RECHTSSACHE BROSA ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 5709/09

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE B. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 5709/09)
URTEIL
STRASSBURG
17. April 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache B. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 25. März 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 5709/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr B. („der Beschwerdeführer“), am 12. Januar 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in K., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass eine einstweilige Verfügung, mit der ihm die Verbreitung eines Flugblatts, das er anlässlich einer Bürgermeisterwahl verfasst habe, untersagt worden sei, sein in Artikel 10 der Konvention verankertes Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe.

4. Am 5. März 2013 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19[…] geboren und lebt in A.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Im April 2005 veröffentlichte der Beschwerdeführer in einer Lokalzeitung einen Artikel über die politische Ausrichtung des Vereins Berger-88-e.V. („der Verein“). Daraufhin veröffentlichte die Zeitung die Antwort des Vereins auf diesen Artikel; darin wurden die Aussagen des Beschwerdeführers als „geistig schwach und primitiv“ und als „gemeingefährliche Pamphlete“ bezeichnet. Die Zeitung veröffentlichte auch zwei Leserbriefe. Einer davon war von F. G. verfasst worden, einem gewählten Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, der vorbrachte, es handele sich bei dem Verein um „keine rechtsradikale Vereinigung“. Er trug vor, es sei „bedauerlich, dass es [dem Beschwerdeführer] immer wieder gelingt, seine falschen Anschuldigungen öffentlich zu machen und sich als bedauernswertes Opfer darzustellen […]“ . Weiterhin brachte er vor, dass „[der Beschwerdeführer] die derzeitige Situation insbesondere durch seine ständigen Bespitzelungen und Falschbehauptungen heraufbeschworen [hat].“

7. F. G. war auch einer der Bewerber für das Bürgermeisteramt. Im Vorfeld der Wahlen verteilte der Beschwerdeführer dann ein Flugblatt, dessen Überschrift lautete: „Wählen Sie keinen Scharfmacher“. Im Text des Flugblatts hieß es: „A. ist Sitz mehrerer Neonazi-Organisationen. Besonders gefährlich sind die Berger-88-e.V., die F. G.[Familienname ausgeschrieben] deckt.“ Auf dem Flugblatt waren auch Fotos von F. G.s Sohn, dem damaligen Vorsitzenden des Vereins, abgebildet, die spät abends von einer Sicherheitskamera auf dem Grundstück des Beschwerdeführers aufgenommen worden waren. Der Beschwerdeführer führte an, schon Opfer von Angriffen geworden zu sein. Mehrmals sei nachts seine Haustür eingeschlagen worden.

B. Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten

1. Verfahren vor dem Amtsgericht Kirchhain

8. Auf Antrag des F. G. untersagte das Amtsgericht Kirchhain dem Beschwerdeführer am 6. Juli 2005 per einstweiliger Verfügung, das Flugblatt zu verbreiten oder anderweitig Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die geeignet seien, F. G. als Unterstützer neonazistischer Organisationen darzustellen. Jede Zuwiderhandlung werde mit einem Ordnungsgeld bis zu 250.000 € bzw. Ordnungshaft bis zu sechs Monaten geahndet. Das Gericht befand, dass die Behauptung, F. G. decke eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation, dessen Persönlichkeitsrecht verletzt habe. Wegen der bevorstehenden Wahlen bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer das Flugblatt weiter verteile oder die Behauptungen in anderer Form verbreite.

9. Der Beschwerdeführer legte beim Amtsgericht Kirchhain Widerspruch ein. Er brachte u. a. vor, die Bezeichnung „88“, die für den achten Buchstaben des Alphabets (H) als Verweis auf „Heil Hitler“ stehe, werde von den Mitgliedern des Vereins in runenartiger Schrift und somit in einer Form dargestellt, die das Bundesamt für Verfassungsschutz neonazistischen Organisationen zuordne. Darüber hinaus habe der Verein am Wochenende nach Hitlers Geburtstag eine Feier veranstaltet und für die Einladung dazu die Farben Schwarz, Weiß und Rot – die Nationalfarben des Deutschen Reichs – verwendet. Zur Stützung seiner Vorwürfe verwies der Beschwerdeführer auf die Satzung des Vereins und brachte vor, dass Mitglieder des Vereins bei einem vom Verein organisierten Osterfeuer „Heil Hitler“ gerufen hätten. Schließlich brachte er vor, es gebe keinen Grund mehr, die Verfügung aufrechtzuerhalten, da die Bürgermeisterwahlen in der Zwischenzeit stattgefunden hätten.

10. Mit Urteil vom 18. August 2005[sic][1] bestätigte das Amtsgericht Kirchhain die einstweilige Verfügung. Es stellte fest, dass die Behauptung, eine bestimmte Person unterstütze eine Neonazi-Organisation, die Ehre und die soziale Geltung dieser Person und somit ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht verletze.

11. Das Gericht befand, der Beschwerdeführer habe für seine Behauptung, F. G. decke eine Neonazi-Organisation, keine hinreichenden Beweise vorgelegt. Bei seinen Vorbringen handele es sich lediglich um Mutmaßungen und subjektive Interpretationen. Folglich könne er sich nicht auf die in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte Meinungsfreiheit berufen (siehe Rdnr. 19).

12. Das Gericht befandu. a., dass der Verein laut Satzung 1988 gegründet, jedoch erst 1992 in das Vereinsregister eingetragen worden sei. Daher sei die Verwendung der Zahl 88 im Namen des Vereins nicht als Unterstützung einer neonazistischen Organisation zu interpretieren. Was den Hitlergruß bei dem Osterfeuer angehe, habe der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen, dass es sich bei den betreffenden Personen „zweifelsfrei“ um Vereinsmitglieder handele. Das Gericht räumte ein, dass die Verwendung der Runen tatsächlich einen neonazistischen Bezug haben könnte, aber nicht beweise, dass der Verein eine Neonazi-Organisation sei. Schließlich betonte das Gericht, der Beschwerdeführer habe „seine Entschlossenheit bekräftigt, sich nicht als Kritiker des Verfügungsklägers zum Schweigen bringen zu lassen“. Daher befand das Gericht, die Verfügung müsse aufrechterhalten werden, obwohl die Bürgermeisterwahl in der Zwischenzeit stattgefunden habe.

2. Verfahren vor dem Landgericht Marburg

13. Am 28. Juni 2006 wies das Landgericht Marburg die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Amtsgerichts zurück. Das Gericht stellte jedoch fest, dass über das Verbot der weiteren Verbreitung des Flugblattes nicht mehr entschieden werden müsse, da die Wahlen mittlerweile stattgefunden hätten.

14. Das Landgericht führte aus, dass das Flugblatt zwei verschiedene Tatsachenbehauptungen enthalte: zum einen die, dass Berger 88 e.V. eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation sei, und zum anderen die, dass F. G. dies gewusst und den Verein dennoch öffentlich unterstützt habe. Der Beschwerdeführer habe nicht nachgewiesen, dass diese Behauptungen wahr seien. Das Gericht räumte ein, dass es zwar einige Indizien dafür gebe, dass der Verein neonazistisch sei, „die zusammen genommen die Vermutung aufkommen lassen, dass dies alles nicht mehr bloßer Zufall ist“. Der Verein müsse es sich daher gefallen lassen, kritisch hinterfragt zu werden. Die erwähnten Indizien stellten jedoch keinen „zwingenden Beweis“ für die politische Ausrichtung des Vereins dar.

15. In jedem Fall habe der Beschwerdeführer keinerlei Beweise für seine Behauptung vorgebracht, F.G. habe den Verein gedeckt. Das Gericht interpretierte die Formulierung des Beschwerdeführers so, dass dieser F. G. Kenntnis und Billigung des Neonazismus des Vereins unterstelle. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts räumte das Landgericht ein, dass Tatsachenbehauptungen grundsätzlich in den Bereich des nach Artikel 5 GG geschützten Rechts auf freie Meinungsäußerung fielen, soweit sie meinungsbezogen seien. Der Schutz nach Artikel 5 GG erfordere jedoch, dass die meinungsbezogenen Tatsachenbehauptungen hinreichend belegt seien. Der von F.G. verfasste Leserbrief reiche diesbezüglich nicht aus.

16. Am 19. Juli 2006 erhob der Beschwerdeführer Gehörsrüge gegen die Entscheidung des Landgerichts. Er rügte darin u. a., dass das Gericht es unterlassen habe, die Strafakten gegen Mitglieder des Vereins im Hinblick auf die Begehung extremistischer Straftaten zu prüfen.

17. Am 22. Januar 2007 wies das Landgericht die Gehörsrüge zurück. Es stellte u. a. fest, dass der Beschwerdeführer nicht konkretisiert habe, welche Strafakten beizuziehen gewesen seien und im Hinblick auf welche Behauptung dies hätte geschehen sollen. Soweit der Beschwerdeführer durch die Erwähnung einer bestimmten Akte Beweis angeboten habe, sei von F. G. nicht bestritten worden, dass Mitglieder des Vereins, die Pullover mit den Vereinsabzeichen getragen hätten, auf einer vor ihm veranstalteten Wahlveranstaltung anwesend gewesen seien. Auch habe F.G.nicht bestritten, dass einzelne Mitglieder des Vereins Straftaten begangen hätten; diese seien allerdings nicht notwendigerweise extremistischer Art gewesen. Schließlich betonte das Gericht, dass es sich bei dem Verein nach Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz um eine „Kerbeburschenschaft“ handele, die man jedoch gleichwohl „im Auge behalten“ werde. Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer allenfalls einen Verdacht begründet habe, keinesfalls aber bewiesen habe, dass der Verein neonazistisch ausgerichtet sei.

3. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

18. Am 2. März 2007 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte, dass seine Gewissensfreiheit, seine Meinungsfreiheit und sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden seien. Insbesondere trug er vor, dass ihm von den Gerichten die Beweislast auferlegt worden sei, obwohl eine Beweiserbringung im Zusammenhang mit der Äußerung der eigenen Meinung nicht möglich sei.

19. Am 1. Juli 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde (1 BvR 597/07) des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

20. Die maßgeblichen Stellen von Artikel 5 des Grundgesetzes lauten wie folgt:

„[Meinungs-, Informations-, Pressefreiheit; Kunst und Wissenschaft]

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“

21. Der der einstweiligen Verfügung zugrunde liegende Anspruch gründete sich auf eine analoge Anwendung von § 823 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 1004 Abs. 1 BGB. Nach ständiger Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte kann eine Person, deren Persönlichkeitsrechte durch eine andere Person gefährdet sind, aus diesen Vorschriften unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch gegen diese Person geltend machen.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

22. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Unterlassungsverfügung sein Recht auf freie Meinungsäußerung aus Artikel 10 der Konvention verletzt habe. Artikel 10 lautet wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“

23. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

24. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

25. Der Beschwerdeführer wies die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte, seine streitgegenständlichen Äußerungen seien als „Tatsachenbehauptungen“ einzustufen, zurück und brachte vor, dass sie ihre Auffassung nicht begründet hätten. Außerdem hätten sie sich nicht dazu geäußert, wie der Beschwerdeführer, insbesondere in Anbetracht der unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs „Neonazi“, hätte nachweisen können, dass der Verein neonazistisch ausgerichtet sei.

26. Der Beschwerdeführer betonte, er habe nicht unterstellt, dass F. G. ein Neonazi sei, sondern lediglich vorgebracht, dass er den Verein decke. Die innerstaatlichen Gerichte hätten die Umstände, unter denen die angegriffenen Äußerungen erfolgt seien, nicht berücksichtigt. Der Beschwerdeführer betonte, er habe sich an einer öffentlichen Debatte im Vorfeld der Wahlen beteiligt. F. G. habe sich ebenfalls an der Debatte beteiligt und mit seinem Leserbrief, in dem er den Verein verteidigt habe, gezielt Reaktionen provoziert. Darüber hinaus habe F. G. sich an der allgemeinen Debatte über Neonazismus in der Region beteiligt.

27. Der Beschwerdeführer brachte weiter vor, dass er die tatsächlichen Grundlagen seines Werturteils, der Verein sei eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation, dargelegt habe. Dies wäre als Beweis auch dann ausreichend, wenn die angegriffene Äußerung als Tatsachenbehauptung eingestuft würde. Der Beschwerdeführer kam zu dem Schluss, dass ihm von den innerstaatlichen Gerichten Beweispflichten auferlegt worden seien, die bei Meinungsäußerungen im Rahmen einer öffentlichen Debatte nicht erfüllbar seien.

28. Der Beschwerdeführer wies schließlich die Auffassung zurück, der Eingriff in seine Meinungsfreiheit sei nicht besonders schwerwiegend gewesen. Er betonte, die Verfügung habe einen abschreckende Wirkung auf andere Personen. Außerdem sei er der Gelegenheit beraubt worden, sich im Vorfeld der Wahlen an der politischen Debatte zu beteiligen.

b) Die Regierung

29. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung gerechtfertigt gewesen sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten auf der Grundlage konventionskonformer Kriterien eine gerechte Abwägung zwischen dem Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung und F. G.s Persönlichkeitsrechten vorgenommen.

30. Die Regierung betonte, dass das Abwägungsergebnis von dem Einschätzungsspielraum gedeckt sei, der den Mitgliedstaaten bei der Auflösung dieses Spannungsverhältnisses zustehe.

31. Die Regierung brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die Äußerungen des Beschwerdeführers zu Recht als Tatsachenbehauptungen eingestuft hätten, da sie einem Wahrheitsbeweis zugänglich seien. Die innerstaatlichen Gerichte hätten die von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Nachweise umfangreich gewürdigt und seien zu dem Ergebnis gekommen, dass die Behauptungen nicht hinreichend substantiiert worden seien.

32. Die Regierung trug vor, dass im Fall unwahrer oder nicht erwiesener Tatsachenbehauptungen im Rahmen der Güterabwägung zwischen der Meinungsfreiheit und den Persönlichkeitsrechten in der Regel den Persönlichkeitsrechten Vorrang einzuräumen sei. Der in seinen Persönlichkeitsrechten Betroffene müsse eine solche unbewiesene Tatsachenbehauptung nur hinnehmen, wenn besondere Umstände vorlägen, was in dem in Rede stehenden Verfahren nicht der Fall sei.

33. Schließlich wies die Regierung darauf hin, dass der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung nicht besonders schwerwiegend gewesen sei, da man ihm lediglich untersagt habe, die streitgegenständlichen Äußerungen zu tätigen, ihn jedoch nicht mit einem Bußgeld belegt oder in anderer Weise bestraft habe.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

34. Der Gerichtshof möchte eingangs betonen, dass die in Artikel 10 Abs. 1 der Konvention garantierte Freiheit der Meinungsäußerung eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen darstellt. Nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention ist sie nicht nur auf „Informationen“ und „Ideen“ anwendbar, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch auf solche, die beleidigen, schockieren oder beunruhigen (siehe z.B. Oberschlick ./. Österreich (Nr. 2), 1. Juli 1997, Rdnr. 29, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997‑IV). Artikel 10 schützt nicht nur den Inhalt der geäußerten Ideen oder Informationen, sondern auch die Form, in der sie vermittelt werden.Die Freiheit der Meinungsäußerung unterliegt den in Artikel 10 Abs. 2 aufgeführten Ausnahmen, die jedoch eng auszulegen sind (siehe u. a. Jerusalem ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 32, ECHR 2001‑II).

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien unbestritten ist, dass die Verfügung einen Eingriff in das nach Artikel 10 Abs. 1 der Konvention garantierte Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung darstellt. Darüber hinaus war unbestritten, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und ein rechtmäßiges Ziel verfolgte, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer im Sinne von Art. 10 Abs. 2 der Konvention. Der Gerichtshof bestätigt diese Bewertung.

36. Strittig ist in diesem Fall somit, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Gemäß dem Prüfungsmaßstab der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ hat der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob der Eingriff in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig war und ob die von den nationalen Behörden zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe „zutreffend und ausreichend“ waren (siehe z. B. Feldek ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 29032/95, Rdnr. 73, ECHR 2001‑VIII, und Karman ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 29372/02, Rdnr. 32, 14 Dezember 2006).

37. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Vertragsstaaten bei der Beurteilung der Frage, ob eine solche Notwendigkeit besteht und mit welchen Maßnahmen ihr Rechnung getragen werden soll, d. h. ob und inwieweit ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung erforderlich ist, über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen. Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbegrenzt, sondern geht Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden, auch wenn sie von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Aufgabe des Gerichtshof ist es jedoch nicht, bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der nationalen Gerichte zu treten; vielmehr hat er im Lichte des Falles als Ganzem zu überprüfen, ob die von diesen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen mit Artikel 10 Abs. 2 der Konvention vereinbar sind, d.h. ob der in Rede stehende Eingriff in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig war und ob die von den nationalen Gerichten zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe „zutreffend und ausreichend“ waren (siehe u.v.a. Scharsach und News Verlagsgesellschaft ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 39394/98, Rdnr. 30 (iv), ECHR 2003‑XI).

38. Bei seiner Prüfung der besonderen Umstände der Rechtssache wird der Gerichtshof folgende Faktoren berücksichtigen: Die Stellung des Beschwerdeführers, die Stellung des Klägers in den innerstaatlichen Verfahren, der Gegenstand der Veröffentlichung und die Einstufung der angegriffenen Äußerung durch die innerstaatlichen Gerichte (vgl. z. B. Jerusalem, a.a.O., Rdnr. 35, und Karman, a.a.O., Rdnr. 33).

39. Hinsichtlich der Stellung des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei diesem um eine Privatperson handelt. Der Beschwerdeführer beteiligte sich jedoch an einer öffentlichen Diskussion über die politische Ausrichtung des Vereins. Der Gerichtshof hält dies für einen relevanten Faktor, da sich der Beschwerdeführer dadurch, dass er sich in die Arena der öffentlichen Auseinandersetzung begab, selbst einer kritischen Überprüfung aussetzte (vgl. Jerusalem, a.a.O., Rdnr. 38).

40. Hinsichtlich der Stellung des Klägers in dem innerstaatlichen Verfahren stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei F. G. um einen gewählten Stadtverordneten handelte, der sich zur maßgelblichen Zeit um das Bürgermeisteramt bewarb. Somit war er Mitglied der Stadtverwaltung und Kandidat bei öffentlichen Wahlen. Seine Stellung war also die eines Lokalpolitikers.

41. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass die Grenzen zulässiger Kritik bei einem Politiker weiter gefasst sind als bei einer Privatperson (siehe Scharsach und News Verlagsgesellschaft, a.a.O., Rdnr. 30 (iii)).Ein Politiker setzt sich notwendig und wissentlich einer kritischen Betrachtung all seiner Worte aus, so dass von ihm ein größeres Maß an Toleranz verlangt werden muss, besonders wenn er selbst öffentlich durchaus kritisierbare Äußerungen tätigt. Er hat sicherlich Anspruch auf Schutz seines guten Rufes, selbst wenn er nicht in privater Eigenschaft handelt. Zwischen den Erfordernissen dieses Schutzes und der Bedeutung, die der offenen Diskussion politischer Fragen zukommt, ist jedoch eine Abwägung vorzunehmen, da Ausnahmen vom Recht auf freie Meinungsäußerung eng auszulegen sind (siehe Oberschlick (Nr. 2), a.a.O., Rdnr. 29).

42. Der Beschwerdeführer gab ein Flugblatt heraus, mit dem er dazu aufforderte, bei den Bürgermeisterwahlen nicht für F. G. zu stimmen; er begründete dies vor allem mit F. G.s Haltung zu einem Verein, den der Beschwerdeführer für rechtsextrem hielt. In dem Flugblatt, das im Vorfeld der Bürgermeisterwahlen verteilt worden war, wurde die Auffassung des Beschwerdeführers zur Eignung des Kandidaten für das Bürgermeisteramt dargelegt; es war also politischer Natur und betraf eine Frage, die zur maßgeblichen Zeit und am maßgeblichen Ort von öffentlichem Interesse war. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang erneut fest, dass es nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der politischen Redefreiheit oder der Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses gibt (siehe Scharsach und News Verlagsgesellschaft, a.a.O., Rdnr. 30 (iii)).

43. Was die Einordnung der angegriffenen Aussage durch die innerstaatlichen Gerichte betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte der Auffassung waren, sie bestehe aus zwei Teilen: Zum einen die Behauptung, dass der Verein eine Neonazi-Organisation und darüber hinaus besonders gefährlich sei, und zum anderen die Behauptung, dass F. G. die Organisation „gedeckt“ habe. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die deutschen Gerichte beide Behauptungen ohne weitere Diskussion als Tatsachenbehauptungen einstuften. Er weist erneut darauf hin, dass zwar das Vorliegen von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ein Werturteil jedoch keinem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Das Erfordernis, die Wahrheit eines Werturteils zu beweisen, ist unmöglich zu erfüllen und verletzt daher selbst die Meinungsfreiheit, die ein grundlegender Teil des durch Art. 10 EMRK geschützten Rechts ist (siehe, u.v.a., Jerusalem, a.a.O., Rdnr. 42; Karman, a.a.O., Rdnr. 41).

44. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass der Unterschied zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem Werturteil letztlich darin liegt, wie hoch die Anforderungen an den zu erbringenden Tatsachenbeweis sein müssen, damit die Äußerung nach Artikel 10 als fairer Kommentar angesehen werden kann (siehe Scharsach und News Verlagsgesellschaft, a.a.O., Rdnr. 40, und Krone Verlag GmbH & Co KG und MEDIAPRINT Zeitungs- und Zeitschriftenverlag GmbH & Co KG ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 42429/98, 20 März 2003).

45. Hinsichtlich des ersten Elements der angegriffenen Aussage – dass der Verein eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation sei – stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer der Auffassung war, dass die von ihm dargelegten Fakten zeigten, dass der Verein eine Neonazi-Organisation sei. Die angegriffene Aussage brachte daher die Position zum Ausdruck, die der Beschwerdeführer nach der von ihm vorgenommen Einschätzung der Fakten – die richtig oder falsch sein könnte – hinsichtlich dieses Streitpunktes eingenommen hatte. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Landgericht betonte, der Verfassungsschutz werde den Verein wegen des Verdachts extremistischer Tendenzen weiter im Auge behalten, und interpretiert dies als Anzeichen einer andauernden Debatte über die politische Ausrichtung des Vereins. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs „Nazi“, ebenso wie die des davon abgeleiteten Begriffs „Neonazi“, bei denen, die ihn lesen, hinsichtlich seines Inhalts und seiner Bedeutung unterschiedliche Vorstellungen aufkommen lässt (bezüglich des Begriffs „Nazi“ und der Ableitung „Neonazi“, vgl. Karman, a.a.O. Rdnr. 40). Die Verwendung dieser Begriffe lässt sich nicht als reine Tatsachenbehauptung ansehen, da sie eindeutig auch Elemente eines Werturteils enthält, das einem Wahrheitsbeweis nicht voll zugänglich ist. Dies gilt umso mehr für die Bezeichnung als „besonders gefährliche“ Neonazi-Organisation. Daher kann der Gerichtshof die Auffassung der deutschen Gerichte, der gemäß die Aussage, der Verein sei eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation, eine reine Tatsachenbehauptung ist, nicht akzeptieren.

46. Dennoch weist er erneut auch darauf hin, dass selbst im Falle einer Äußerung, die einem Werturteil gleichkommt, die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs davon abhängen kann, ob eine hinreichende Tatsachengrundlage für die angegriffene Äußerung vorliegt, da auch ein Werturteil als überzogen angesehen werden kann, wenn es von keinerlei Tatsachen gestützt wird (siehe Jerusalem, a.a.O., Rdnr. 43; Feldek, a.a.O., Rdnr. 76 und Karman, a.a.O., Rdnr. 41).

47. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht einräumte, dass einige Indizien dafür sprechen könnten, dass es sich bei dem Verein um eine neo-nazistische Vereinigung handele, und dieses Indizien „zusammen genommen die Vermutung aufkommen lassen [können], dass dies alles nicht mehr bloßer Zufall ist“. Somit hat das Gericht im Wesentlichen zugegeben, dass die von dem Beschwerdeführers zum Ausdruck gebrachte Meinung einer faktischen Grundlage nicht entbehrte. Noch zu prüfen ist die Frage, ob diese faktische Grundlage hinreichend war.

48. Der Gerichtshof stellt fest, dass die deutschen Gerichte einen „zwingenden Beweis“ forderten und somit einen Grad an Genauigkeit anwandten, der nahe an den herankommt, der üblicherweise erforderlich ist, um die Begründetheit einer strafrechtlichen Anklage durch ein Gericht nachzuweisen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass der Grad an Genauigkeit, mit dem über die Begründetheit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden ist, kaum mit dem verglichen werden kann, der zu beachten ist, wenn jemand seine Meinung über ein Thema von öffentlichem Belang zum Ausdruck bringt. Die Standards, die bei der moralischen Beurteilung der politischen Aktivitäten einer Person angewandt werden, unterscheiden sich von denen, die für den strafrechtlichen Nachweis einer Straftat erforderlich sind (siehe sinngemäß Scharsach und News Verlagsgesellschaft, a.a.O., Rdnr. 43). Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die deutschen Gerichte bezüglich des zu erbringenden Tatsachenbeweises zu hohe Anforderungen stellten.

49. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Aussage, bei dem Verein handele es sich um eine Neonazi-Organisation, für sich genommen nicht maßgeblich ist, da es nicht der Verein war, der die einstweilige Verfügung beantragt hatte. Die Bedeutung der Aussage für die vorliegende Rechtssache liegt darin, dass die deutschen Gerichte den Begriff „deckt“ dahingehend interpretiert haben, dass F.G. von der neo-nazistischen Ausrichtung des Vereins Kenntnis hatte und diese billigte. Der defamatorische Charakter, der dem Begriff „deckt“ von den deutschen Gerichten zugeschrieben wurde, ergibt sich aus der Behauptung, bei dem Verein handele es sich um eine Neonazi-Organisation. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Beschwerdeführer nicht andeutete, dass F. G. ein Neonazi sei.

50. Was das zweite Element der angegriffenen Äußerung darstellt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff „deckt“ sich auf die Ansichten bezieht, die F. G. in seinem Leserbrief zum Ausdruck gebracht hat. Diese Äußerung war wiederum Teil einer andauernden Debatte. Diese Zusammenhänge waren auch für die Öffentlichkeit ersichtlich. Der Gerichtshof stellt fest, dass die deutschen Behörden den Begriff restriktiv auslegten, nämlich dahingehend, dass F.G. von der neo-nazistischen Ausrichtung des Vereins Kenntnis habe und diese billige. Diese Äußerung wurde daher als reine Tatsachenbehauptung eingestuft, für die es keine hinreichende Tatsachengrundlage gebe. Der Gerichtshof kann sich dieser Auffassung jedoch nicht anschließen, da sie nicht angemessen berücksichtigt, in welchem Kontext die Äußerung erfolgte. Stattdessen stellt er fest, dass der Beitrag, den F. G. mit seinem Leserbrief – in dem er betonte, der Verein weise keine rechtsextremen Tendenzen auf, und in dem er die Äußerungen des Beschwerdeführers als „Falschbehauptungen“ bezeichnete – zu der andauernden Debatte geleistet hatte, eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Äußerung des Beschwerdeführers bildet.

51. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass F. G. zur maßgeblichen Zeit Lokalpolitiker war und die laufende Debatte in der Öffentlichkeit und mit relativ harschen Worten von allen Seiten geführt wurde, und in Anbetracht des politischen Kontextes der anstehenden Kommunalwahlen stellt der Gerichtshof fest, dass die Äußerung des Beschwerdeführers die Grenzen hinzunehmender Kritik nicht überschritt.

52. Abschließend stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Gerichte dadurch, dass sie die angegriffene Äußerung als bloße Tatsachenbehauptungen betrachteten, unverhältnismäßig hohe Anforderungen an die zu erbringenden Nachweise stellten und somit keine gerechte Abwägung zwischen den einschlägigen Interessen vornahmen und kein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung, den Persönlichkeitsrechten von F. G. Vorrang vor dem Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung einzuräumen, nachwiesen, auch nicht in Anbetracht des Umstands, dass es nur um eine zivilrechtliche Unterlassungsverfügung, nicht aber um strafrechtliche Vorwürfe oder Entschädigungsforderungen ging.

53. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Behörden den ihnen zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten haben und der Eingriff im Hinblick auf das verfolgte Ziel unverhältnismäßig und nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

54. Folglich ist Artikel 10 der Konvention verletzt worden.

II. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN

55. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügte der Beschwerdeführer darüber hinaus eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren, da die innerstaatlichen Gerichte sich geweigert hätten, Zeugen zu hören und die Strafakten von Mitgliedern des Vereins beizuziehen. Nach Artikel 5 der Konvention rügte er darüber hinaus, dass Rechtsextremisten durch die von den innerstaatlichen Gerichten getroffenen Entscheidungen zu Straftaten gegen ihn ermutigt worden seien. Nach Artikel 13 der Konvention rügte der Beschwerdeführer auch, dass das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen habe.

56. Der Gerichtshof hat die übrigen von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass diese Rügen keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lassen. Daraus folgt, dass die Individualbeschwerde im Übrigen nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

57. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

58. Der Beschwerdeführer forderte 8.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er brachte vor, dass er in einer Kleinstadt von 5000 Einwohnern lebe und es für ihn besonders problematisch sei, dass er von den innerstaatlichen Gerichten keine Unterstützung erhalten habe.

59. Die Regierung hat sich zu der immateriellen Entschädigungsforderung des Beschwerdeführers nicht geäußert.

60. Im Hinblick auf die konkreten Umstände der Rechtssache setzt der Gerichtshof die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer als Entschädigung für den immateriellen Schaden 3.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zu.

B. Kosten und Auslagen

61. Unter Vorlegung von Belegen verlangte der Beschwerdeführer außerdem 2.683,02 EUR für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen. Hierzu gehörten die Gerichtskosten sowie die Gebühren, die er an seinen und an F. G.s Anwalt gezahlt habe, wie dies in dem Beschluss des Amtsgerichts Kirchhain vom 23. Oktober 2007 festgelegt worden sei.

62. Die Regierung hat sich zu der Kostenforderung des Beschwerdeführers nicht geäußert.

63. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden waren und der Höhe nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache hält es der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien für angemessen, für Kosten und Auslagen im innerstaatlichen Verfahren 2.683,02 EUR zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

64. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die sich auf die einstweilige Verfügung beziehende Rüge nach Artikel 10 der Konvention wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. Artikel 10 der Konvention ist verletzt worden;

3. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 3.000 EUR (dreitausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

ii) 2.683,02 EUR (zweitausendsechshundertdreiundachtzig Euro und zwei Cent) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;

b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für den oben genannten Betrag bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

4. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 17. April 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                Mark Villiger
Kanzlerin                                                 Präsident

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[1] Es handelt sich um das Urteil vom 8. September 2005 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2005

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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