Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung – in dem Beschwerdeführer ohne jedes Zögern den Täter mit der Pistole erkannt. Das Landgericht hielt die Angaben der Zeuginnen L. und I. für in sich stimmig und glaubhaft und stellte fest, dass sie von den Aussagen der Polizeibeamten gestützt wurden, die am Tatort gewesen waren und L. und I. im Rahmen des Ermittlungsverfahrens befragt hatten, und die alle in der Hauptverhandlung als Zeugen vernommen wurden.

2. Die Geschehnisse in Göttingen

16. Im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der zweiten, in Göttingen begangenen Tat stützte sich das Gericht insbesondere auf die Angaben, die die Geschädigten O. und P. im Ermittlungsverfahren im Rahmen der polizeilichen Vernehmung im Zeitraum vom 15. bis 18. Februar 2007 und bei der Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter am 19. Februar 2007 gemacht hatten.

17. Mit Beschluss vom 21. Februar 2008 ordnete das Landgericht entgegen dem seitens der Verteidigung erhobenen Widerspruch an, die Protokolle der polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Befragungen von O. und P. gemäß § 251 Abs. 1 und 2 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) durch Verlesen in die Hauptverhandlung einzuführen. Der genannte Paragraph eröffnet diese Möglichkeit, falls ein Zeuge aufgrund nicht zu beseitigender Hindernisse in absehbarer Zeit nicht vernommen werden kann. Das Landgericht wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nicht möglich gewesen sei, die Zeuginnen im Verlauf der Verhandlung zu vernehmen, da sie kurz nach ihren Befragungen im Ermittlungsstadium in ihre Heimat Lettland zurückgekehrt seien und alle Bemühungen, eine Vernehmung in der Hauptverhandlung herbeizuführen, erfolglos geblieben seien.

18. Das Landgericht führte aus, dass O. und P. für den dritten Verhandlungstag am 24. August 2007 vor das Gericht geladen worden seien. Beide hätten sich jedoch unter Bezugnahme auf ärztliche Atteste vom 9. August 2007, in denen ihnen posttraumatische emotionale und psychische Labilität bescheinigt wurde, geweigert, an der Verhandlung teilzunehmen. Daraufhin habe das Gericht beide Zeuginnen am 29. August 2007 angeschrieben und gefragt, unter welchen Bedingungen sie bereit seien, in der Verhandlung auszusagen. Für beide Schreiben lägen zwar Empfangsbekenntnisse vor, die Zeugin P. habe jedoch nicht geantwortet. Die Zeugin O. hingegen habe dem Landgericht schriftlich mitgeteilt, sie wolle weder persönlich zur Verhandlung erscheinen noch per Videoübertragung vernommen werden, da sie durch die Tat noch immer traumatisiert sei. Ihren im Februar 2007 gemachten Aussagen bei der Polizei und vor dem Ermittlungsrichter habe sie nichts mehr hinzuzufügen.

19. Dennoch ersuchte das Landgericht die lettischen Behörden um Rechtshilfe, um so eine Vernehmung der Zeuginnen durch ein Gericht in Lettland unter Übertragung der Vernehmung in Wort und Bild (audiovisuelle Vernehmung) zu erwirken. Eine vom zuständigen lettischen Gericht auf den 13. Februar 2008 terminierte Vernehmung wurde jedoch kurz zuvor von der Vorsitzenden Richterin in Lettland abgesagt, da die Zeuginnen, wiederum unter Vorlage ärztlicher Atteste, nachgewiesen hätten, dass sie infolge der Tat noch immer unter posttraumatischen Störungen litten und eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von Göttingen ihren Zustand verschlimmern könne. Weiterhin hätten die Zeuginnen angegeben, sie würden angesichts entsprechender Drohungen der Angeklagten einen möglichen Racheakt fürchten.

20. Das Landgericht teilte daraufhin dem lettischen Gericht mit Schreiben vom 21. Februar 2008 mit, dass die Zeuginnen ihre Weigerung, sich vernehmen zu lassen, nach den Maßstäben der deutschen Strafprozessordnung nicht überzeugend begründet hätten. Es regte an, die zuständige lettische Richterin möge eine amtsärztliche Untersuchung der Zeuginnen und hilfsweise die zwangsweise Durchsetzung ihrer Teilnahme an der Verhandlung veranlassen.

21. Da keine Antwort auf dieses Schreiben eintraf, sah das Landgericht keine weiteren rechtlichen Möglichkeiten mehr, eine Vernehmung von O. und P. durchzusetzen. Das Landgericht berücksichtigte ferner den Umstand, dass die erst kürzlich erneuerten ärztlichen Atteste keine baldige Änderung des Gesundheitszustands der Zeuginnen erwarten ließen und schloss, dass eine Vernehmung der Zeuginnen in absehbarer Zeit unmöglich sei. Das Gericht befand mit Verweis auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Angeklagten sich schon seit geraumer Zeit in Untersuchungshaft befanden, dass eine weitere Verzögerung des Verfahrens nicht gerechtfertigt sei.

22. Folglich wies das Landgericht einen weiteren Widerspruch des Verteidigers eines der Mitangeklagten gegen die Einführung der von den Zeuginnen im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen zurück und die Protokolle der polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Befragungen der Zeuginnen wurden in der Hauptverhandlung vom 26. Februar 2006 verlesen.

23. Das Landgericht hob in seinem etwa 152 Seiten umfassenden Urteil hervor, dass es sich bei der Würdigung der vorliegenden Beweise des eingeschränkten Beweiswerts der Protokolle von O.s und P.s Aussagen im Ermittlungsverfahren bewusst gewesen sei. Es habe ferner berücksichtigt, dass weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit gehabt hätten, die einzigen unmittelbaren Zeuginnen der in Göttingen begangenen Tat zu befragen. Zum Zeitpunkt der letzten Befragung von O. und P. im Ermittlungsverfahren am 19. Februar 2007 sei der Beschwerdeführer noch nicht über das gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren informiert worden, um den Untersuchungserfolg nicht zu gefährden. Es sei noch kein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden und er sei nicht anwaltlich vertreten gewesen. Der Ermittlungsrichter habe den Beschwerdeführer gemäß § 168c StPO von der Vernehmung ausgeschlossen, da er befürchtet habe, dass die Zeuginnen in Gegenwart der Beschuldigten aus Angst nicht zu einer wahrheitsgemäßen Aussage bereit wären. Das Landgericht betonte ferner, dass im Ermittlungsstadium keine Anhaltspunkte dafür bestanden hätten, dass die Zeuginnen O. und P., die mehrfach bei der Polizei und später vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt hätten, sich weigern würden, ihre Aussagen später vor Gericht zu wiederholen.

24. Das Landgericht befand, dass das Verfahren trotz der sich daraus ergebenden Einschränkungen für die Verteidigung insgesamt fair gewesen sei und den Erfordernissen des Artikels 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention genügt habe. Ein Verwertungsverbot für die im Ermittlungsverfahren von O. und P. gemachten Aussagen habe somit nicht bestanden. Das Gericht habe sich intensiv darum bemüht, den Angeklagten und ihren Verteidigern eine unmittelbare Befragung von O. und P. in der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Als sich herausgestellt habe, dass die Zeuginnen unerreichbar sein würden, habe das Gericht überdies die Befragung der größtmöglichen Anzahl sonstiger Zeugen, die im Zusammenhang mit den in Rede stehenden Geschehnissen mit O. und P. in Berührung gekommen waren, ermöglicht. Schließlich habe das Gericht bei der Beurteilung des Beweiswerts der im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen von O. und P. verschiedene bestätigende Beweismittel berücksichtigt.

25. Das Landgericht war der Auffassung, dass aus den Protokollen der Befragungen von O. und P. im Ermittlungsstadium hervorgehe, dass diese die Tatumstände detailreich und schlüssig geschildert hätten. Kleinere Widersprüche in ihren Aussagen ließen sich damit erklären, dass sie gegenüber den Behörden ihren illegalen Aufenthalt und ihre Tätigkeit verbergen wollten und dass sie während des Vorfalls und danach unter psychischer Belastung gestanden hätten. Die Zeuginnen hätten Probleme mit der Polizei und Racheakte der Täter befürchtet. Dies erkläre, warum die Zeuginnen nicht sofort nach den Geschehnissen Anzeige erstattet hätten und warum die Polizei erst am 12. Februar 2007 von der mit ihnen befreundeten L. über die Tat informiert worden sei. Im Hinblick darauf, dass O. und P. den Beschwerdeführer nicht wiedererkannten, als ihnen bei der polizeilichen Befragung mehrere Lichtbilder möglicher Tatverdächtiger vorgelegt wurden, stellte das Gericht fest, dass die Aufmerksamkeit der Zeuginnen während des Vorfalls auf den weiteren Täter mit dem Messer gerichtet gewesen sei und dass der Beschwerdeführer sich nur kurz in der Wohnung aufgehalten habe. Dass sie den Beschwerdeführer nicht erkannten, zeige auch, dass die Zeuginnen im Gegensatz zu den Vorbringen der Verteidigung mit ihrer Aussage nicht darauf abzielten, den Beschwerdeführer zu belasten.

26. Das Gericht sah in dem Umstand, dass die von den Zeuginnen im Ermittlungsverfahren abgegebene detaillierte Schilderung der Geschehnisse mit dem übereinstimmte, was sie am Morgen nach der Tat ihrer Nachbarin E., die während der Verhandlung als Zeugin vernommen wurde, berichtet hatten, einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt für ihre Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Jene Zeugin habe ferner ausgesagt, dass am Abend des 3. Februar 2007 gegen 21.30 Uhr eine weitere Nachbarin, eine ältere Frau, die der Lärm aus der Wohnung von O. und P. in Angst versetzt habe, zu ihr gekommen sei und sie gebeten habe, mit ihr zur Wohnung der Frauen zu gehen, um herauszufinden, was passiert sei. O. und P. hätten auf das Klingeln der Nachbarinnen hin aber nicht geöffnet.

27. Das Landgericht stellte ferner fest, dass O.s und P.s Schilderung der Geschehnisse auch mit dem übereinstimme, woran sich die mit ihnen befreundete L. bei ihrer Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung hinsichtlich ihrer nach der Tat mit O. und P. geführten Gespräche erinnerte. Außerdem hätten sowohl die Polizeibeamten als auch der Untersuchungsrichter, die O. und P. im Ermittlungsverfahren vernommen hatten, in der Hauptverhandlung ausgesagt, dass sie die Zeuginnen für glaubwürdig hielten.

28. Da weder die Verteidigung noch das Landgericht selbst die Möglichkeit gehabt habe, das Verhalten der Hauptzeuginnen in der Verhandlung oder im Rahmen einer audiovisuellen Vernehmung zu beobachten, müsse das Gericht die Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Zeuginnen durch die Vernehmungsbeamten und den Ermittlungsrichter besonders sorgfältig auswerten. Das Gericht betonte ferner, dass es bei der Berücksichtigung der Aussage der Nachbarin der Zeuginnen, E., und der Aussage der mit ihnen befreundeten L. besonderes Augenmerk darauf gerichtet habe, dass es sich um Beweise vom Hörensagen handelte, die einer besonders vorsichtigen Würdigung zu unterziehen seien.

29. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig gewesen, dass die Angaben von O. und P. und die in der Verhandlung von den übrigen Zeugen gemachten Aussagen durch weitere wesentliche und verwertbare Beweismittel – wie die durch die Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten und die mittels eines GPS-Empfangsgeräts gewonnenen Daten – gestützt würden. Diese Informationen seien im Zuge polizeilicher Überwachungsmaßnahmen im Rahmen eines zur maßgeblichen Zeit gegen die Angeklagten eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Schutzgelderpressung in der Göttinger Drogenszene gewonnen worden. Die Verbindung zwischen den in diesen gesonderten Ermittlungen erlangten Beweismitteln und der hier in Rede stehenden Tat habe erst hergestellt werden können, als O. und P. den Vorfall vom 3. Februar 2007 der Polizei gemeldet hätten. Aus zwei aufgezeichneten Telefongesprächen zwischen einem der Mitangeklagten und dem Beschwerdeführer am Abend des 3. Februar 2007 um 20.29 Uhr und 20.31 Uhr gehe hervor, dass sich der Beschwerdeführer in Begleitung von B. in der Wohnung der Geschädigten befunden habe und dass er vom Balkon gesprungen sei, um einer der Geschädigten, die geflohen war, nachzulaufen, ohne sie jedoch einzuholen, während B. in der Wohnung geblieben sei. Außerdem zeige die Auswertung der GPS-Daten, dass das Auto eines der Mitangeklagten am Abend des 3. Februar 2007 von 19.58 Uhr bis 20.32 Uhr, also in dem Zeitraum, in dem auch der in Rede stehende Raub stattgefunden habe, in der Nähe des Tatortes geparkt gewesen sei.

30. Zwar hätten der Beschwerdeführer und die Mitangeklagten jede Beteiligung an dem Raub selbst bzw. jegliche vorsätzliche kriminelle Handlung in dieser Hinsicht bestritten, letztlich jedoch durch ihre eigenen Aussagen in der Verhandlung zumindest bestätigt, dass einer der Mitangeklagten gemeinsam mit R. am Vorabend der Tat die Wohnung in Göttingen aufgesucht habe und dass sich der Beschwerdeführer und B. zum Zeitpunkt des Vorfalls am nächsten Tag in der Wohnung befunden hätten. Der Beschwerdeführer habe ausgesagt, dass er und B. die Wohnung aufgesucht hätten, um die von den Frauen angebotenen Prostitutionsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Er habe weiter zugegeben, P. gefolgt zu sein, als diese vom Balkon gesprungen sei, und erklärt, er habe sie daran hindern wollen, die Nachbarn oder die Polizei zu rufen, denn er habe befürchtet, in Schwierigkeiten zu geraten, weil er vorbestraft sei und unlängst in einer ähnlichen Situation in Kassel mit Prostituierten Probleme gehabt habe.

31. Das Gericht war der Auffassung, dass die Zusammenschau aller Erkenntnisse ein schlüssiges und vollständiges Gesamtbild der Geschehnisse ergebe, das die Version der Zeuginnen O. und P. stütze und die im Verlauf der Verhandlung gemachten widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten widerlege.

C. Das anschließende Verfahren

32. Der Verteidiger des Beschwerdeführers legte gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen Revision ein und rügte, der Beschwerdeführer habe zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit gehabt, die einzigen unmittelbaren Zeuginnen der in Göttingen begangenen Tat zu befragen, was eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d der Konvention darstelle. Dieser Mangel sei den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müsse einem unverteidigten Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn die Befragung der zentralen Belastungszeugen durch den Ermittlungsrichter anstehe und der Angeklagte von dieser Vernehmung ausgeschlossen werde. Zum Zeitpunkt der Zeugenvernehmung sei der Beschwerdeführer jedoch nicht einmal darüber informiert gewesen, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei, und die Staatsanwaltschaft habe für ihn nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt. Folglich hätte für die Aussagen von O. und P. ein Verwertungsverbot bestehen müssen.

33. Mit Schriftsatz vom 9. September 2008 beantragte der Generalbundesanwalt, der Bundesgerichtshof möge die Revision des Beschwerdeführers gemäß § 349 Abs. 2 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) im schriftlichen Verfahren als offensichtlich unbegründet verwerfen. Der Generalbundesanwalt trug vor, dass das Verfahren zwar tatsächlich durch einen Totalausfall des Fragerechts des Beschwerdeführers gegenüber O. und P. gekennzeichnet, insgesamt jedoch fair gewesen sei, und dass kein Grund für die Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen von O. und P. bestanden habe. Das Landgericht habe den Inhalt der in der Verhandlung verlesenen Protokolle der Zeugenaussagen besonders sorgfältig und kritisch bewertet. Darüber hinaus habe es sich bei der Verurteilung des Beschwerdeführers weder allein noch entscheidend auf deren Aussagen gestützt, sondern weitere gewichtige Beweise berücksichtigt. Vor dem Hintergrund der auf unterschiedlichen Beweisebenen gelagerten ergänzenden Beweisumstände habe der Beschwerdeführer ausreichende Chancen gehabt, die Glaubhaftigkeit der beiden Hauptzeuginnen zu erschüttern und sich effektiv zu verteidigen. Der Generalbundesanwalt schloss sich der entsprechenden Begründung des Landgerichts an und legte ferner dar, dass nichts darauf hindeute, dass die Einschränkungen des Rechts der Verteidigung auf Befragung der Zeuginnen den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen seien.

34. Mit Schriftsatz vom 28. September 2008 erwiderte der Beschwerdeführer auf die Stellungnahme des Generalbundesanwalts und beantragte beim Bundesgerichtshof die Durchführung einer Revisionshauptverhandlung.

35. Mit Beschluss vom 30. Oktober 2008 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet.

36. Mit Schriftsatz vom 17. November 2008 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge, da keine Revisionshauptverhandlung stattgefunden habe und der Verwerfungsbeschluss des Bundesgerichtshofs keine Begründung enthalte.

37. Mit Beschluss vom 9. Dezember 2008 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück und führte aus, dass in jedem Verwerfungsbeschluss nach § 349 Abs. 2 StPO die entsprechende Begründung des Generalbundesanwalts implizit in Bezug genommen werde.

38. Mit Beschluss vom 8. Oktober 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 30. Oktober und 9. Dezember 2008 zur Entscheidung anzunehmen.

39. Aus den Vorbringen des Beschwerdeführers geht hervor, dass er mittlerweile aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wurde und in sein Heimatland Georgien zurückgekehrt ist.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

40. § 160 StPO sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft, sobald sie durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen hat. Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist.

41. Gemäß § 168c Abs. 2 StPO ist der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Verteidiger bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen vor der Eröffnung des Hauptverfahrens die Anwesenheit gestattet. Der Richter kann einen Beschuldigten von der Anwesenheit bei der Verhandlung ausschließen, wenn dessen Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde, insbesondere dann, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde (§ 168c Abs. 3 StPO). Von den Terminen sind die zur Anwesenheit Berechtigten vorher zu benachrichtigen. Die Benachrichtigung unterbleibt, wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde (§ 168c Abs. 5 StPO).

42. Der Verteidiger kann schon während des Ermittlungsverfahrens bestellt werden; die Staatsanwaltschaft beantragt dies, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird (§ 141 Abs. 3 StPO). Die Mitwirkung eines Verteidigers ist u. a. notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht stattfindet oder dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird (§ 140 Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 7 StPO).

43. In einem Leiturteil vom 25. Juli 2000 (veröffentlicht in BGHSt, Band 46, S. 96 ff.) vertrat der Bundesgerichtshof die Auffassung, dass § 141 Abs. 3 StPO im Lichte von Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention dahingehend auszulegen sei, dass die Ermittlungsbehörden in Erwägung zu ziehen hätten, dem unverteidigten Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen einen Verteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen sei. Macht der zentrale Belastungszeuge von seinem gesetzlichen Recht, bei einem möglicherweise folgenden Verfahren gegen den Angeklagten das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch, sei die Bestellung eines Verteidigers grundsätzlich notwendig, um der Gefahr entgegenzuwirken, dass dem Angeklagten das Recht aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d, den Belastungszeugen zu irgendeinem Zeitpunkt der Verfahrens zu befragen, genommen würde.

44. § 238 Abs. 1 StPO besagt, dass der Vorsitzende Richter die Verhandlung leitet, den Angeklagten vernimmt und die Beweisaufnahme durchführt. Nach § 240 Abs. 2 hat der Vorsitzende Richter der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten, dem Verteidiger sowie den Schöffen auf Antrag zu gestatten, Fragen an den Angeklagten, die Zeugen und die Sachverständigen zu stellen. Nach § 244 Abs. 2 hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

45. Laut § 251 Abs. 1 und 2 StPO kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift über eine andere Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann. Die Vernehmung eines Zeugen darf durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung auch ersetzt werden, wenn dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen.

46. § 257 StPO sieht vor, dass der Angeklagte nach der Vernehmung eines jeden Mitangeklagten und nach jeder einzelnen Beweiserhebung befragt werden soll, ob er dazu etwas zu erklären habe. Gemäß § 258 StPO erhalten nach dem Schluss der Beweisaufnahme der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

47. Die Vorschriften zur Revision gegen Strafurteile finden sich in den §§ 333 bis 358 StPO. § 337 schreibt vor, dass die Revision nur darauf gestützt werden kann, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Nach § 345 Abs. 2 ist zum Einreichen der Revision anwaltliche Vertretung erforderlich. § 349 Abs. 2 und 3 sieht vor, dass das Gericht auf einen begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft hin die Revision eines Verurteilten ohne Verhandlung durch einstimmigen Beschluss verwerfen kann, wenn es die Revision für offensichtlich unbegründet erachtet. Die Staatsanwaltschaft teilt einen solchen Antrag mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen. Folgt das Revisionsgericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht und führt eine Verhandlung durch, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

48. Die §§ 112 ff StPO behandeln die Untersuchungshaft. Nach § 112 Abs. 1 StPO darf die Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Ein Haftgrund liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass Fluchtgefahr besteht (§ 112 Abs. 2 Nr. 2).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSÄTZE 1 UND 3 BUCHSTABE D DER KONVENTION

49. Der Beschwerdeführer rügte, dass sein Verfahren unfair gewesen und der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden sei, da weder er noch sein Rechtsanwalt zu irgendeinem Zeitpunkt desStrafverfahrens die Möglichkeiten gehabt habe, O. und P., die einzigen unmittelbaren Zeuginnen und Geschädigten der angeblich von ihm im Februar 2007 in Göttingen begangenen Straftat, zu befragen.

Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 i. V. m. Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention, die, soweit maßgeblich, wie folgt lauten:

„1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

[…]

3. Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

[…]

d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

[…]“

50. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

51. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

52. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das Erfordernis aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d, einem Angeklagten das Recht einzuräumen, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, um ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, eine Verfahrensgarantie darstelle, mit der die Einhaltung des Grundsatzes der Waffengleichheit in Strafverfahren sichergestellt werden solle. Daraus folge, dass Aussagen von Zeugen, die nur von den Ermittlungsbehörden und nicht von der Verteidigung befragt werden konnten, unzulässig seien und vom Tatgericht grundsätzlich nicht verwertet werden dürften. Er erkannte zwar an, dass unter bestimmten Umständen Ausnahmen von dieser Regel gelten könnten, zum Beispiel in Fällen, in denen es zwingend notwendig sei, das Recht eines Angeklagten auf Konfrontierung eines Zeugen bei der Verhandlung einzuschränken, um den Zeugen zu schützen; in der vorliegenden Rechtssache seien derartige Überlegungen jedoch unerheblich.

53. Der Beschwerdeführer brachte in diesem Zusammenhang vor, dass es den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen sei, dass O. und P., die Hauptbelastungszeuginnen, zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens von der Verteidigung hätten befragt werden können. Da es offensichtlich gewesen sei, dass die Zeuginnen Deutschland nach ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung zeitnah verlassen würden, wären die Behörden nach § 168c StPO verpflichtet gewesen, dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einzuräumen, bei den Zeugenvernehmungen anwesend zu sein. Hilfsweise hätten sie ihm einen Verteidiger bestellen und diesem die Anwesenheit bei den Vernehmungen gestatten können, so dass der Verteidigung die Möglichkeit zur Konfrontation der Zeuginnen gegeben worden wäre. Trotz dieses Verfahrensmangels im Ermittlungsverfahren habe das Landgericht die Protokolle der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen von O. und P. in der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer verlesen und sie als Beweismittel zugelassen.

54. Der Beschwerdeführer machte ferner geltend, dass die innerstaatlichen Behörden im Hauptverfahren nicht alle geeigneten Maßnahmen ergriffen hätten, um sicherzustellen, dass die Zeuginnen für Aussagen zur Verfügung stehen würden. Beispielsweise hätten sie O. und P. zu diesem Zweck eine Aufenthaltserlaubnis erteilen können, und einer möglichen Gefahr, dass sie Drohungen und Druck durch den Beschwerdeführer ausgesetzt würden, hätten sie begegnen können, indem sie sie in ein Zeugenschutzprogramm aufnehmen. Die innerstaatlichen Behörden hätten auch nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen, eine Zeugenvernehmung durch einen Beamten der deutschen Botschaft in Lettland zu veranlassen, nachdem alle anderen Versuche, sie vermittels der lettischen Behörden vernehmen zu lassen, gescheitert seien.

55. Nach Ansicht des Beschwerdeführers wurde der Nachteil der Verteidigung, der sich daraus ergeben habe, dass die innerstaatlichen Behörden dem Beschwerdeführer keine Möglichkeit der Konfrontierung von O. und P. eingeräumt hätten, im Laufe des Verfahrens nicht von der Staatsanwaltschaft oder den innerstaatlichen Gerichten kompensiert. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs könne eine Verurteilung nicht allein oder entscheidend auf Aussagen von Zeugen gestützt werden, die der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens habe konfrontieren können, wie es in der vorliegenden Rechtssache der Fall gewesen sei.

56. Der Beschwerdeführer schlussfolgerte, dass die Rechte der Verteidigung in einem Maß eingeschränkt gewesen seien, das mit den Garantien nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention nicht mehr vereinbar sei.

(b) Die Regierung

57. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass sich aus den maßgeblichen Passagen der Urteilsbegründung (siehe Rdnrn. 17-20) ergebe, dass das Landgericht Göttingen alle angemessenen Schritte ergriffen habe, um eine Vernehmung von O. und P. im Rahmen der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Nachdem alle Versuche, die Zeuginnen zu einer Teilnahme an der Hauptverhandlung zu bewegen oder ihre Vernehmung im Ausland durch einen lettischen Richter zu veranlassen, gescheitert seien, sei das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass es keine weiteren rechtlichen Möglichkeiten mehr habe, eine Vernehmung von O. und P. zu erwirken, und dass eine Vernehmung der Zeuginnen in absehbarer Zeit unmöglich sei.

58. Es sei auch nicht den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen gewesen, dass O. und P. im Ermittlungsverfahren nicht vom Beschwerdeführer hätten befragt werden können. Es sei gerechtfertigt gewesen, ihn von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeuginnen auszuschließen, um den Zweck der zu diesem Zeitpunkt noch verdeckt geführten Ermittlungen nicht zu gefährden. Der Ermittlungsrichter habe berechtigte Gründe für die Annahme gehabt, dass die Zeuginnen in Anwesenheit der Tatverdächtigen Angst haben würden, die Wahrheit zu sagen, und dass der Beschwerdeführer, sobald er über die laufenden Ermittlungen informiert worden wäre, versuchen würde, O. und P. einzuschüchtern, um ihre Aussage zu beeinflussen.

59. Die Regierung machte ferner geltend, dass die innerstaatlichen Behörden nicht verpflichtet gewesen seien, dem Beschwerdeführer im Ermittlungsstadium einen Verteidiger zu bestellen. Zu diesem Zeitpunkt sei es nicht absehbar gewesen, dass die Zeuginnen, die zuvor mehrmals bei der Polizei ausgesagt hätten, sich weigern würden, ihre Aussagen im Laufe eines späteren Verfahrens, zumindest per Videoübertragung, zu wiederholen. Den Zeuginnen habe insbesondere kein Zeugnisverweigerungsrecht zugestanden, wie es beispielsweise für Familienangehörige des Angeklagten infrage komme. Eine Pflichtverteidigerbestellung wäre ferner mit der Gefahr verbunden gewesen, dass der Verteidiger den Beschwerdeführer über das Ermittlungsverfahren informieren würde. Dies hätte nicht nur aus den oben genannten Gründen die Durchführung der Ermittlungen gefährdet, sondern auch zu einer Fluchtgefahr seitens des Beschwerdeführers geführt. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers sei es nicht möglich gewesen, bereits vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung von O. und P. einen Haftbefehl gegen ihn zu erlassen, da der dringende, eine mögliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Untersuchungshaft rechtfertigende Tatverdacht gegen ihn gerade auf diesen Zeugenvernehmungen beruht habe.

60. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Einschränkungen der Verteidigungsrechte im Laufe des Verfahrens kompensiert worden seien. Die im Ermittlungsverfahren gemachten Zeugenaussagen von P. und O. würden durch die Aussagen weiterer Zeugen sowie durch die Auswertung der mittels Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten sowie mittels GPS gewonnen Daten gestützt und hätten folglich nicht die einzige Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers dargestellt. Darüber hinaus habe das Landgericht bei seiner Würdigung der verfügbaren Beweismittel berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer O. und P. zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens habe konfrontieren können und dass es sich bei den Aussagen einiger der in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen um Aussagen vom Hörensagen gehandelt habe. Aus diesem Grund habe es die verfügbaren Beweismittel besonders kritisch und sorgfältig geprüft, um die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen zu bewerten und ihre Aussagen auf mögliche Widersprüche zu untersuchen.

61. Die Regierung kam zu dem Schluss, dass die Verteidigungsrechte in der vorliegenden Rechtssache nicht in einem Maß eingeschränkt gewesen seien, das mit den Verfahrensgarantien nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d oder dem Grundsatz der Waffengleichheit unvereinbar sei, und dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt fair gewesen sei.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

62. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Garantien in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d besondere Aspekte des in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren sind, die bei jeder Einschätzung der Fairness eines Verfahrens in Betracht zu ziehen sind. Zudem hat der Gerichtshof im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 in erster Linie zu prüfen, ob das Strafverfahren insgesamt fair war (siehe u. a. Taxquet ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 926/05, Rdnr. 84, ECHR 2010). Dabei wird der Gerichtshof das Verfahren in seiner Gesamtheit betrachten und dabei die Rechte der Verteidigung, aber auch die Interessen der Allgemeinheit und der Opfer an einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung (siehe G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 175, ECHR 2010….) und gegebenenfalls die Rechte der Zeugen berücksichtigen (siehe u. v. a. Doorson ./. Niederlande, 26. März 1996, Rdnr. 70, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996‑II). Er erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln durch innerstaatliches Recht zu regeln und Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, und dass die Aufgabe des Gerichtshofs allein darin besteht, zu prüfen, ob das Verfahren fair geführt wurde (siehe Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011).

63. Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d enthält den Grundsatz, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten im Regelfall alle gegen ihn vorliegenden Beweise in seiner Anwesenheit in öffentlicher Verhandlung erhoben werden müssen, um eine kontradiktorische Auseinandersetzung zu ermöglichen. Dem liegt das Prinzip zugrunde, dass der Angeklagte in einem Strafverfahren eine wirksame Gelegenheit haben sollte, die gegen ihn vorliegenden Beweise anzufechten. Ausnahmen hiervon sind möglich, dürfen aber die Rechte der Verteidigung nicht verletzen; diese Rechte erfordern in der Regel nicht nur, dass der Angeklagte weiß, wer ihn beschuldigt, damit er die Redlichkeit und Glaubwürdigkeit der betreffenden Personen in Zweifel ziehen kann, sondern auch, dass ihm in angemessener und hinreichender Weise Gelegenheit gegeben wird, einen Belastungszeugen entweder während dessen Zeugenaussage oder zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt zu konfrontieren und zu befragen (siehe Lucà ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Rdnr. 39, ECHR 2001‑II; und Solakov ./. „die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien“, Individualbeschwerde Nr. 47023/99, Rdnr. 57, ECHR 2001‑X).

64. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es bei der vorliegenden Individualbeschwerde nicht um Zeugen geht, deren Identität dem Angeklagten vorenthalten ist. In der vorliegenden Rechtssache weigerten sich die Geschädigten und einzigen unmittelbaren Zeuginnen der in Rede stehenden Geschehnisse, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und dort auszusagen; daher konnte weder das Tatgericht sie vernehmen, noch die Verteidigung sie befragen oder ihr Auftreten bei der Vernehmung beobachten, um sich so einen eigenen Eindruck von ihrer Redlichkeit und Glaubwürdigkeit zu machen. Dennoch wurden ihre im Ermittlungsverfahren bei den polizeilichen und den ermittlungsrichterlichen Vernehmungen in Anwesenheit des Staatsanwalts gemachten Zeugenaussagen bei der Hauptverhandlung verlesen und vom Landgericht als Beweismittel zugelassen. Zum Zeitpunkt der Vernehmungen von O. und P. im Ermittlungsstadium war der Beschwerdeführer noch nicht über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren informiert gewesen und es war noch kein Verteidiger für ihn bestellt worden. Folglich hatte die Verteidigung zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit, die Zeuginnen zu konfrontieren.

65. Was die Einführung der Aussagen von Zeugen betrifft, die bei der Hauptverhandlung abwesend sind und vom Anklagten zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens befragt werden konnten, hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Al‑Khawaja und Tahery (a. a. O., Rdnrn. 119-147) klargestellt, dass bei der Prüfung, ob die Zulassung solcher Beweismittel mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, zunächst nachgewiesen werden muss, dass für das Fehlen des Zeugen ein guter Grund bestand. Zweitens sind in Fällen, in denen die Aussage eines abwesenden Zeugen die alleinige oder entscheidende Grundlage für eine Verurteilung darstellt, hinreichende ausgleichende Faktoren erforderlich, einschließlich starker Verfahrensgarantien, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Aussagen ermöglichen (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnrn. 119 und 147).

66. Seitdem hat der Gerichtshof Fälle geprüft, bei denen es unter anderem um die Zulassung der – möglicherweise entscheidenden – Aussage eines anonymen Zeugen (Ellis und Simms ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46099/06, Rdnr. 81, 10. April 2012), um die Zulassung der – als „von erheblichem Gewicht“ bewerteten – Aussage eines anonymen Zeugen (Pesukic ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 25088/07, Rdnr. 49, 6. Dezember 2012) und um die Zulassung der – weder als alleiniges noch als entscheidendes Beweismittel bewerteten – Aussage eines abwesenden Zeugen ging (Štefančič ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 18027/05, Rdnr. 42, 25. Oktober 2012). In all diesen Fällen prüfte der Gerichtshof sodann, ob die Garantien ausreichten, um die Zulassung der nicht hinterfragten Zeugenaussagen auszugleichen, und führte eine Gesamtprüfung der Fairness des Verfahrens durch, um festzustellen, ob die Rechte des Angeklagten unangemessen eingeschränkt wurden.

67. Im Hinblick auf die Gründe für die Zulassung der Zeugenaussagen von O. und P. stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Landgericht Göttingen seine Entscheidung, die Verhandlung ohne Anhörung der Zeuginnen fortzusetzen und ihre im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen als Beweismittel zuzulassen, nicht auf die mutmaßliche Angst der Zeuginnen vor dem Aussagen stützte, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass es unmöglich gewesen sei, sie zu einer Teilnahme an der Hauptverhandlung in Deutschland zu zwingen oder ihre Vernehmung durch ein Gericht in Lettland zu veranlassen.

68. Bezüglich der Aussagen von Zeugen, bei denen sich herausstellte, dass sie zur Befragung in Anwesenheit des Angeklagten oder seines Rechtsbeistands nicht zur Verfügung standen, hat der Gerichtshof in früheren Entscheidungen festgestellt, dass die Vertragsstaaten nach Artikel 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 dazu verpflichtet sind, positive Schritte zu unternehmen, um dem Angeklagten insbesondere zu ermöglichen, Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen. Solche Maßnahmen machen einen Teil der Sorgfaltspflicht aus, der die Vertragsstaaten nachkommen müssen, um eine wirksame Ausübung der in Artikel 6 garantierten Rechte sicherzustellen (siehe Sadak u. a. ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 29900/96, 29901/96, 29902/96 und 29903/96, Rdnr. 67, ECHR 2001–VIII; D. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 30542/04, Rdnr. 41, 7. Juli 2009; und Gossa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 47986/99, Rdnr. 55, 9. Januar 2007). Jedoch gilt der Grundsatz, dass Unmögliches nicht geleistet werden muss (impossibilium nulla est obligatio); die Nichtverfügbarkeit von Zeugen macht es für sich allein genommen nicht erforderlich, die Strafverfolgung einzustellen, sofern den Behörden nicht vorgeworfen werden kann, dass sie sich nicht sorgfältig bemüht hätten, dem Angeklagten die Möglichkeit zu ihrer Befragung einzuräumen (siehe insbesondere Artner ./. Österreich, 28. August 1992, Rdnr. 21, Serie A Band 242-A; Scheper ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39209/02, 5. April 2005; Mayali ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 69116/01, Rdnr. 32, 14. Juni 2005; und H. ./. Deutschland(Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73047/01, 17. November 2005).

69. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die innerstaatlichen Behörden mehrere Versuche unternommen haben, eine Vernehmung der Zeuginnen im Rahmen der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Nachdem alle Bemühungen, O. und P. zur Hauptverhandlung vor dem Landgericht Göttingen zu laden, gescheitert waren, ersuchten die deutschen Behörden die lettischen Behörden um Rechtshilfe, um so eine Vernehmung der Zeuginnen durch ein Gericht in Lettland unter Übertragung der Vernehmung in Wort und Bild zu erwirken. Eine solche Vernehmung fand jedoch nicht statt, da die Zeuginnen vor den lettischen Gerichten unter Vorlage ärztlicher Atteste nachgewiesen hatten, dass sie infolge der Tat noch immer unter posttraumatischen Störungen litten und einen möglichen Racheakt durch die Angeklagten befürchteten. Die Einwendungen des Landgerichts, nach denen die Zeuginnen ihre Weigerung, sich vernehmen zu lassen, nach den Maßstäben der deutschen Strafprozessordnung nicht überzeugend begründet hätten, sowie den Vorschlag, die lettischen Behörden könnten ihre Teilnahme an der Verhandlung zwangsweise durchsetzen, blieben unbeantwortet. Erst zu diesem Zeitpunkt zog das Landgericht den Schluss, dass es keine weiteren rechtlichen Möglichkeiten mehr habe, eine Vernehmung von O. und P. durchzusetzen, und dass angesichts der Tatsache, dass die erst kürzlich erneuerten ärztlichen Atteste keine baldige Änderung des Gesundheitszustands der Zeuginnen erwarten ließen, eine Vernehmung der Zeuginnen in absehbarer Zeit unmöglich sei. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es angesichts der beharrlichen Weigerung der Zeuginnen, sich vernehmen zu lassen, keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die deutschen Behörden über weitere wirksame Mittel verfügt hätten, um der Verteidigung eine Konfrontation von O. und P. in der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Vielmehr teilt er die Auffassung der Regierung, dass das Landgericht sich hinreichend bemüht hat, die Vernehmung der Zeuginnen in der Hauptverhandlung zu ermöglichen, und dass es nicht den deutschen Behörden zuzurechnen war, dass alle diesbezüglichen Versuche erfolglos blieben.

70. Der Gerichtshof stellt fest, dass es für die Verteidigung zwar zweifellos besser gewesen wäre, die Zeuginnen direkt befragen zu können, die innerstaatlichen Gerichte jedoch verpflichtet waren, den Sachverhalt aufzuklären, und eine Verwertung der Aussagen von O. und P. offensichtlich im Interesse der Rechtspflege lag. Die Tatsache, dass die Zeuginnen in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung standen, durfte die Strafverfolgung nicht blockieren, und unter den Umständen stand es dem Landgericht unter der Bedingung, dass die Rechte der Verteidigung eingehalten werden, offen, auf die im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen der Zeuginnen Bezug zu nehmen, insbesondere da es diese Aussagen durch andere, in der Hauptverhandlung erhobene Beweismittel gestützt sehen konnte (vgl. Asch ./. Österreich, 26. April 1991, Rdnr. 28, Serie A Band 203; Artner, a. a. O., Rdnr. 22; und Gossa, a. a. O., Rdnr. 61).

71. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht, als es die Verlesung der Protokolle der polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Befragungen von O. und P. in der Hauptverhandlung anordnete, auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verwies. Angesichts der Tatsache, dass die Angeklagten sich zu diesem Zeitpunkt schon seit geraumer Zeit in Untersuchungshaft befunden hatten, stellt der Gerichtshof fest, dass die Begründung des innerstaatlichen Gerichts, dass eine weitere Verzögerung des Verfahrens nicht mehr gerechtfertigt sei, für die Entscheidung, die nicht hinterfragten Aussagen zuzulassen, nicht unerheblich war.

72. Im Hinblick auf die Prüfung, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers allein oder entscheidend auf die Zeugenaussagen von O. und P. gestützt war, erkennt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung an, wonach die Protokolle der im Ermittlungsverfahren gemachten Zeugenaussagen nicht die alleinigen Beweismittel vor dem Landgericht waren. Das Gericht verwies unter anderem auch auf die Aussagen weiterer bei der Verhandlung vernommener Zeugen, wie E., der Nachbarin von O. und P., und deren Freundin L., sowie die Auswertung der mittels Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten und mittels GPS gewonnen Daten.

73. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Fällen, in denen die nicht hinterfragte Aussage eines Zeugen durch andere bestätigende Beweismittel gestützt wird, die Prüfung, ob diese entscheidend ist, von der Beweiskraft der unterstützenden Beweismittel abhängt; je stärker die bestätigenden Beweismittel sind, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass die Aussagen des abwesenden Zeugen als entscheidend behandelt werden (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnr. 131). Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Generalbundesanwalt in seinen Vorbringen im Revisionsverfahren, denen sich der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 30. Oktober 2008 anschloss, darlegte, dass die Aussagen von O. und P. angesichts der wichtigen zusätzlichen Beweismittel, die das Landgericht berücksichtigt habe, nicht als alleinige Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers angesehen werden könnten. Gleichzeitig stellt der Gerichtshof fest, dass O. und P. im Hinblick auf die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Raub an sich die einzigen unmittelbaren Zeuginnen waren und dass die bestätigenden Beweismittel, auf die zur Unterstützung ihrer Tatbeschreibung verwiesen wurde, entweder selbst Beweise vom Hörensagen oder Indizienbeweise waren. Was die Vorbringen des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten in der Hauptverhandlung angeht, wonach sie zum Tatzeitpunkt beide in der Wohnung der Geschädigten anwesend gewesen seien, stellt der Gerichtshof fest, dass dies allenfalls mittelbar den Vorwurf stützen könnte, dass sie O. und P. angegriffen haben.

74. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers zwar nicht allein oder entscheidend auf die Zeugenaussagen von O. und P. gestützt gewesen sein mag, ihre Aussagen jedoch eindeutig von erheblicher Bedeutung für die Würdigung der Schuld des Beschwerdeführers waren. Dementsprechend hält er es für notwendig zu prüfen, ob geeignete kompensierende Faktoren und Garantien vorlagen (siehe Pesukic ./. Schweiz, a. a. O., Rdnr. 50), um sicherzustellen, dass der Nachteil, der dem Beschwerdeführer durch Zulassung der im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen der Zeuginnen entstanden ist, seine Verteidigungsrechte nicht in einem Maß eingeschränkt hat, der mit den Erfordernissen des Artikels 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention unvereinbar ist. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich ähnliche Erwägungen im Urteil des Landgerichts vom 25. April 2008 finden; dort heißt es, dass das Tatgericht die im Ermittlungsverfahren von O. und P., den wesentlichen Belastungszeuginnen gegen den Angeklagten, gemachten Aussagen vorsichtig würdigen müsse, da weder dem Angeklagten noch dem Verteidiger die Möglichkeit gegeben worden sei, diese zu befragen, und dass das Gericht seine Entscheidung nur dann auf diese Aussagen stützen könne, wenn sie durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt würden.

75. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das deutsche Strafprozessrecht Maßnahmen vorsieht, die es den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, die Aussagen von Zeugen, die erwartungsgemäß nicht für die Hauptverhandlung zur Verfügung stehen werden, im Ermittlungsverfahren aufzunehmen. Gleichzeitig enthält das innerstaatliche Recht in § 168c StPO Verfahrensgarantien, die der Verteidigung Gelegenheit geben, an der Vernehmung der zentralen Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren teilzunehmen. In diesem Zusammenhang erkennt der Gerichtshof die Argumentation der Regierung an, wonach die Entscheidung des Ermittlungsrichters, den Beschwerdeführer nicht über die Vernehmung der Zeuginnen im Ermittlungsverfahren zu informieren, angesichts der Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden, eine wirksame Untersuchung der in Rede stehenden Straftat durchzuführen, sowie angesichts der Notwendigkeit, O. und P., die Geschädigten und Zeuginnen der Straftat, zu schützen, gerechtfertigt gewesen sei. Angesichts der gewalttätigen Art der Begehung der untersuchten Straftat war die Sorge des Richters, dass die Verdächtigen die Zeuginnen unter Druck setzen könnten, sobald sie oder ihre Rechtsanwälte über deren Vernehmung informiert würden, wodurch die laufenden Ermittlungen gefährdet werden könnten, nicht unbegründet. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach es zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Vernehmung für die innerstaatlichen Behörden nicht absehbar gewesen sei, dass die Zeuginnen, die zuvor mehrmals bei den Ermittlungsbehörden ausgesagt hätten, sich weigern würden, zu einer späteren Hauptverhandlung zu erscheinen oder zumindestin eine Vernehmung per Videoübertragung in Lettland einzuwilligen. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass O. und P. hinsichtlich des späteren Verfahrens gegen den Beschwerdeführer kein Zeugnisverweigerungsrecht nach dem deutschen Strafprozessrecht zugestanden hat, wie es beispielsweise für Familienangehörige von Angeklagten infrage kommt (siehe im Gegensatz dazu H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 26171/07, Rdnrn. 41 und 43, 19. Juli 2012). Der Gerichtshof stellt daher fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die innerstaatlichen Behörden die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien missachtet hätten, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Rechte eines Angeklagten aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d wirksam garantiert werden.

76. Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass das Landgericht bei der Würdigung der verfügbaren Beweismittel auf den eingeschränkten Beweiswert der Protokolle von O.s und P.s Aussagen im Ermittlungsverfahren hingewiesen und sie deshalb sorgfältig geprüft hat, um die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen zu bewerten und ihre Aussagen auf mögliche Widersprüche zu untersuchen. Was die Aussagen der weiteren, in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen angeht, hat das Landgericht explizit darauf hingewiesen, dass es sich dabei um Beweise vom Hörensagen handelte, die einer besonders vorsichtigen Würdigung zu unterziehen seien.

77. Bezüglich der Aussagen von O. und P. selbst kam das Landgericht zu dem Schluss, dass die Protokolle der Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren zeigten, dass diese die Tatumstände detailreich und schlüssig geschildert hätten, und dass sich kleinere Widersprüche durch die Umstände, unter denen sie ihre Aussagen gemacht hatten, erklären ließen. Der Gerichtshof schließt sich der Feststellung des Landgerichts an, dass der Umstand, dass die von den Zeuginnen im Ermittlungsverfahren abgegebene detaillierte Schilderung der Geschehnisse mit dem übereinstimmte, was sie ihrer Freundin L. und ihrer Nachbarin E. berichtet hatten, einen wichtigen Anhaltspunkt für ihre Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen darstellte. Darüber hinaus hatte E. ausgesagt, dass am Abend der Tat eine weitere Nachbarin zu ihr gekommen sei, weil sie Lärm in der Wohnung von O. und P. gehört habe; dies stellt ein weiteres Belastungsindiz dar, das nicht aus der Schilderung der Geschädigten, sondern aus einer weiteren unabhängigen Quelle stammt. Das Landgericht war auch der Auffassung, dass die Aussagen der weiteren in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen ebenso wie die im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen von O. und P. durch die mittels Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten und mittels GPS gewonnen Daten unterstützt worden seien. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die vom Landgericht vorgebrachten Argumente für die Schlussfolgerung, die im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen von O. und P. seien glaubhaft und schlüssig, nicht unerheblich waren (siehe De Lorenzo ./. Italien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69264/01, 12. Februar 2004). Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass bei der Würdigung der Zeugenaussagen die erforderliche Sorgfalt gewahrt wurde, und das Landgericht in der Lage war, eine faire und angemessene Beurteilung der Zuverlässigkeit dieser Aussagen vorzunehmen.

78. Vor diesem Hintergrund teilt der Gerichtshof die Auffassung der Regierung und der innerstaatlichen Gerichte, dass die Zusammenschau der in der vorliegenden Rechtssache verfügbaren Beweismittel ein schlüssiges Gesamtbild der Geschehnisse ergebe, das die Version der Zeuginnen O. und P. stütze und die im Verlauf der Verhandlung gemachten widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten widerlege. In diesem Zusammenhang erkennt der Gerichtshof auch die Argumentation der Regierung an, dass die ähnliche Art der Begehung der Straftaten in Kassel und Göttingen sowie die persönliche Verbindung zwischen den zwei Straftaten, die sich aus der Tatsache ergab, dass L., die Geschädigte der zuvor in Kassel begangenen Straftat, eine Vertraute von O. und P. war, einen weiteren Anhaltspunkt dafür lieferten, dass der Beschwerdeführer mit der Begehung von Straftaten der hier in Rede stehenden Art vertraut war.

79. Der Gerichtshof übersieht nicht, dass O. und P. den Beschwerdeführer nicht als Täter identifizieren konnten, als ihnen bei der polizeilichen Befragung Lichtbilder möglicher Tatverdächtiger gezeigt wurden, und dass der Beschwerdeführer bei einer möglichen Konfrontation von O. und P. seine ursprüngliche Behauptung beweisen wollte, dass er überhaupt nicht am Tatort gewesen sei. Er stellt jedoch fest, dass der Beschwerdeführer, der zwar jegliche Beteiligung an dem Raub abstritt, im Laufe der Hauptverhandlung selbst zugegeben hat, dass er sich zum Zeitpunkt des Vorfalls in der Wohnung der Geschädigten befunden habe und P. gefolgt sei, als sie über den Balkon geflüchtet sei. Daher hätte eine mögliche Befragung der Zeuginnen durch die Verteidigung dem ursprünglich vom Beschwerdeführer verfolgten Zweck nicht mehr dienen können. In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof auch die Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach der Beschwerdeführer nicht substantiiert habe, was er mit einer Konfrontation von O. und P. weiter habe erreichen wollen, und dass er, nachdem die Protokolle ihrer Vernehmungen im Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung verlesen worden waren, nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen in Frage zu stellen. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der Beschwerdeführer die Identität von O. und P. kannte und es ihm daher offenstand, ihre Verlässlichkeit anzweifeln und auf Ungereimtheiten in ihren Aussagen oder Unstimmigkeiten mit den Aussagen der weiteren bei der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen hinzuweisen, falls er dies wünschte. Darüber hinaus konnte der Beschwerdeführer, der während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten war, seine eigene Version der Ereignisse vorbringen und die Lauterkeit der zusätzlichen, im Laufe der Hauptverhandlung erlangten Beweismittel in Frage stellen.

80. Angesichts dieser Überlegungen stellt der Gerichtshof entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers auch fest, dass der Umstand, dass der Staatsanwalt bei den Vernehmungen der Zeuginnen im Ermittlungsverfahren anwesend war und sie befragen konnte, den in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d verankerten Grundsatz der Waffengleichheit nicht verletzt hat. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Strafverfolgungsbehörden nach dem deutschen Strafprozessrecht verpflichtet sind, eine objektive und neutrale Untersuchung der in Rede stehenden Straftat durchzuführen und sowohl die be- als auch die entlastenden Umstände der Rechtssache zu berücksichtigen. Er stellt ferner fest, dass das Tatgericht nach dem innerstaatlichen Recht verpflichtet ist, die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle im Hinblick auf die Erforschung der Wahrheit und die Feststellung der tatsächlichen Umstände der Rechtssache maßgeblichen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken (siehe S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 29881/07, Rdnr. 59, 19. Juli 2012). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Strafverfolgungsbehörden oder das Landgericht Göttingen diese Anforderungen bei der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache missachtet hätten.

81. Bei der Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass hinreichende kompensierende Faktoren gegeben waren, um die aus der Zulassung der Aussagen von O. und P. resultierenden Beeinträchtigungen der Verteidigung auszugleichen. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden.

II. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN

82. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention machte der Beschwerdeführer ferner geltend, dass er in seinem Recht auf eine öffentliche Verhandlung verletzt worden sei, da der Bundesgerichtshof seine Revision gegen das Urteil des Landgerichts im schriftlichen Verfahren verworfen und in seinem diesbezüglichen Beschluss vom 30. Oktober 2008 keine Gründe angeführt habe. Das Fehlen einer Begründung mache es dem Angeklagten unmöglich, festzustellen, ob sein Anspruch auf rechtliches Gehör vom Gericht geachtet worden sei, und stehe außerdem im Widerspruch zu den Anforderungen der Strafprozessordnung. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs habe den formalen Anforderungen des innerstaatlichen Rechts demnach nicht genügt, und die Vollstreckung der in dem in Rede stehenden Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafe stellte folglich eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention dar.

83. In diesem Zusammenhang trug der Beschwerdeführer vor, es sei gängige Praxis des Bundesgerichtshofs geworden, unter Berufung auf § 318 Abs. 2 StPO auf begründeten Antrag des Staatsanwalts Angeklagtenrevisionen durch Beschluss und ohne Durchführung einer Verhandlung sowie ohne Angabe von Gründen zu verwerfen. Bei staatsanwaltschaftlichen Revisionen dagegen beraume der Bundesgerichtshof regelmäßig einen Verhandlungstermin an, und die Revisionshauptverhandlung schließe mit einem mit Gründen versehenen Urteil ab. Diese Praxis verstoße sowohl gegen das Recht des Angeklagten auf eine mündliche Verhandlung als auch gegen den Grundsatz der Waffengleichheit, die beide Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention darstellen.

84. Überdies sei der Umstand, dass nach der deutschen Strafprozessordnung ein Angeklagter beim Einlegen einer Revision anwaltlich vertreten sein müsse, gleichzeitig aber keine Gelegenheit erhalte, das Revisionsgericht zur Anberaumung einer Verhandlung zu zwingen, gleichbedeutend mit einer Verweigerung des Rechts, sich nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention selbst zu verteidigen.

85. Der Gerichtshof hat die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt er allerdings fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

86. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Die Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention wird einstimmig für zulässig und die Beschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. er erkennt mit fünf zu zwei Stimmen, dass Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 17. April 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                             Mark Villiger
Kanzlerin                                              Präsident

____________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind diesem Urteil die folgenden abweichenden Meinungen beigefügt:

(a) abweichende Meinung der Richterin Power-Forde;

(b) Erklärung des Richters Zupančič.

M.V.
C.W.

ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTERIN POWER-FORDE

1. Wenn es um die Rechtsprechung in Strafsachen geht, sind die innerstaatlichen Gerichte grundsätzlich besser geeignet als dieser Gerichtshof, das ihnen vorliegende Beweismaterial zu würdigen, da sie sich in der Hauptverhandlung einen Eindruck vom Charakter und Auftreten aller Zeugen machen können. Die Hauptaufgabe des Gerichtshofs besteht in der Prüfung, ob das Strafverfahren als Ganzes insgesamt fair war.

2. Die vorliegende Rechtssache weist jedoch Aspekte auf, die mich an der Fairness des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer erheblich zweifeln lassen. O. und P., die sich beide illegal in Deutschland aufhielten, waren mutmaßlich die Geschädigten eines Einbruchs und versuchten Raubes in ihrer Wohnung, von der aus sie Prostitution betrieben. Nach einiger Zeit machten sie Aussagen vor den Ermittlungsbehörden, die im Urteil bedauerlicherweise nicht widergegeben sind. Der genaue Inhalt der Aussagen ist daher nicht bekannt. Diese Aussagen wurden vollständig als Beweismittel gegen den Beschwerdeführer, welcher der Begehung der o. g. Straftaten beschuldigt wurde, zugelassen.

3. Weder O. noch P. – die einzigen Zeuginnen der Straftat – sagten in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers aus. Der Beschwerdeführer hatte zu keinem Zeitpunkt, also weder vor noch während der Hauptverhandlung, Gelegenheit, sie konfrontativ zu befragen. Er konnte ihre allgemeine Zuverlässigkeit als aufrichtige Personen nicht prüfen und sie auch nicht hinsichtlich ihrer Erinnerungen an die Geschehnisse befragen. Er konnte sie nicht fragen, warum sie ihn auf den Lichtbildern nicht erkannt hatten. Er konnte ihre Aussagen in keiner Weise prüfen oder deren Richtigkeitanfechten. Das Tatgericht selbst hat die zwei Hauptbelastungszeuginnen nicht angehört oder sich einen Eindruck von ihnen gemacht. Es hatte keine Möglichkeit, deren Einstellung oder Auftreten als Zeuginnen zu bewerten.

4. Die in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery ./ Vereinigtes Königreich[1]dargelegten Grundsätze sind eindeutig. Ist ein Zeuge abwesend, muss der Gerichtshof gute Gründe hierfür erkennen können. Der Gerichtshof hat eindeutig festgestellt, dass auch in Fällen, in denen die Aussage eines abwesenden Zeugen nicht das alleinige oder entscheidende Beweismittel war, Artikel 6 verletzt ist, wenn kein guter Grund für die unterbliebene Vernehmung des Zeugen angegeben wurde.[2] Denn Zeugen sollten grundsätzlich in der Hauptverhandlung aussagen und es sollten alle angemessenen Anstrengungen unternommen werden, um ihre Anwesenheit sicherzustellen.

5. In der Rechtssache Al-Khawaja und Taheryhat der Gerichtshof bei beiden Beschwerdeführern die Erklärungen geprüft, die für die Abwesenheit eines Zeugen von der Hauptverhandlung angeführt wurden. Einmal wurde Tod und einmal wurde Furcht als Ursache genannt. Es wurde anerkannt, dass die Hauptverhandlung in beiden Fällen trotz der Abwesenheit eines Zeugen fortgesetzt werden durfte. Allerdings kam der Gerichtshof zu dem folgenden Schluss:

„Angesichts des Ausmaßes der negativen Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte durch die Abwesenheit eines Zeugen möchte der Gerichtshof hervorheben, dass in Fällen, in denen ein Zeuge zu einem Zeitpunkt vor dem Verfahren vernommen wurde, die Zulassung der Verlesung einer Aussage anstelle einer Aussage in der Hauptverhandlung nur als letzter Ausweg zulässig ist. Bevor ein Zeuge wegen seiner Furcht von der Aussage befreit werden kann, muss sich das Tatgericht vergewissern, dass alle verfügbaren Alternativen – wie Anonymität des Zeugen oder andere besondere Maßnahmen – unzureichend oder undurchführbar wären.“ (Rdnr. 125)

6. Weder Tod noch Furcht wurden als Gründe für die Abwesenheit der zwei Hauptzeuginnen von der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers vorgebracht (Rdnr. 67). Der Gerichtshof stellt lediglich fest, dass sie sich „weigerten […], an der Hauptverhandlung teilzunehmen und dort auszusagen“ (Rdnr. 64). Wenn „alle verfügbaren Alternativen“ einschließlich der Durchführung „besonderer Maßnahmen“ versucht werden müssen, bevor ein Zeuge wegen Furcht von der Aussage befreit werden kann, sollte man annehmen, dass den Behörden mindestens die gleichen Bemühungen abverlangt werden, bevor ein Gericht einen Zeugen entschuldigt, der seine Anwesenheit lediglich verweigert.

7. Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass die Zulassung der nicht hinterfragten Aussagen von O. und P. in der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer ein „letzter Ausweg“ war. Abgesehen von einer gescheiterten Zeugenvernehmung (in Lettland), die für den 13. Februar 2008 vorgesehen war, und einem unbeantworteten Schreiben vom 21. Februar 2008 wurde anschließend nichts weiter unternommen, um die Zeuginnen zu einer per Videoverbindung, anonym oder auf eine andere Art und Weise erfolgenden Vernehmung zu bewegen. Es scheint, als hätten die innerstaatlichen Behörden dem Beschleunigungsgebot (Rdnr. 21) Vorrang gegenüber der gewichtigeren Verpflichtung zur fairen Verfahrensführung eingeräumt.

8. Ich teile nicht die Überzeugung der Mehrheit, dass eine Verwertung der Aussagen von O. und P. offensichtlich im Interesse der Rechtspflege lag (Rdnr. 70). Es wird erklärt, dass deren Nichtverfügbarkeit „die Strafverfolgung nicht blockieren“ durfte. Dabei wird offenbar die Tatsache übersehen, dass die Rechtspflege es manchmal, wenn die für eine Verurteilung wesentlichen Zeugen nicht konfrontativ befragt werden können und es keine hinreichenden Garantien gibt, um die Ungerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten auszugleichen, gebieten kann, eine Hauptverhandlung zu verschieben oder sogar zu verbieten.

9. Die Aussagen der abwesenden Zeuginnen in der vorliegenden Rechtssache war ersichtlich von zentraler Bedeutung für die Verurteilung des Beschwerdeführers. Bei allen anderen bestätigenden Beweismitteln handelte es sich, wie die Mehrheit anerkennt, entweder um Beweise vom Hörensagen oder um Indizienbeweise (Rdnr. 73). Aus diesem Grund sollten die ausgleichenden Garantien, die erforderlich sind, um die offensichtliche Ungerechtigkeit gegenüber dem Beschwerdeführer zu kompensieren, besonders tragfähig sein. Diese Garantien sollen sicherstellen, dass die nicht hinterfragten Aussagen nachweislich zuverlässig sind oder dass ihre Verlässlichkeit ordnungsgemäß geprüft und beurteilt werden kann (Al Khawaja, Rdnr. 139).

10. Die erste von der Mehrheit herangezogene Garantie soll § 168c StPO sein, welcher der Verteidigung die Möglichkeit einräumt, Hauptzeugen im Ermittlungsverfahren konfrontativ zu befragen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass diese Zeugen bei der Hauptverhandlung nicht werden aussagen können (Rdnr. 75). So lobenswert diese Bestimmung auch sein mag, für den Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache war sie offensichtlich von keinerlei Nutzen. Er wurde von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgeschlossen, weil der Richter befürchtete, die Zeuginnen würden in seiner Gegenwart nicht die Wahrheit sagen (Rdnr. 23). Das heißt, dass er zu diesem Zeitpunkt eindeutig ein Verdächtiger war, was die Regierung anerkennt (Rdnr. 58).

11. In derselben Strafprozessordnung (§ 141 Abs. 3) ist vorgesehen, dass der Verteidiger schon während des Vorverfahrens bestellt werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft der Auffassung ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im Hauptverfahren notwendig sein wird. Die Bestellung eines Verteidigers ist verpflichtend, wenn (wie im vorliegenden Fall) die erstinstanzliche Hauptverhandlung vor einem Landgericht stattfindet. Sie ist auch verpflichtend, wenn dem Beschuldigten (wie der vorliegende Fall erwarten ließ) ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Der Bundesgerichtshof hat bestätigt, dass die Bestellung eines Verteidigers in Betracht gezogen werden sollte, wenn die Befragung des zentralen Belastungszeugen durch den Ermittlungsrichter anstehe und der „Angeklagte von dieser Vernehmung ausgeschlossen“ werde.

12. Trotz des Bestehens dieser gesetzlichen „Garantien“ war keine davon von tatsächlichem Nutzen für den Beschwerdeführer. Obwohl die erstinstanzliche Hauptverhandlung vor dem Landgericht stattfinden sollte – was verpflichtend die gesetzliche Bestellung eines Verteidigers zur Folge haben sollte – war der Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren tatsächlich nicht anwaltlich vertreten. Freilich war er zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Verdächtiger, kein Beschuldigter. Die für seinen Ausschluss vom Ermittlungsverfahren angeführte Rechtfertigung ist jedoch bemerkenswert. So soll er ausgeschlossen worden sein, weil er nicht wirklich ein Verdächtiger gewesen sei, da sich der „dringende Tatverdacht“ gegen den Beschwerdeführer erst aus der Vernehmung selbst ergeben habe (Rdnr. 59). Diese Behauptung steht in völligem Widerspruch zu der Begründung, die der Ermittlungsrichter ursprünglich für den Ausschluss des Beschwerdeführers angeführt hatte (siehe Rdnr. 10). Die Gründefür die Nichtbestellung eines Verteidigers sind gleichermaßen außergewöhnlich. Trotz ihres bekanntermaßen rechtswidrigen Tuns und Aufenthaltsstatus soll es nicht absehbar gewesen sein, dass O. und P. sich dem Zugriff der Gerichtsbarkeit entziehen und sich weigern würden, für eine Aussage in der Hauptverhandlung zurückzukehren. Darüber hinaus wurde kein Verteidiger zur Vertretung der Interessen des Beschwerdeführers bei der Vernehmung im Ermittlungsverfahren bestellt, da ein solcher Verteidiger ihn womöglich von der Vernehmung in Kenntnis gesetzt hätte.

13. Angesichts der vorstehenden Ausführungen lässt sich schwer erkennen, wie die angeblichen, wesentlichen „Verfahrensgarantien“, die die Mehrheit heranzieht, in irgendeiner Form von Nutzen für den Beschwerdeführer gewesen sein sollen. Der Nutzen, den sie erfüllen sollen, wurde ihm nicht zuteil; somit glichen sie die Ungerechtigkeit gegenüber dem Beschwerdeführer, die dadurch entstand, dass er die zwei Hauptzeuginnen in seiner Hauptverhandlung nicht konfrontativ befragen konnte, in keiner Weise aus.

14. Die anderen im Urteil genannten Garantien – die „sorgfältige Prüfung“ der Aussagen der abwesenden Zeuginnen durch das Tatgericht und dessen Verweis auf die sorgfältige Würdigung der Beweise vom „Hörensagen“ – trugen, wenn überhaupt, nur wenig dazu bei, die Tatsache, dass der Beschwerdeführer O. und P. nicht konfrontativ befragen konnte, zu kompensieren. Die „sorgfältige Prüfung“ der Aussagen durch das Tatgericht glich nicht aus, dass der Beschwerdeführer das Auftreten und die Einstellung der Aussagenden weder beobachten noch bewerten konnte. Die vom Hörensagen gemachte Aussage der Nachbarin E. diente lediglich als Beweis dafür, dass ihr erzählt wurde, was O. und P. ihr erzählt hatten. Sie lieferte keinen Beweis für den Wahrheitsgehalt dessen, was ihr erzählt worden war. Den Indizienbeweismitteln (die GPS-Daten) – die, wie ich ebenfalls finde, die Auffassung der Staatsanwaltschaft bestenfalls mittelbar unterstützen könnten – stand jedoch eine plausible Erklärung durch den Angeklagten gegenüber (Rdnr. 30). Darüber hinaus spricht das, was die Mehrheit als „unabhängiges“ und „weiteres Belastungsindiz“ bezeichnet – nämlich E.s Behauptung, eine andere, nicht identifizierte Nachbarin habe ihr erzählt, dass sie an dem in Rede stehenden Abend „Lärm in der Wohnung von O. und P. gehört habe“ (Rdnr. 77) – kaum für eine Schuld des Beschwerdeführers.

15. Keine der Personen, die bei der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer ausgesagt haben, war am Tatort anwesend. Niemand behauptete, ihn bei der Begehung der Tat gesehen zu haben. O. und P. – beide weder gesetzestreue noch rechtmäßige Bewohnerinnen des Landes – waren die einzigen Zeuginnen der Geschehnisse vom 3. Februar 2007. Sie erstatteten nicht sofort Anzeige. Bis 12. Februar 2007 ging keine Anzeige ein. Nachdem sie im Ermittlungsverfahren ausgesagt hatten, entfernten sie sich noch vor Ablauf desselben Monats aus der Gerichtsbarkeit des beschwerdegegnerischen Staates. Auf den ihnen vorgelegten Lichtbildern erkannten sie den Beschwerdeführer nicht. Sie sagten nicht aus, dass er der Schuldige sei (Rdnr. 26). Sie sagten nicht in der Hauptverhandlung gegen ihn aus. Dennoch wurde er wegen der in Rede stehenden Straftaten verurteilt.

16. Die nicht hinterfragten Aussagen von O. und P. waren offensichtlich von großem Gewicht. Ihre Aussagen mögen zwar schlüssig gewesen sein, doch es kann nicht gesagt werden, dass sie der Kategorie von Beweismitteln angehören, die als „nachweislich zuverlässig“ bezeichnet werden können (Al-Khawaja und Tahery, Rdnr. 160). Wie in der Rechtssache Tahery wurde ihren Aussagen bei der Abwägung großes Gewicht beigemessen und sie verlangten hinreichende kompensierende Faktoren, um die sich aus ihrer Zulassung für die Verteidigung ergebenden Beeinträchtigungen auszugleichen. Aus den oben genannten Gründen stellten die von der Mehrheit herangezogenen Verfahrensgarantien weder für sich genommen noch in Kombination einen hinreichenden Ausgleich dafür dar, dass dem Beschwerdeführer das in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention garantierte Mindestrecht, die ihn belastenden Zeugen zu befragen oder befragen zu lassen, verweigert wurde.

ERKLÄRUNG VON RICHTER ZUPANČIČ

Ich teile nicht die Schlussfolgerung der Mehrheit, dass Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden ist.

___________

[1]. Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich[GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, ECHR 2011 sowie die darin aufgeführte Rechtsprechung

[2]. Siehe Al-Khawaja, Rdnr. 120.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert