RECHTSSACHE GRAY ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 49278/09

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE G. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 49278/09)
URTEIL
STRASSBURG
22. Mai 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache G. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Vincent A. De Gaetano,
André Potocki und
Helena Jäderblom,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 8. April 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 49278/09) gegen das Vereinigte Königreich und die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei britische Staatsangehörige, S.G. und R.G., am 10. September 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten.

2. Die Beschwerdeführer wurden durch Herrn H., Rechtsanwalt der Kanzlei Anthony Collins Solicitors LLP, B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.‑J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Unter Verweis auf die grundsätzliche Pflicht der Mitgliedstaaten nach Artikel 1 der Konvention, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern, rügten die Beschwerdeführer unter dem materiellrechtlichen Aspekt des Artikels 2 unter anderem, dass Missstände im britischen Gesundheitssystem im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Vertretungsärzten (locum doctors) und der Kontrolle der mit solchen Ärzten besetzten Bereitschaftsdienste zum Tod ihres Vaters geführt hätten, der infolge einer ärztlichen Fehlbehandlung durch den deutschen Vertretungsarzt U. verstorben sei. Sie rügten ferner, dass die sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Deutschland zu den Ursachen des Todes ihres Vaters geführten Ermittlungen die sich aus Artikel 2 der Konvention ergebenden Verfahrenserfordernisse nicht erfüllt hätten. Hilfsweise beriefen sie sich jeweils auf eine Verletzung der Artikel 8, 13 und 14 der Konvention.

4. Am 18. Dezember 2012 wurde die Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention in Teilen für unzulässig erklärt, da sie im Hinblick auf die gegen Großbritannien vorgebrachten Rügen und die Rügen nach Artikel 14 der Konvention offensichtlich unbegründet war. Gleichzeitig wurde die Rüge bezüglich der Nichterfüllung der sich aus Artikel 2 ergebenden Verfahrenserfordernisse durch die deutschen Behörden der deutschen Regierung übermittelt (siehe G. ./. Deutschlandund das Vereinigte Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 49278/09, 18. Dezember 2012).

5. Die Beschwerdeführer und die Regierung gaben jeweils Stellungnahmen zur Zulässigkeit und zur Begründetheit der Beschwerde ab. Die britische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren nach Artikel 36 der Konvention unterrichtet worden war, machte von diesem Recht keinen Gebrauch.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Die Beschwerdeführer sind Brüder. S.G. (der „erste Beschwerdeführer“) ist in B. im Vereinigten Königreich wohnhaft, während R.G. (der „zweite Beschwerdeführer“) in D., Deutschland, lebt.

7. Die Beschwerdeführer sind die Söhne des verstorbenen D.G. („Herr D.G.“ oder „der Verstorbene“), der am Abend des 16. Februar 2008 im Alter von 71 Jahren in seinem Haus in C. im Vereinigten Königreich verstarb.

8. Herr D.G. litt an Nierensteinen und hatte seit 2004 regelmäßig Hausbesuche seines Arztes erhalten, der als Allgemeinmediziner (general practioner, „GP“) für den staatlichen Gesundheitsdienst im Vereinigten Königreich (National Health Service, „NHS“) tätig war; der NHS ist vor Ort durch NHS-Erstversorgungszentren (NHS Primary Care Trusts, „PCTs“) vertreten, im vorliegenden Fall durch das NHS-Erstversorgungszentrum Cambridgeshire („PCT des Gebiets Cambridgeshire“). Der Hausarzt hatte zur Schmerzlinderung gewöhnlich Opioide gespritzt, insbesondere 100 mg-Dosen Pethidin. Von 2006 bis 2008 nahm Herr D.G. mehrmals den von der Agentur „Take Care Now“ („TCN“) angebotenen ärztlichen Bereitschaftsdienst in Anspruch; diese private Agentur rekrutiert im Vereinigten Königreich oder im Ausland für verschiedene PCTs, auch für den PCT des Gebiets Cambridgeshire, Vertretungsärzte für Bereitschaftsdiensteinsätze. Bereitschaftsdienste decken die Zeiträume ab, in denen unter der Woche und an Wochenenden und Feiertagen die Hausarztpraxen geschlossen sind.

9. Da Pethidin normalerweise nicht zur Grundausstattung der TCN-Ärzte gehört, waren dem Verstorbenen bei einigen dieser Gelegenheiten 10 mg-Dosen des Opioids Diamorphin aus dem zu der Zeit von TCN-Ärzten bei Hausbesuchen mitgeführten versiegelten Palliativbehandlungskoffer gespritzt worden. Diese Palliativbehandlungskoffer enthielten Fläschchen mit 10 und 30 mg Diamorphin zur akuten Schmerzbehandlung und auch eine wesentlich größere Ampulle mit einer 100 mg-Dosis, die für palliativmedizinisch zu versorgende Patienten vorgesehen war. An jedem Koffer waren eine Inventarliste der enthaltenen Medikamente und ein Anweisungsblatt für die Ärzte befestigt, dem Koffer lag ein Dokument bei, auf dem die relativen Wirksamkeiten der Medikamente aufgeführt waren.

10. Am Samstag, den 16. Februar 2008 trat bei Herrn D.G. eine schwere Nierenkolik auf. Am Nachmittag rief seine Lebensgefährtin die TCN-Telefonzentrale an, um einen dringenden ärztlichen Hausbesuch zu veranlassen. Sie schilderte dem TCN-Mitarbeiter, der die erste Triage am Telefon vornahm, Herrn D.G.s Krankheitsgeschichte und gab an, welche Medikamente ihm bei früheren Hausbesuchen verabreicht worden waren. Dann wurde der Fall dem Arzt U., einem deutschen Staatsangehörigen, zugewiesen, der von TCN kurz zuvor über eine Agentur rekrutiert worden war, um auf Honorarbasis Bereitschaftsdienste zu absolvieren. U., der zu dem Zeitpunkt 65 Jahre alt war, hatte in Deutschland 1972 seine Ausbildung als Arzt abgeschlossen und war dort als Schönheitschirurg tätig; formal war er in Deutschland aber auch als praktischer Arzt zugelassen. Um im Vereinigten Königreich als Vertretungsarzt arbeiten zu können, hatte er sich 2006 bei der britischen Ärztekammer (British General Medical Council, „GMC“) registrieren lassen und sich um Aufnahme in eine der von allen lokalen PCTs geführten Listen von medizinischen Leistungserbringern beworben. Sobald ein Arzt in eine solche PCT-Liste aufgenommen wird, darf er auch im Einzugsgebiet jedes anderen PCT in England arbeiten. U. hatte einen ersten Antrag auf Aufnahme in die Leistungserbringerliste von Leeds zurückgezogen, nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass er bei dem erforderlichen Englischtest keine ausreichende Punktzahl erreicht hatte. Der PCT des Gebiets Cornwall and Isles of Scilly, dem nicht bekannt war, dass U. sich bereits bei einem anderen PCT um eine Registrierung bemüht hatte, genehmigte allerdings einen späteren Antrag und nahm ihn im Juli 2007 in seine Leistungserbringerliste auf, ohne seine Englischkenntnisse zu überprüfen.

11. Am Freitag, den 15. Februar 2008 traf U. zu seinem ersten, für das bevorstehende Wochenende vorgesehenen Einsatz als Vertretungsarzt im Vereinigten Königreich ein. Laut dem von einem TCN-Arzt am 15. Februar 2008 erstellten Einführungsbericht war für eine Bewertung von U.s fachlichen Kenntnissen vor seinem ersten Dienst am nächsten Tag nicht genügend Zeit.

12. U. suchte D.G. am späten Nachmittag des 16. Februar 2008 zuhause auf. D.G. und seine Lebensgefährtin teilten ihm mit, dass er bisher in vergleichbaren Situationen zur akuten Schmerzlinderung 100 mg Pethidin gespritzt bekommen habe, oder, wenn der Bereitschaftsdienst kein Pethidin dabeigehabt habe, Diamorphin verabreicht worden sei. U. injizierte intramuskulär 100 mg Diamorphin aus der entsprechenden Ampulle aus dem Palliativbehandlungskoffer. Etwa zwei Stunden, nachdem U. gegangen war, bemerkte D.G.s Lebensgefährtin, dass er nicht mehr atmete, und rief einen Rettungswagen. Der herbeigerufene Rettungsdienst bestätigte, dass D.G. verstorben war. Die Polizei wurde informiert und erschien vor Ort.

13. Am Sonntag, den 17. Februar 2008 entband TCN U. von seinen Pflichten, beendete sein Beschäftigungsverhältnis mit sofortiger Wirkung und wies ihn an, nach Deutschland zurückzukehren, wo er am Folgetag eintraf. Später wurden noch zwei weitere Vorfälle bekannt, bei denen U. im Rahmen von Hausbesuchen am 16. Februar 2008 keine angemessene ärztliche Behandlung vorgenommen hatte.

14. Am 29. Februar 2008 kam U. erneut nach London, um an einer Anhörung vor der GMC im Zusammenhang mit den Vorfällen vom 16. Februar 2008 teilzunehmen. Mit Entscheidung vom selben Tag wurde er vom GMC vorläufig aus dem britischen Ärzteregister gestrichen.

15. Am 4. März 2008 informierte U. die zuständige deutsche Gesundheitsbehörde der Bezirksregierung Arnsberg und mit Schreiben vom 11. März 2008 auch seine Berufshaftpflichtversicherung über den Vorfall. Er erklärte, ihm sei bei der Behandlung des Verstorbenen ein schwerwiegender Fehler mit tödlichem Ausgang unterlaufen, da er die Medikamente Pethidin und Diamorphin verwechselt habe; Letzteres sei ein Medikament, das in Deutschland bei bereitschaftsärztlichen Diensten nicht verwendet werde und mit dem er nicht vertraut gewesen sei. Er sei am Tag des Vorfalls nach seiner Reise von Deutschland in das Vereinigte Königreich außerdem übermüdet gewesen und habe unter enormem Stress gestanden.

16. Auf die von dem ersten Beschwerdeführer nach dem Tod seines Vaters eingereichte Beschwerde antwortete TCN mit Schreiben vom 17. April 2008 und bekräftigte, dass U. den Anforderungen, die üblicherweise an für die Agentur tätige Vertretungsärzte gestellt würden, entsprochen habe, und dass er den vorgeschriebenen Einführungsprozess, den alle Mitarbeiter durchlaufen müssten, bevor sie zu ärztlichen Diensten eingeteilt werden könnten, abgeschlossen habe.

17. In einem am 25. Juni 2008 im Vereinigten Königreich von einem forensischen Pathologen ausgestellten Obduktionsbericht war als Ursache für D.G.s Tod eine Diamorphinvergiftung in Verbindung mit einer Alkoholintoxikation sowie eine hypertensive Herzerkrankung und eine myokardiale Fibrose angegeben. In dem Bericht hieß es ferner, dass die Diamorphininjektion mehr als nur minimal todesursächlich gewesen sei und angesichts der hohen verabreichten Dosis die zusätzliche Wirkung des Alkohols nicht notwendigerweise als Todesursache herangezogen werden müsse.

18. In einem an die Lebensgefährtin des Verstorbenen und an den ersten Beschwerdeführer gerichteten Brief vom 10. Juli 2008 entschuldigte sich U. für den ärztlichen Fehler bei der Behandlung des Verstorbenen und erklärte erneut, dass er die Opioide verwechselt habe und sich, als ihm der Fehler unterlaufen sei, in einer Stresssituation befunden habe.

19. Am 8. August 2008 nahm der Beschwerdeführer an einer weiteren Anhörung vor dem GMC in London teil, bei der seine Streichung aus dem Ärzteregister bestätigt wurde.

B. Die gegen U. im Vereinigten Königreich und in Deutschland eingeleiteten Strafverfahren

20. Nach dem Tod von D.G. leitete die Polizei Cambridgeshire wegen grob fahrlässiger Tötung strafrechtliche Ermittlungen gegen U. ein.

21. Am 5. März 2008 wandte sich die Polizeibehörde von Cambridgeshire via Interpol London mit einem Rechtshilfeersuchen an das Bundeskriminalamt und ersuchte insbesondere um Informationen zu U.s Führungszeugnis und beruflichem Werdegang. Das Ersuchen wurde an die zuständige Polizeidienststelle Bochum weitergeleitet, die der Polizei Cambridgeshire Mitte März 2008 die angeforderten Informationen und Unterlagen zur Verfügung stellte.

22. Am 21. April 2008 wandte sich die englische Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service, „CPS“) gemäß dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen von 1959 mit einem offiziellen Ersuchen an das Justizministerium Nordrhein-Westfalen und erbat Unterstützung bei der Beschaffung von Informationen hinsichtlich der ärztlichen Qualifikationen von U. sowie der Echtheit der entsprechenden Nachweise, die er bei seiner Bewerbung um Zulassung als Vertretungsarzt bei den britischen Behörden eingereicht hatte. Das Schreiben enthielt eine kurze Zusammenfassung der Umstände von D.G.s Tod und einen Hinweis darauf, dass im Vereinigten Königreich zwar noch kein Strafverfahren eingeleitet worden sei, jedoch wegen Totschlags (manslaughter), also der unrechtmäßigen Tötung eines Menschen, ermittelt werde, einer common law-Straftat, die im Falle einer Verurteilung mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft werden könne. Die CPS bat die deutschen Behörden, die entsprechenden Ermittlungen durchzuführen und Vernehmungen der maßgeblichen Zeugen in Deutschland im Beisein von Vertretern der Polizeibehörde von Cambridgeshire zu veranlassen.

23. Das Ersuchen wurde vom nordrhein-westfälischen Justizministerium an die Generalstaatsanwaltschaft Hamm sowie die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Bochum weitergeleitet. Mit Entscheidung des Bochumer Oberstaatsanwalts vom 6. Juni 2008 wurde das Rechtshilfeersuchen bewilligt; mit Schreiben vom selben Tag wurde die Polizeibehörde Bochum entsprechend informiert und aufgefordert, die erbetene Hilfe zu leisten und alle künftigen Ermittlungsmaßnahmen mit der Polizei Cambridgeshire abzustimmen.

24. Gleichzeitig leitete der Bochumer Oberstaatsanwalt nach § 152 Abs. 2 StPO i. V. m. §§ 222 und 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“) wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung von D.G. von Amts wegen in Deutschland ein Ermittlungsverfahren gegen U. ein (Az.: 49 Js 174/08). In einem Schreiben vom selben Tag wies der Bochumer Oberstaatsanwalt die Polizeibehörde Bochum an, auch im Hinblick auf das innerstaatliche Ermittlungsverfahren die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und insbesondere den anwaltlich vertretenen Verdächtigen U. zu befragen. Ferner legte er der Polizeibehörde Bochum ausdrücklich nahe, auch bei dieser Befragung die Anwesenheit von britischen Polizeibeamten zuzulassen.

25. Entsprechend dem schriftlichen Ersuchen vom 21. April 2008 kamen Mitarbeiter der Polizei Cambridgeshire von Juli bis September 2008 mehrmals nach Deutschland und wurden von den deutschen Polizeibeamten bei ihren Ermittlungen gegen U. unterstützt. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf die Echtheit der Nachweise, die U. den britischen Gesundheitsbehörden als Beleg für seine ärztlichen Qualifikationen vorgelegt hatte, sowie auf die Frage, ob die von U. durchgeführte Behandlung des Verstorbenen einen Behandlungsfehler dargestellt hatte. Auf Wunsch und im Beisein von Mitarbeitern der Polizei Cambridgeshire wurden von den deutschen Polizeibeamten u. a. Vertreter von U.s Berufshaftpflichtversicherung, Vertreter der Gesundheitsbehörde der Bezirksregierung Arnsberg und Vertreter der Ärztekammer Westfalen-Lippe als Zeugen vernommen. Die Originale der Vernehmungsprotokolle sowie das bei den Ermittlungen gewonnene Material wurden der Polizei Cambridgeshire übergeben. Am 10. Juli 2008 suchten deutsche und britische Polizeibeamte U. in seiner Wittener Praxis auf und teilten ihm mit, dass gegen ihn in Deutschland und im Vereinigten Königreich Ermittlungsverfahren anhängig seien. U. machte von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Er lehnte auch eine spätere Anfrage der Polizeibehörde von Cambridgeshire hinsichtlich einer Befragung im Vereinigten Königreich ab.

26. Außerdem wurde auf Ersuchen der Polizeibehörde von Cambridgeshire ein rechtsmedizinisches Gutachten von einem Professor des Universitätsklinikums Essen zu der Frage eingeholt, ob die von U. durchgeführte Behandlung des Verstorbenen ärztlichen Standards entsprochen habe. Der Gutachter zog als Grundlage für seinen Bericht den Inhalt der Ermittlungsakte der Polizeibehörde von Cambridgeshire heran. Im September 2008 stellte er Vertretern der Polizeibehörde von Cambridgeshire bei einem ihrer Deutschlandaufenthalte erste Ergebnisse vor. In seinem abschließenden Bericht vom 18. September 2008 bestätigte der Gutachter, dass der Tod von D.G. durch eine Überdosis Diamorphin verursacht worden sei. Er verwies darauf, dass der therapeutische Einsatz von Diamorphin in Deutschland zwar grundsätzlich nicht gestattet sei und Ärzte in Deutschland folglich in der Regel im Umgang damit nicht geschult seien, dass aber U. ungeachtet dessen die Ursache von D.G.s akuten Schmerzen nicht ausreichend untersucht und nicht geprüft habe, ob das verabreichte Medikament und dessen Dosierung eine den Umständen nach angemessene Behandlung darstellten. Der Gutachter kam zu dem Schluss, dass U. den Verstorbenen nicht adäquat behandelt und gegen elementare Grundsätze bei der ärztlichen Behandlung verstoßen habe.

27. Die Polizei Cambridgeshire wiederum stellte laut Aktenvermerk eines Bochumer Polizeibeamten vom 23. September 2008 den deutschen Kollegen auf Ersuchen bestimmte Unterlagen zur Verwendung in dem in Deutschland gegen U. geführten Ermittlungsverfahren zur Verfügung, und zwar den Obduktionsbericht vom 25. Juni 2008 sowie Aufzeichnungen der von D.G.s Lebensgefährtin nach dessen Tod gemachten Aussagen.

28. Mit Schreiben vom 1. Oktober 2008 teilte der in Deutschland tätige Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers der Staatsanwaltschaft Bochum mit, dass er den Sohn eines möglicherweise von U. am 16. Februar 2008 durch einen ärztlichen Behandlungsfehler getöteten Patienten vertrete. Der Rechtsanwalt erkundigte sich, ob gegen U. ein Ermittlungsverfahren anhängig sei, und begehrte gegebenenfalls Einsicht in die entsprechenden Ermittlungsakten. Mit Schreiben vom 23. Oktober 2008 fragte der Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers erneut nach, ob ein Ermittlungsverfahren gegen U. anhängig sei. Laut Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Bochum vom 30. Oktober 2008 wurde der Rechtsanwalt über das laufende Ermittlungsverfahren informiert; ihm wurden Ablichtungen von Auszügen aus der Ermittlungsakte, wie des rechtsmedizinischen Gutachtens vom 18. September 2008 und des Schreibens, mit dem U. im März 2008 seine Berufshaftpflichtversicherung über den Vorfall informiert hatte, übersandt.

29. Mit Schreiben vom 6. November 2008 erbat die Polizeibehörde von Cambridgeshire unter Bezugnahme auf ein am Vortag geführtes Telefonat von der deutschen Staatsanwaltschaft die Zusicherung, dass vor Abschluss der Ermittlungen im Vereinigten Königreich kein Strafverfahren gegen U. in Deutschland eingeleitet werde und dass die Informationen, die von deutschen und britischen Polizeibeamten bei ihren Deutschlandaufenthalten gemeinsam erlangt worden seien, nicht gegenüber U., Angehörigen von D.G. oder deren jeweiligen Rechtsanwälten offengelegt würden. Laut einem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Bochum vom 5. November 2008 hatte die deutsche Staatsanwaltschaft der Polizeibehörde Cambridgeshire in Beantwortung eines gleichgelagerten telefonischen Ersuchens vom selben Tag mitgeteilt, dass man aufgrund der deutschen Gesetzeslage verpflichtet gewesen sei, ein innerstaatliches Ermittlungsverfahren gegen U. einzuleiten, und dass in einem solchen Ermittlungsverfahren nach dem deutschen Strafprozessrecht sowohl dem Verteidiger des Beschuldigten als auch dem Vertreter der als Nebenkläger am Verfahren beteiligten Angehörigen des Geschädigten Akteneinsicht zu gewähren sei.

30. Am 6. November 2008 sandte der deutsche Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers unter Bezugnahme auf das unter dem Aktenzeichen 49 Js 174/08 gegen U. geführte Ermittlungsverfahren dessen Entschuldigungsschreiben vom 10. Juli 2008, das an die Lebensgefährtin des Verstorbenen und an den ersten Beschwerdeführergerichtet war, sowie das TCN-Schreiben vom 17. April 2008, das an den ersten Beschwerdeführer gerichtet war, der Staatsanwaltschaft Bochum zur Aufnahme in dieErmittlungsakte zu.

31. Am 27. Februar 2009 wurde vom Huntingdon Magistrates’ Court in Cambridgeshire Haftbefehl gegen U. erlassen. Am 12. März 2009 wurde vom Colchester Magistrates’ Court wegen des Verdachts der Herbeiführung des Todes von D.G. mit einer Überdosis Morphin ein Europäischer Haftbefehl (EuHB) gegen U. erlassen.

32. Am selben Tag, dem 12. März 2009, verfügte der Bochumer Oberstaatsanwalt den Abschluss des gegen U. geführten Ermittlungsverfahrens und beantragte beim Amtsgericht Witten, wegen der fahrlässigen Herbeiführung des Todes von D.G. nach § 222 StGB einen Strafbefehl gegen U. zu erlassen und ihm eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von 9 Monaten sowie die Zahlung eines Geldbetrags von 5.000 Euro zugunsten der Staatskasse aufzuerlegen. Dem Antrag war ein Entwurf des Strafbefehls beigefügt. Nach vorausgehenden Erörterungen mit der Staatsanwaltschaft hatte der anwaltlich vertretene U. erklärt, er werde die vorgesehene Strafe akzeptieren.

33. Die von dem Oberstaatsanwalt in dem Strafbefehlsentwurf vorgenommene Einschätzung des Sachverhalts und der Schuld von U. beruhte auf den Umständen des Falles, so wie sie den Aussagen der Lebensgefährtin des Verstorbenen nach dem Vorfall, dem Obduktionsbericht vom 25. Juni 2008, dem rechtsmedizinischen Gutachten vom 18. September 2008, dem erklärenden Schreiben von TCN an den ersten Beschwerdeführer vom 17. April 2008, U.s Mitteilung vom 11. März 2008 an seine Berufshaftpflichtversicherung sowie seinem Entschuldigungsschreiben an die Familie des Verstorbenen vom 10. Juli 2008 zu entnehmen waren. Der Oberstaatsanwalt war der Auffassung, dass zu U.s Gunsten zu berücksichtigen sei, dass er bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei, die Taten in vollem Umfang eingeräumt und sich bei den Angehörigen des Geschädigten entschuldigt habe; er habe jedoch ungeachtet der Tatsache, dass sich in dem Versorgungskoffer eine Ampulle mit einer tödlichen Dosis Morphin befunden habe, einen schweren Behandlungsfehler begangen und demnach gegen elementare ärztliche Grundsätze verstoßen.

34. Am 13. März 2009 wurde der EuHB von den britischen Behörden an das deutsche Bundeskriminalamt übermittelt.

35. Mit E-Mail-Nachricht vom 17. März 2009 erfragte die Polizei Cambridgeshire bei der Staatsanwaltschaft Bochum Einzelheiten zum Vorgehen der deutschen Behörden im Anschluss an die Übermittlung des EuHB. In ihrer Antwort vom selben Tag teilte die Staatsanwaltschaft Bochum mit, dass für die Beantwortung von Fragen im Zusammenhang mit U.s Auslieferung die Generalstaatsanwalt Hamm zuständig sei und wies darauf hin, dass ein Auslieferungshindernis bestehen könne, da in Deutschland ebenfalls ein Strafverfahren gegen U. anhängig sei. Bei einem späteren Telefonat vom selben Tag wurde die Polizei Cambridgeshire von der Staatsanwaltschaft Hamm darüber informiert, dass der EuHB angesichts des in Deutschland gegen U. anhängigen Strafverfahrens nach § 83b Abs. 1 IRG (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“) derzeit nicht vollstreckt werde.

36. Am 20. März 2009 erließ das Amtsgericht Witten wie von der Staatsanwaltschaft beantragt Strafbefehl gegen U. (49 Js 174/08). Mit einem Beschluss vom selben Tag legte das Amtsgericht eine Bewährungsfrist von zwei Jahren fest, beginnend mit dem Datum der Rechtskraft des Strafbefehls.

37. Mit Schreiben vom 23. März 2009 erkundigte sich die CPS beim Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, warum der EuHB noch nicht vollstreckt worden sei, und bat um Klarstellung, ob gegen U. in Deutschland strafrechtliche oder sonstige Verfahren geführt würden bzw. anhängig oder beabsichtigt seien, sowie um Abschriften entsprechender Gerichtsbeschlüsse.

38. Mit Fax vom 14. April 2009 ersuchte der neu bevollmächtigte, in Deutschland tätige Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers die Staatsanwaltschaft Bochum um Auskunft, ob das Ermittlungsverfahren gegen U. mittlerweile abgeschlossen und ob öffentliche Anklage erhoben worden sei. Weiterhin erkundigte sich der Rechtsanwalt, ob eine eventuelle Hauptverhandlung in Deutschland oder im Vereinigten Königreich stattfinden würde. Abschließend beantragte er Einsicht in die Akten des unter Aktenzeichen 49 Js 174/08 geführten Verfahrens. Aus einem späteren Schreiben des Rechtsanwalts vom 19. Mai 2009 geht hervor, dass seinem Antrag auf Akteneinsicht entsprochen wurde. Allerdings ist unklar, an welchem Tag zwischen 14. April und 19. Mai 2009 der Rechtsanwalt Einsicht in die Akte erhielt.

39. Am 15. April 2009 wurde der Strafbefehl vom 20. März 2009 nach § 410 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“) rechtskräftig, da U. keinen Einspruch eingelegt hatte.

40. Mit Schreiben vom 6. Mai 2009 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Hamm beim Oberlandesgericht Hamm, U.s Auslieferung in das Vereinigte Königreich für unzulässig zu erklären, da er durch rechtskräftige Entscheidung eines deutschen Gerichts für die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Straftat verurteilt worden sei und die ihm auferlegte Strafe gegenwärtig vollstreckt werde. Eine Auslieferung würde daher dem Verbot der Doppelbestrafung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 IRG sowie nach Artikel 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) zuwiderlaufen (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“).

41. Mit Beschluss vom 14. Mai 2009 erklärte das Oberlandesgericht Hamm unter Bestätigung der von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm vorgetragenen Gründe U.s Auslieferung für unzulässig.

42. Mit Schreiben vom 27. Mai 2009 informierte der Generalstaatsanwalt in Hamm den Colchester Magistrates’ Court in Chelmsford im Vereinigten Königreich über die Entscheidung des Oberlandesgerichts.

43. Mit Schreiben vom selben Tag erklärte der Bochumer Generalstaatsanwalt in Beantwortung der Anfrage der CPS vom 23. März 2009, dass er nach innerstaatlichem Recht verpflichtet gewesen sei, strafrechtliche Ermittlungen gegen U. einzuleiten, nachdem er durch das Rechtshilfeersuchen der CPS vom 21. April 2008 Kenntnis von den Umständen des Todes von D.G. erhalten habe. Er erläuterte, dass das innerstaatliche Verfahren mittlerweile abgeschlossen und U. durch rechtskräftige Entscheidung des Amtsgerichts Witten für die fahrlässige Herbeiführung des Todes von D.G. verurteilt worden sei. Dem Schreiben war eine Abschrift des entsprechenden Strafbefehls vom 20. März 2009 beigefügt.

44. Am 1. Juli 2009 trafen Vertreter der Staatsanwaltschaft Bochum, der CPS und der Polizei Cambridgeshire bei Eurojust in Den Haag zusammen, um die Durchführung des Ermittlungs- und Strafverfahrens in Deutschland zu erörtern. Der Inhalt dieses Gesprächs ist vertraulich.

45. Im August 2009 und im April 2010 erhielt der Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers erneut Einsicht in die unter dem Aktenzeichen 49 Js 174/08 geführten Akten des abgeschlossenen Strafverfahrens gegen U.

46. Aufgrund der Entscheidung der deutschen Behörden, U. nicht auszuliefern, wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren im Vereinigten Königreich eingestellt.

C. Die anschließenden Ermittlungen und Verfahren gegen U. in Deutschland

1. Das approbationsrechtliche Verfahren der Bezirksregierung Arnsberg

47. Nachdem U. die Bezirksregierung Arnsberg im März 2008 über den Tod von D.G. informiert hatte, leitete die zuständige Gesundheitsbehörde des Bezirks ein approbationsrechtliches Verfahren ein. Im Rahmen ihrer Ermittlungen führte die Gesundheitsbehörde unter anderem bei zwei Gelegenheiten, im März 2009 und im November 2010 Gespräche mit U., um die Umstände der Vorfälle vom 16. Februar 2008 aufzuklären und U.s Befähigung zur Ausübung des Arztberufs im Allgemeinen zu prüfen. Auf Ersuchen der Beschwerdeführer wurde darüber hinaus für den 27. September 2010 ein Treffen zwischen ihnen und Vertretern der Bezirksregierung Arnsberg anberaumt, bei dem sie weitere Angaben zum Sachverhalt machten.

48. Nach Abschluss ihrer Untersuchung zum Jahresende 2010 kam die Gesundheitsbehörde unter Würdigung des beruflichen Verhaltens von U. in Deutschland in den zurückliegenden 30 Jahren, der Tatsache, dass er entschlossen sei, künftig von ärztlichen Einsätzen im Ausland abzusehen, und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, die zu U.s Arztfehler geführt hatten, zu dem Schluss, dass nicht davon auszugehen sei, dass ihm in Deutschland ein ähnlicher Behandlungsfehler unterlaufen werde oder ihm die erforderliche Befähigung zur Ausübung des Arztberufs fehle. Folglich war sie der Ansicht, dass es keinen Grund gebe, U. in Deutschland die ärztliche Zulassung vorübergehend oder dauerhaft zu entziehen, und stellte das approbationsrechtliche Verfahren gegen ihn ein.

2. Das Disziplinarverfahren vor dem Verwaltungsgericht Münster

49. Mit Schriftsatz vom 15. April 2010 beantragte die Ärztekammer Westfalen-Lippe die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen U., weil dieser im Zusammenhang mit den Vorfällen vom 16. Februar 2008 gegen die Berufspflichten verstoßen habe.

50. Mit Beschluss des Berufsgerichts für Heilberufe beim Verwaltungsgericht Münster vom 27. April 2011 wurde U. wegen Missachtung der anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft bei drei Patientenkonsultationen am 16. Februar 2008, insbesondere wegen eines groben Behandlungsfehlers bei der Behandlung von D.G., ein Verweis erteilt und eine Geldbuße von 7.000 Euro auferlegt. Dieser Beschluss wurde am 4. Juni 2011 rechtskräftig.

D. Die anschließenden Ermittlungen und Verfahren gegen U. im Vereinigten Königreich

51. Nach dem Tod von D.G. wurden im Vereinigten Königreich mehrere weitere Untersuchungen und Verfahren eingeleitet. Der für die Untersuchung ungeklärter Todesfälle zuständige Verwaltungsbeamte (Cambridgeshire Coroner) führte vom 14. Januar bis zum 4. Februar 2010 eine amtliche Untersuchung der Umstände des Vorfalls durch. Er wiederholte nicht nur die Feststellung, dass der Verstorbene durch U.s unsachgemäße Behandlung fahrlässig getötet worden sei, sondern wies auch ausdrücklich auf die Mängel bei der Rekrutierung, Schulung und Kontrolle ausländischer Vertretungsärzte im Vereinigten Königreich hin. Diese Mängel waren Anlass für einen anschließenden Bericht des Coroner an den britischen Gesundheitsminister und führten zu einer Untersuchung durch den Gesundheitsausschuss des britischen Unterhauses (House of Commons Health Committee) und zu einer unabhängigen Untersuchung durch die Kommission für Pflegequalität (Care Quality Commission), einer der Fachaufsicht des Gesundheitsministeriums unterstehenden staatlichen Stelle; diese kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie der Coroner und stellten entsprechende Mängel im britischen Gesundheitswesen fest. Außerdem wurden anlässlich eines von der GMC vom 2. bis 18. Juni 2010 geführten Verfahrens, bei dem U.s Eignung zur Ausübung des Arztberufs geprüft wurde, die Umstände von D.G.s Tod weiter untersucht und zusätzliche von Sachverständigen und den Hinterbliebenen stammende Beweismittel gewürdigt. Der GMC-Ausschuss für Eignungsprüfungen (GMC Fitness to Practice Panel) war der Auffassung, dass U. gegen mehrere grundlegende Prinzipien ärztlicher Sorgfaltspflicht verstoßen habe, und beschloss, die offizielle Streichung seines Namens aus dem britischen Ärzteregister vorzunehmen. Zusätzlich machten die Beschwerdeführer 2009 vor dem High Court zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz wegen fahrlässiger Tötung (unlawful killing arising out of negligence) gegen U., gegen TCN und gegen den PCT des Gebiets Cambridgeshire geltend. Die Schadensersatzforderungen der Beschwerdeführer wurden in Bezug auf alle drei Beklagten im Dezember 2009 sowie im Januar und im August 2010 durch Vergleichsverfügungen erledigt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND VÖLKERRECHT SOWIE DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE UND VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS

A. Das einschlägige deutsche Recht im Zusammenhang mit dem gegen U. eingeleiteten Strafverfahren

52. Gemäß § 222 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) wird eine Person, die durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 12 StGB schreibt vor, dass rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind, als Vergehen zu qualifizieren sind. In § 56 Abs. 1 und 2 StGB ist festgelegt, unter welchen Bedingungen die Vollstreckung von Freiheitsstrafen, die zwei Jahre nicht übersteigen, zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

53. Die §§ 5 bis 7 StGB behandeln die deutsche Gerichtsbarkeit für im Ausland begangene Straftaten. Im maßgeblichen Abschnitt des § 7 ist festgelegt, dass das deutsche Strafrecht für im Ausland begangene Taten gilt, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist und wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war.

54. Gemäß § 152 der deutschen Strafprozessordnung (StPO) ist die Staatsanwaltschaft grundsätzlich verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass eine solche begangen wurde. § 160 StPO sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft, sobald sie durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen hat.

55. Die Vorschriften zur Verurteilung eines Straftäters durch einen Strafbefehl finden sich in den §§ 407 bis 412 StPO. Dem maßgeblichen Abschnitt von § 407 StPO zufolge können in einem Verfahren vor dem Strafrichter bei Straftaten, die als Vergehen einzustufen sind, auf schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen der Tat durch schriftlichen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung festgesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft stellt diesen Antrag, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet. Der Antrag ist auf bestimmte Rechtsfolgen zu richten. Durch ihn wird die öffentliche Klage erhoben. Durch Strafbefehl dürfen nur bestimmte Rechtsfolgen der Tat festgesetzt werden, so u. a. eine Geldstrafe, oder – wenn der Angeschuldigte einen Verteidiger hat –auch Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, sofern deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Im Falle einer Bewährungsstrafe kann ihm zusätzlich die Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse auferlegt werden (§ 56b Abs. 2 StPO). Nach § 408 Abs. 3 StPO hat der Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen, wenn dem Erlass des Strafbefehls keine Bedenken entgegenstehen. Er beraumt Hauptverhandlung an, wenn er Bedenken hat, ohne eine solche zu entscheiden, oder wenn er von der rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag abweichen oder eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag beharrt. § 409 StPO zufolge enthält der Strafbefehl u. a. Angaben zur Person des Angeklagten und etwaiger Nebenbeteiligter, die Bezeichnung der Tat, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die der Sachverhaltsdarstellung und der rechtlichen Würdigung zugrunde liegenden Beweismittel sowie die festgesetzten Rechtsfolgen. Er soll ferner eine Belehrung über die Möglichkeit des Einspruchs umfassen und darauf hinweisen, dass der Strafbefehl rechtskräftig und vollstreckbar wird, soweit gegen ihn nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung ein solcher Einspruch nach § 410 StPO eingelegt wird. Soweit gegen einen Strafbefehl kein Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.

56. Gemäß § 201 StPO teilt der Vorsitzende des Gerichts die Anklageschrift den Nebenklagebefugten mit, sofern sie dies beantragt haben. Nach § 395 StPO können Personen, deren Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner durch eine rechtswidrige Tat getötet wurden, und die demnach als durch diese Tat verletzt gelten, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen. § 396 Abs. 1 StPO bestimmt, dass eine Anschlusserklärung nur wirksam wird, wenn der Richter beschließt, Termin zur Hauptverhandlung anzuberaumen. Nach § 400 StPO können Nebenkläger das Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird.

57. Die §§ 406d bis 406h StPO verleihen Verletzten, einschließlich Personen, deren Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner durch eine rechtswidrige Tat getötet wurden, in dem hinsichtlich der zugrunde liegenden Straftat geführten Strafverfahren bestimmte Mitwirkungsrechte. Nach § 406d Abs. 1 StPO sind den Verletzten auf Antrag die Einstellung des Verfahrens und der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens mitzuteilen, soweit sie davon betroffen sind. § 406f StPO sieht vor, dass Verletzte sich des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen können. § 406e Abs. 1 StPO zufolge kann der Rechtsanwalt, der Verletzte vertritt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. Handelt es sich bei den Verletzten um die in § 395 StPO genannten Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner des Geschädigten (siehe Rdnr. 56), bedarf es der Darlegung eines solchen berechtigten Interesses nicht. § 406h Abs. 1 StPO in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sah vor, dass Verletzte auf ihre aus den §§ 406d bis 406g StPO folgenden Befugnisse und ihr Recht, sich unter den Voraussetzungen des § 395 StPO der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, hinzuweisen sind.

B. Das einschlägige deutsche Recht und Völkerrecht im Zusammenhang mit dem gegen U. eingeleiteten Auslieferungsverfahren

58. In Artikel 1 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) ist festgelegt, dass die Mitgliedsstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken. In Artikel 4 wird ausgeführt, dass die Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn die Person, gegen die er ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund derer der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird. Nach Artikel 3 lehnt die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ab, wenn sie Kenntnis davon erlangt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

59. Gemäß § 1 des deutschen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) richtet sich der Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten nach diesem Gesetz. § 1 legt weiter fest, dass Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Vorschriften des Gesetzes vorgehen. Nach § 80 Abs. 1 IRG ist die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zum Zwecke der Strafverfolgung nur zulässig, wenn gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung nach Deutschland zurückzuüberstellen, und wenn die Tat einen maßgeblichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat aufweist. Das zuständige Oberlandesgericht entscheidet auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Zulässigkeit der Auslieferung (siehe § 29 IRG). Gemäß § 83b Abs. 1 IRG kann die Bewilligung der Auslieferung abgelehnt werden, wenn gegen den Verfolgten wegen derselben Tat, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, in Deutschland ein strafrechtliches Verfahren geführt wird. Außerdem schreibt § 9 IRG vor, dass die Auslieferung nicht zulässig ist, wenn für die Tat auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist und ein innerstaatliches Gericht oder eine innerstaatliche Behörde gegen den Verfolgten wegen der Tat ein Urteil oder eine Entscheidung mit entsprechender Rechtswirkung erlassen hat.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 2 DER KONVENTION

60. Die Beschwerdeführer rügten nach Artikel 2 der Konvention i. V. m. der grundsätzlichen Pflicht des Mitgliedstaats nach Artikel 1 der Konvention, „allen [seiner] Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in [der Konvention] bestimmten Rechte und Freiheiten zu[zusichern]“, dass Deutschland im Hinblick auf den Tod ihres Vaters keine angemessene und wirksame offizielle Untersuchung vorgenommen habe. Sie rügten ferner, dass die deutschen Behörden U.s Auslieferung zur Teilnahme an einem Gerichtsverfahren im Vereinigten Königreich verweigert hätten. Diesbezüglich beriefen sie sich auf die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 2 Abs. 1, dessen erster Satz lautet:

„1. Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. […]“

und hilfsweise auf Artikel 8 der Konvention, der wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

61. Die Beschwerdeführer trugen insbesondere vor, dass das gegen U. in Deutschland eingeleitete summarische Strafverfahren keine ordnungsgemäße Ermittlung bzw. genaue Prüfung des Sachverhalts oder der entsprechenden Beweismittel umfasst habe. Außerdem hätten die deutschen Behörden sie nicht über das Verfahren informiert und ihnen so als nächste Angehörige des Verstorbenen jede Möglichkeit zur Teilhabe und Mitwirkung daran vorenthalten.

62. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

63. Die Beschwerdeführer rügten ferner, dass die Verurteilung U.s durch das Amtsgericht Witten nicht mehr angefochten werden könne, da sie Rechtskraft erlangt habe. Sie beriefen sich in dieser Hinsicht auf Artikel 13, der lautet:

„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

64. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Rügen der Beschwerdeführer im Wesentlichen die behauptete Nichterfüllung der verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 2 Abs. 1 der Konvention durch die deutschen Behörden betreffen und folglich nach dieser Bestimmung zu prüfen sind, ohne dass dabei eine gesonderte Frage nach den Artikeln 8 und 13 der Konvention aufgeworfen würde (im Hinblick auf Artikel 13 siehe ebenfalls G. ./. Deutschlandund das Vereinigte Königreich, a. a. O., Rdnr. 76).

A. Zulässigkeit

65. Die Regierung machte geltend, dass die Beschwerde in Teilen unzulässig sei, da die Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft hätten. Hilfsweise brachte sie vor, dass keine Verletzung von Artikel 2 Abs. 1 der Konvention stattgefunden habe und die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurückzuweisen sei.

66. Die Regierung räumte ein, dass den Beschwerdeführern hinsichtlich ihrer Rüge, dass das deutsche Strafverfahren keine ordnungsgemäße Untersuchung des Todes ihres Vaters umfasst habe, im deutschen Recht kein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention zur Verfügung gestanden habe. Sie führte diesbezüglich aus, dass das deutsche Recht keine Möglichkeit vorsehe, in einem Strafverfahren bestimmte Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft gegen Dritte zu fordern oder rechtlich anzugreifen. Auch gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft und der innerstaatlichen Gerichte, den Täter bei einer – wie im vorliegenden Fall – als Vergehen eingestuften Tat im Strafbefehlsverfahren ohne Abhalten einer Hauptverhandlung zu verurteilen, sehe das deutsche Strafprozessrecht für die Hinterbliebenen des Opfers einer Straftat keinen Rechtsbehelf vor.

67. Bezüglich ihrer Rüge, die deutschen Strafverfolgungsbehörden hätten in Bezug auf das Verfahren gegen U. die ihnen als nächste Angehörige des Verstorbenen nach den §§ 406d ff. StPO zustehenden Informationsrechte verletzt, hätten die Beschwerdeführer jedoch in Deutschland einen Rechtsbehelf einlegen können. Die Regierung trug allerdings vor, dass ein solcher Rechtsbehelf keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, da die innerstaatlichen Behörden den mit dem Verfahren in Zusammenhang stehenden Informationsanträgen der Beschwerdeführer vollumfänglich entsprochen hätten und so die diesbezüglichen Rechte der Beschwerdeführer gewahrt worden seien.

68. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass die Regierung offenbar einräume, dass ihnen kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf hinsichtlich ihrer Rügen zur Verfügung gestanden habe.

69. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 35 einen Beschwerdeführer lediglich dazu verpflichtet, im Rahmen des Üblichen von den Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, von denen anzunehmen ist, dass sie wirksam, angemessen und zugänglich sind. Es obliegt der Regierung, die eine Nichterschöpfung geltend macht, den Gerichtshof davon zu überzeugen, dass der Rechtsbehelf wirksam war und zur maßgeblichen Zeit in der Theorie und in der Praxis zur Verfügung stand, er also zugänglich und geeignet war, den Rügen des Beschwerdeführers abzuhelfen, und angemessene Aussicht auf Erfolg bot (siehe u. a. Sejdovic ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Rdnrn. 45 und 46, ECHR 2006-‑II). Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall die Regierung selbst vorgetragen hat, dass das innerstaatliche Recht für einen Teil der Rügen der Beschwerdeführer keinen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf bereitgehalten habe, während der zur Verfügung stehende Rechtsbehelf für die übrigen Rügen keine Aussicht auf Erfolg geboten habe.

70. Nach alledem weist der Gerichtshof die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurück. Der Gerichtshof hält die Rügen auch nicht nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention für offensichtlich unbegründet oder aus anderen Gründen für unzulässig. Dementsprechend erklärt er die Individualbeschwerde für zulässig.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Die Beschwerdeführer

71. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass angesichts der Schwere der von U. begangenen Tat das in Deutschland summarisch und im Schriftweg gegen ihn geführte Strafbefehlsverfahren und die vom Amtsgericht Witten verhängte Strafe zur Erfüllung der Artikel 2 Abs. 1 der Konvention innewohnenden verfahrensrechtlichen Garantien nicht genügten. Das Strafverfahren in Deutschland habe keine ordnungsgemäßen Ermittlungen bzw. keine genaue Prüfung des Sachverhalts oder der entsprechenden Beweismittel umfasst. Diesbezüglich wiesen die Beschwerdeführer, obgleich sie anerkannten, dass U. schriftlich gestanden hatte, dass seine ärztliche Fehlbehandlung die Ursache des Todes ihres Vaters gewesen sei, darauf hin, dass er zu keinem Zeitpunkt förmlich von den deutschen Strafverfolgungsbehörden oder einem deutschen Tatrichter befragt worden sei.

72. Die Beschwerdeführer räumten ein, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich zur Vermeidung überlasteter Justizsysteme berechtigt sei, für einen Teil des Fallaufkommens ein Verfahren im Schriftweg vorzusehen. Die vorliegende Rechtssache sei jedoch kein typischer Fall, denn sie weise eine internationale Dimension auf, da im Vereinigten Königreich und in Deutschland zeitgleich Ermittlungen anhängig gewesen seien und die britischen Polizeibehörden die deutschen Stellen darüber informiert hätten, dass sie weiterhin beabsichtigen, gegen U. vorzugehen. Diesbezüglich verwiesen die Beschwerdeführer auch darauf, dass 2007 über zwei Vorkommnisse berichtet worden sei, bei denen Vertretungsärzte, die in Deutschland ausgebildet worden seien und zuvor dort praktiziert hätten, bei der Behandlung von Patienten im Vereinigten Königreich bei zwei voneinander unabhängigen Gelegenheiten Diamorphinüberdosen aus Palliativbehandlungskoffern verabreicht hätten. Die Beschwerdeführer vertraten die Ansicht, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, in einem derart ungewöhnlichen und heiklen Fall wie dem vorliegenden ein summarisches Strafbefehlsverfahren zu beantragen, fragwürdig sei.

73. Ferner trugen sie vor, dass die Staatsanwaltschaft Bochum sie nicht über ihre verschiedenen Verfahrensrechte als nächste Angehörige des Verstorbenen nach § 406h StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“) informiert habe, so dass diese in der Praxis nicht wirksam geworden seien. Außerdem hätten sie keinen Gebrauch von ihrem Recht machen können, sich in dem Verfahren gegen U. der öffentlichen Klage als Nebenkläger anzuschließen, da die Staatsanwaltschaft den Rechtsanwalt, der den zweiten Beschwerdeführer in Deutschland vertreten habe, nicht über die Beendigung des Ermittlungsverfahrens und die Entscheidung informiert habe, dass zur Bestrafung von U. ein Strafbefehl beantragt werde. Soweit das deutsche Strafprozessrecht der Staatsanwaltschaft keine ausdrücklich Pflicht auferlege, etwaige Nebenkläger über den Stand anhängiger (Ermittlungs- bzw.) Strafverfahren auf dem Laufenden zu halten, seien nach Auffassung der Beschwerdeführer im innerstaatlichen Recht die sich aus Artikel 2 Abs. 1 ergebenden verfahrensrechtlichen Garantien nicht vollständig umgesetzt. In diesem Zusammenhang machten sie geltend, dass die deutschen Behörden die von ihnen beabsichtigte strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung U.s in Deutschland verheimlicht hätten, um seine Auslieferung in das Vereinigte Königreich zu verhindern, wo er für die fahrlässige Tötung ihres Vaters eine schwerere Strafe zu erwarten gehabt hätte.

b) Die Regierung

74. Die Regierung legte dar, dass in der deutschen Rechtsordnung ein den verfahrensrechtlichen Garantien aus Artikel 2 Abs. 1 nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs (zitiert wurden Šilih ./. Slowenien [GK], Individualbeschwerde Nr. 71463/01, Rdnrn. 192 und 195, 9. April 2009; und Calvelli und Ciglio ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 32967/96, Rdnr. 49, ECHR 2002‑I) entsprechendes wirksames und unabhängiges Justizsystem zur Verfügung stehe, um bei Todesfällen durch ärztliche Fehlbehandlung die Todesursache festzustellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. In diesem Justizsystem seien die Hintergründe und Umstände des Todes von D.G. prompt und gründlich ermittelt und gewürdigt worden.

75. Die Regierung war im Gegensatz zum Vortrag der Beschwerdeführer der Ansicht, dass die Tatsache, dass U. in einem summarischen Strafverfahren ohne Abhalten einer Hauptverhandlung verurteilt worden sei, keinen Einfluss auf Umfang und Qualität der zugrunde liegenden Ermittlungen gehabt habe. Die zum Antrag auf Erlass eines Strafbefehls führenden Ermittlungen würden sich nicht von denjenigen unterscheiden, auf die eine Hauptverhandlung folge.

76. Die Regierung erläuterte, dass nach § 407 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“) die Staatsanwaltschaft verpflichtet sei, einen Antrag auf Durchführung des Strafbefehlsverfahrens zu stellen, wenn im Hinblick auf ein Vergehen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens so hinreichendes Material erhoben worden sei, dass eine umfassende Würdigung der Rechtssache durch den Strafrichter möglich sei und eine Hauptverhandlung keine Abweichungen vom Ermittlungsergebnis erwarten lassen würde. Diese Voraussetzungen lagen nach Auffassung der Regierung in der vorliegenden Rechtssache eindeutig vor. Ferner sei das Abhalten einer Hauptverhandlung auch nicht aus Gründen der Spezial- oder Generalprävention angezeigt gewesen. Diesbezüglich wurde ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, unter denen der zum Tod von D.G. führende Behandlungsfehler aufgetreten sei, und der Tatsache, dass U. in Deutschland bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, nicht davon auszugehen gewesen sei, dass ihm in Deutschland ein ähnlicher Behandlungsfehler unterlaufen würde.

77. Dementsprechend sei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, U.s Verurteilung im Strafbefehlswege zu beantragen, gerechtfertigt gewesen, und das Recht der Beschwerdeführer, sich der öffentlichen Klage als Nebenkläger anzuschließen, nicht nach § 396 Abs.1 StPO wirksam geworden, da vom Tatgericht kein Termin zur Hauptverhandlung anberaumt worden sei (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“). In diesem Zusammenhang verwies die Regierung darauf, dass es für potentielle Nebenkläger keine rechtliche Handhabe gegen die Entscheidung der innerstaatlichen Behörden, einen Beschuldigten in einem summarischen Verfahren ohne Hauptverhandlung zu verurteilen, gebe. Aus diesem Grund erlege das deutsche Strafprozessrecht der Staatsanwaltschaft nicht die Pflicht auf, potentielle Nebenkläger über ihre Entscheidung zur Beantragung eines Strafbefehls zu informieren.

78. Die Regierung trug ferner vor, die Rechte der Beschwerdeführer als nächste Angehörige des Verstorbenen seien während des strafrechtlichen Verfahrens gegen U. vollständig gewahrt worden. Ihnen sei wirksamer Zugang zum Ermittlungsverfahren gewährt worden und sie seien entsprechend den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Anforderungen ausreichend in das Verfahren einbezogen werden, um ihre legitimen Interessen wahrzunehmen. Die Regierung führte in diesem Zusammenhang aus, dass die Beschwerdeführer über den in Deutschland tätigen Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers von vornherein in das Verfahren gegen U. einbezogen worden seien und stets gemäß ihren an die Strafverfolgungsbehörden gerichteten Anfragen Auskunft erhalten hätten.

79. Die Regierung zog den Schluss, dass das in Rede stehende Verfahren den Verfahrenserfordernissen aus Artikel 2 der Konvention voll entsprochen habe.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

80. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die verfahrensrechtliche Verpflichtung aus Artikel 2 den Staaten die Errichtung eines wirksamen und unabhängigen Justizsystems auferlegt, damit die Todesursache von Patienten unter ärztlicher Obhut im privaten wie im öffentlichen Sektor festgestellt werden kann und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können (siehe u. a. Šilih ./. Slowenien, a. a. O., Rdnr. 192; Powell ./. das Vereinigte Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45305/99, ECHR 2000‑V; und Calvelli und Ciglio, a. a. O., Rdnr. 49).

81. Auch wenn die Konvention an sich keinen Anspruch auf Einleitung eines Strafverfahrens gegen Dritte vorsieht, wurde vom Gerichtshof doch mehrfach ausgeführt, dass das nach Artikel 2 geforderte wirksame Justizsystem auch den Rückgriff auf strafrechtliche Maßnahmen miteinschließen kann und unter bestimmten Umständen auch muss. Wird jedoch das Recht auf Leben oder auf körperliche Unversehrtheit nicht absichtlich verletzt, erfordert die aus Artikel 2 resultierende verfahrensrechtliche Verpflichtung zur Errichtung eines wirksamen Justizsystems nicht notwendigerweise in allen Fällen die Möglichkeit einer strafrechtlichen Handhabe (siehe Mastromatteo ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 37703/97, Rdnr. 90, ECHR 2002‑VIII). Im besonderen Bereich der Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht kann die Verpflichtung aus Artikel 2 beispielsweise auch erfüllt werden, wenn die Rechtsordnung den Opfern den Rechtsweg zu den Zivilgerichten – für sich genommen oder in Verbindung mit dem Rechtsweg zu den Strafgerichten – eröffnet, so dass die Verantwortlichkeit der betreffenden Ärzte festgestellt und angemessene zivilrechtliche Wiedergutmachung, etwa der Zuspruch von Schadensersatz und/oder eine Veröffentlichung der Entscheidung, erwirkt werden kann. Auch disziplinarrechtliche Maßnahmen können in Betracht kommen (Calvelli und Ciglio, a. a. O., Rdnr. 51; und Vo ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 53924/00, Rdnr. 90, ECHR 2004‑VIII).

82. Die Verpflichtung des Staates nach Artikel 2 der Konvention ist nicht erfüllt, wenn der vom innerstaatlichen Recht gewährte Schutz nur in der Theorie existiert – er muss vor allem in der Praxis wirksam funktionieren, und das erfordert eine umgehende Prüfung der Rechtssache ohne unnötige Verzögerungen (siehe Šilih, a. a. O., Rdnr. 195; Calvelli und Ciglio, a. a. O., Rdnr. 53; Lazzarini und Ghiacci ./. Italien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53749/00, 7. November 2002; Byrzykowski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 11562/05, Rdnr. 117, 27. Juni 2006).

83. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall die Beschwerdeführer keineswegs behaupten, der Tod ihres Vaters sei absichtlich herbeigeführt worden. Offenbar stellen sie auch nicht infrage, dass in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich ein effektives und unabhängiges Justizsystem zur Verfügung steht, um bei Todesfällen unter ärztlicher Obhut die Todesursache festzustellen und die für die unrechtmäßige fahrlässige Tötung Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung trug in diesem Zusammenhang vor, dass bei Todesfällen infolge ärztlicher Fehlbehandlung die Hinterbliebenen Strafanzeige gegen die mutmaßlich Verantwortlichen stellen können, sofern die Staatsanwaltschaft nicht bereits von Amts wegen ermittelt. Außerdem können die Hinterbliebenen gegen die für den Tod des Geschädigten Verantwortlichen vor den Zivilgerichten Schadensersatzforderungen wegen Fahrlässigkeit geltend machen. Zudem können je nach Fallkonstellation disziplinarrechtliche oder verwaltungsrechtliche Sanktionen gegen diejenigen verhängt werden, die den unrechtmäßigen Todesfall zu verantworten haben.

84. Was die Umstände des vorliegenden Falles anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden im Juni 2008 auf eigene Veranlassung strafrechtliche Ermittlungen zu den Umständen des Todes von D.G. aufnahmen, nachdem sie im Zusammenhang mit einem von britischer Seite gestellten Rechtshilfeersuchen von dem Vorfall Kenntnis erlangt hatten. Im Rahmen des anschließenden Ermittlungsverfahrens in Deutschland wurden von den deutschen Ermittlungsbehörden schlüssig und zügig die Todesursache sowie U.s Anteil an dem zugrunde liegenden Geschehen festgestellt. Gemeinsam mit britischen Kollegen vernahmen deutsche Polizeibeamte u. a. Vertreter von U.s Berufshaftpflichtversicherung, Vertreter der Gesundheitsbehörde der Bezirksregierung Arnsberg und Vertreter der Ärztekammer Westfalen-Lippe als Zeugen, um U.s ärztliche Qualifikationen zu prüfen und festzustellen, ob die von U. an dem Verstorbenen vorgenommene Behandlung einen ärztlichen Behandlungsfehler dargestellt hatte. Weitere schriftliche Beweismittel wurden von der Polizei Cambridgeshire zur Verfügung gestellt, so beispielsweise der Obduktionsbericht vom 25. Juni 2008 sowie Aufzeichnungen von Aussagen, die D.G.s Lebensgefährtin nach dessen Tod gemacht hatte. Die Staatsanwaltschaft berücksichtigte auch das Sachverständigengutachten eines Professors des Universitätsklinikums Essen zu der Frage, ob U.s Behandlung des Verstorbenen ärztlichen Standards entsprach, sowie zu den Schlüssen, die aus den in den Ermittlungsakten der Polizei Cambridgeshire enthaltenen Informationen gezogen wurden. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden unternahmen auch einen Versuch, U. zu vernehmen; dieser machte jedoch von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass U. von vornherein schriftlich eingestanden hat, dass seine ärztliche Fehlbehandlung die Ursache von D.G.s Tod gewesen ist. Die Darstellung des Vorfalls in seinem an die Lebensgefährtin des Verstorbenen und den ersten Beschwerdeführer gerichteten Entschuldigungsschreiben vom 10. Juli 2008 sowie in seinem Schreiben vom 11. März 2008 an seine Berufshaftpflichtversicherung stimmte mit den Aussagen der übrigen Zeugen und Sachverständigen überein, die im Verlauf der Ermittlungen befragt worden waren.

85. Angesichts dieser Umstände ist der Gerichtshof überzeugt, dass das in Deutschland geführte Strafverfahren die Ermittlungsbehörde in die Lage versetzte, die Ursache des Todes von D.G. und U.s diesbezügliche Verantwortlichkeit festzustellen. In Anbetracht des gesamten verfügbaren Beweismaterials akzeptiert der Gerichtshof die Einschätzung der Regierung, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, eine Verurteilung U.s in einem summarischen Verfahren ohne Hauptverhandlung zu beantragen, gerechtfertigt gewesen sei, und dass dem Amtsgericht Witten ausreichende Beweismittel für eine gründliche Würdigung der Umstände des Falles und der Schuld von U. zur Verfügung gestanden hätten. Er stellt ferner fest, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Strafbefehlsverfahren nicht im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht durchgeführt worden wäre oder dass die Beweisergebnisse, zu denen die Staatsanwaltschaft oder der Tatrichter gelangten, unbegründet gewesen seien. Der Gerichtshof nimmt auch den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach nicht davon auszugehen gewesen sei, dass U. bei einer ärztlichen Tätigkeit in Deutschland ein ähnlicher Behandlungsfehler unterlaufen würde, so dass kein Grund bestanden habe, ausnahmsweise eine Hauptverhandlung abzuhalten, um im vorliegenden Fall aus generalpräventiven Gründen einer verstärkten öffentlichen Prüfung Raum zu geben.

86. Im Hinblick auf die Vorwürfe der Beschwerdeführer, sie seien in das in Deutschland gegen U. geführte Strafverfahren nicht hinreichend eingebunden gewesen, stellt der Gerichtshof fest, dass die deutsche Staatsanwaltschaft die Beschwerdeführer nicht auf eigene Veranlassung über die Einleitung der in Rede stehenden strafrechtlichen Ermittlungen informierte. Sie setzte die Beschwerdeführer auch nicht von ihrer Entscheidung vom 12. März 2009, eine Verurteilung U.s im Strafbefehlswege zu beantragen, in Kenntnis und informierte – auf die Kontaktaufnahme des Rechtsanwalts des zweiten Beschwerdeführers hin – die Beschwerdeführer selbst nicht umfassend über ihre Rechte. Offenbar erfuhren die Beschwerdeführer erst, dass vom Amtsgericht Witten am 20. März 2009 ein Strafbefehl gegen U. ausgestellt worden war, nachdem dieser am 15. April 2009 rechtskräftig geworden war.

87. Der Gerichtshof erkennt an, dass, wie von der Regierung vorgetragen, nach dem deutschen Strafprozessrecht die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet war, die Beschwerdeführer von sich aus über die Einleitung und den Stand des Verfahrens gegen U. zu informieren. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass sich im vorliegenden Fall eine solche Verpflichtung nicht aus den Verfahrenserfordernissen nach Artikel 2 der Konvention ableitet. Der Gerichtshof wiederholt in diesem Zusammenhang, dass er in früheren Entscheidungen, die die Verantwortlichkeit staatlicher Amtsträger im Zusammenhang mit Todesfällen betrafen, festgestellt hat, dass nach Artikel 2 Abs. 1 bei der behördlichen Untersuchung der zugrunde liegenden Ereignisse „die nächsten Angehörigen des Opfers in dem zur Wahrung ihrer rechtmäßigen Interessen erforderlichen Umfang in den Prozess einzubinden“ sind (siehe Hugh Jordan ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 24746/94, Rdnr. 109, ECHR 2001‑III (Auszüge); und Kelly u. a. ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 30054/96, Rdnr. 98, 4. Mai 2001). Er stellt allerdings fest, dass die vorliegende Beschwerde keinen Fall betrifft, bei dem es um die Beteiligung von Amtsträgern an einem Todesfall geht oder bei dem die Umstände des Todes suspekt oder unklar gewesen sind. Der Gerichtshof erinnert ferner daran, dass im Bereich der Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht die aus Artikel 2 resultierende verfahrensrechtliche Verpflichtung nicht notwendigerweise die Möglichkeit der Beschreitung des Rechtswegs zu den Strafgerichten erfordert und es demnach fraglich sein kann, ob und inwieweit die Einbindung der Beschwerdeführer als nächste Angehörige erforderlich ist, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Strafverfolgungsbehörden auf eigene Veranlassung diesen Rechtsweg beschreiten. Der Gerichtshof merkt an, dass, selbst unter der Annahme, dass im vorliegenden Fall ähnliche Erwägungen gelten würden wie in den vorstehend zitierten Rechtssachen, die Beschwerdeführer wie im Folgenden dargestellt in das strafrechtliche Verfahren gegen U. eingebunden waren.

88. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die deutsche Staatsanwaltschaft im Juni 2008 von Amts wegen ein strafrechtliches Verfahren gegen U. einleitete, noch bevor sie von den Beschwerdeführern als etwaigen Hinterbliebenen Kenntnis hatte. Er merkt an, dass weder das deutsche Recht noch die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 2 Abs. 1 nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Strafverfolgungsbehörden die Pflicht auferlegen, auf eigene Veranlassung nach den Hinterbliebenen eines Opfers zu suchen, um diese über die Einleitung der Ermittlungen oder ihre diesbezüglichen Verfahrensrechte zu informieren. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem das Opfer ein Ausländer war und die in Rede stehenden Vorfälle sich im Ausland ereigneten, würde die Erfüllung einer solchen Pflicht für die innerstaatlichen Behörden eine besondere Belastung darstellen.

89. In der Folge teilte der in Deutschland tätige Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers der Staatsanwaltschaft Bochum mit Schreiben vom 1. Oktober 2008 mit, dass er einen Sohn des Verstorbenen vertrete. Er erkundigte sich, ob gegen U. ein Ermittlungsverfahren anhängig sei, und begehrte Einsicht in die entsprechenden Ermittlungsakten. Auf seine erneute schriftliche Nachfrage vom 23. Oktober 2008 hin wurde er von der Staatsanwaltschaft über das Ermittlungsverfahren informiert und es wurden ihm Ablichtungen von Auszügen aus der Ermittlungsakte übersandt. Der Gerichtshof merkt weiter an, dass die Beschwerdeführer im Verlauf des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit hatten, zu den Ermittlungen beizutragen. So übersandte beispielsweise der Rechtsanwalt des zweiten Beschwerdeführers zur Aufnahme in die Ermittlungsakte am 6. November 2008 U.s Entschuldigungsschreiben vom 10. Juli 2008 sowie das Schreiben von TCN vom 17. April 2008 an die Staatsanwaltschaft Bochum.

90. Folglich machten die Beschwerdeführer in dem Verfahren gegen U. von ihren Rechten als Verletzte nach den §§ 406d bis 406g StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis) Gebrauch. Wie von der Regierung vorgetragen, war es daher für die Strafverfolgungsbehörde nicht erforderlich, den Beschwerdeführern diesbezüglich weitere Informationen zukommen zu lassen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass diese während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten waren. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass U. von vornherein eingestanden hatte, durch ärztliche Fehlbehandlung fahrlässig den Tod von D.G. herbeigeführt zu haben, muss dem Rechtsanwalt bewusst gewesen sein, dass im vorliegenden Fall nach dem deutschen Strafprozessrecht eine Verurteilung U.s im Strafbefehlswege in Betracht kam.

91. Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass die Entscheidung der deutschen Behörden, U. in einem summarischen Verfahren zu verurteilen, ohne die Beschwerdeführer vorher über ihre diesbezügliche Absicht in Kenntnis zu setzen, die rechtmäßigen Interessen der Beschwerdeführer als Verletzte oder potentielle Nebenkläger nicht beeinträchtigte. In dieser Hinsicht verweist der Gerichtshof auf den Vortrag der Regierung, wonach als Folge der gerechtfertigten Entscheidung der innerstaatlichen Behörden, ein summarisches Verfahren durchzuführen und von der Anberaumung einer Hauptverhandlung abzusehen (siehe Rdnrn. 84 und 85), das Recht der Beschwerdeführer, sich der öffentlichen Klage als Nebenkläger anzuschließen, nicht wie in § 396 Abs. 1 StPO vorgesehen wirksam wurde (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und Völkerrecht und die einschlägige innerstaatliche und völkerrechtliche Praxis“). Der Gerichtshof lässt ferner die Argumentation der Regierung gelten, dass, da die Umstände des Falles im Laufe des Ermittlungsverfahrens hinreichend festgestellt worden seien, eine Beteiligung der Beschwerdeführer an einer etwaigen Hauptverhandlung zwar für die Hinterbliebenen möglicherweise von kathartischer Wirkung gewesen wäre, aber keinen weiteren Beitrag zur Würdigung der Rechtssache durch das Tatgericht hätte liefern können. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Beschwerdeführer nicht dargelegt haben, welcher Aspekt von U.s Verantwortung für die im Tod des Vaters der Beschwerdeführer resultierende Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht ausreichend erhellt worden sei. Überdies hätten die Beschwerdeführer, selbst wenn eine Hauptverhandlung anberaumt worden wäre, nach § 400 Abs. 1 StPO nicht das Recht gehabt, das Urteil des Tatgerichts mit dem Ziel anzugreifen, dass U. eine schwerere Strafe auferlegt werde.

92. Angesichts der vorstehenden Erwägungen sieht der Gerichtshof keine Anhaltspunkte dafür, dass die rechtmäßigen Interessen der nächsten Angehörigen des Verstorbenen in dem innerstaatlichen Verfahren missachtet worden wären.

93. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer in Wirklichkeit den Umstand rügten, dass U. in Deutschland verurteilt wurde, und nicht im Vereinigten Königreich, wo er möglicherweise eine schwerere Strafe zu erwarten gehabt hätte. Er merkt diesbezüglich an, dass die deutschen Behörden nach innerstaatlichem Recht verpflichtet waren, ein Strafverfahren gegen U. einzuleiten, sobald sie von dessen Beteiligung an den Vorgängen im Zusammenhang mit D.G.s Tod Kenntnis erlangt hatten, und dass für sie somit ein Grund bestand, U. im Einklang mit dem einschlägigen innerstaatlichen Recht und Völkerrecht nicht in das Vereinigte Königreich auszuliefern. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die in Artikel 2 verankerten verfahrensrechtlichen Garantien nicht das Recht oder die Verpflichtung umfassen, nach dem innerstaatlichen Recht eines bestimmten Staates einem strafverfolgten Dritten eine bestimmte Strafe aufzuerlegen. Er wiederholt diesbezüglich, dass die verfahrensrechtliche Verpflichtung aus Artikel 2 nur eine Verhaltens-, und keine Erfolgspflicht darstellt (siehe Paul und Audrey Edwards ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 46477/99, Rdnr. 71, ECHR 2002‑II, und G. ./. Deutschlandund das Vereinigte Königreich, a. a. O., Rdnr. 95).

94. Der Gerichtshof hält es darüber hinaus für wichtig festzuhalten, dass zusätzlich zu dem gegen U. geführten Strafverfahren von den zuständigen deutschen Verwaltungsbehörden auch ein Verfahren zur Prüfung seiner Eignung als Arzt geführt wurde. Im Rahmen der Untersuchungen im Zusammenhang mit der Eignungsprüfung wurde U. von der zuständigen Gesundheitsbehörde zwei Mal angehört, und den Beschwerdeführern wurde Gelegenheit gegeben, weitere Informationen zu den Umständen des Falles beizubringen. Ferner wurde infolge des von der Ärztekammer Westfalen-Lippe angestrengten und vor dem Verwaltungsgericht Münster geführten Disziplinarverfahrens U. wegen der Begehung eines gravierenden Fehlers bei D.G.s Behandlung ein Verweis erteilt und ihm eine Geldbuße auferlegt. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass im besonderen Bereich der Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht zur Erfüllung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung aus Artikel 2 auch disziplinarrechtliche Maßnahmen in Betracht kommen können (siehe Rdnr. 81).

95. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Behörden in der vorliegenden Rechtssache wirksame Rechtsbehelfe zur Feststellung der Ursache des Todes des Vaters der Beschwerdeführer sowie U.s diesbezüglicher Verantwortlichkeit bereitgestellt haben. Ferner deutet nichts darauf hin, dass die von den deutschen Behörden hinsichtlich des Todes von D.G. eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen und das Strafverfahren den Artikel 2 Abs. 1 der Konvention innenwohnenden verfahrensrechtlichen Garantien nicht entsprochen hätten.

96. Folglich ist Artikel 2 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 2 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 22. Mai 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                             Mark Villiger
Kanzlerin                                              Präsident

___________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die persönliche Meinung der Richterin Power-Forde beigefügt.

M.V.
C.W.

ÜBEREINSTIMMENDE MEINUNG DER RICHTERIN POWER-FORDE

Bei der Feststellung, dass Artikel 2 der Konvention nicht verletzt worden ist, habe ich mit der Mehrheit gestimmt. Allerdings wird von der Rechtssache eine Frage aufgeworfen, die möglicherweise auf einer anderen Ebene zu klären wäre. In dem Urteil wird auf einen in der Rechtssache Hugh Jordan ./. das Vereinigte Königreich[1]dargelegten zentralen Grundsatz verwiesen: Wenn es um die Verantwortlichkeit von staatlichen Amtsträgern im Zusammenhang mit Todesfällen geht, sind die nächsten Angehörigen des Opfers in dem zur Wahrung ihrer rechtmäßigen Interessen erforderlichen Umfang in den behördlichen Ermittlungsprozess einzubinden. Vorliegend stellt sich die Frage, inwieweit die Familienmitglieder eines Verstorbenen ein gleiches oder ähnliches Recht haben, in die strafrechtlichen Ermittlungen eingebunden zu werden, wenn diese die Verantwortlichkeit von Personen betreffen, die keine staatlichen Amtsträger sind.

Der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache stellt einen Extremfall dar. Der Tod des Vaters der Beschwerdeführer wurde durch die grobe Fahrlässigkeit eines Arztes herbeigeführt, der ihm eine tödliche Dosis Diamorphin verabreichte, ohne dass er mit diesem Medikament vertraut war oder dessen Zweckbestimmung kannte. Sowohl in Deutschland, wo er als Arzt zugelassen worden war, als auch im Vereinigten Königreich, wo es zu dem Todesfall gekommen war, wurden Strafverfahren eingeleitet. Vor dem Hintergrund dieser Umstände setzt sich das Urteil damit auseinander, in welchem Umfang die Familienangehörigen gegebenenfalls ein Anrecht darauf hatten, in das Verfahren eingebunden zu werden, das von den deutschen Behörden angestrengt worden war.

Das Urteil bestätigt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht notwendigerweise in jedem Fall, der die Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht betrifft, der Rechtsweg zu den Strafgerichten offen stehen muss. Sodann wird festgestellt, dass „es demnach fraglich sein kann, ob und in welchem Umfang die Einbindung der Beschwerdeführer als nächste Angehörige erforderlich ist, wenn […] die Strafverfolgungsbehörden auf eigene Veranlassung diesen Rechtsweg beschreiten“ (Rdnr. 87). Nachdem die Frage gestellt wurde, ob die Einbindung der Beschwerdeführer als Teil der verfahrensrechtlichen Verpflichtungen des Staates nach der Konvention „erforderlich“ war, wird in dem Urteil – ohne die Frage zu beantworten – der Schluss gezogen, dass die „Einbindung“ der Beschwerdeführer, so, wie sie sich im vorliegenden Fall gestaltet hat, in dem zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Umfang stattgefunden hat (Rdnr. 92).

Ich hätte es vorgezogen, wenn in dem Urteil zunächst konkreter die rechtmäßigen Interessen der nächsten Angehörigen in Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung durch Personen, die keine staatlichen Amtsträger sind, bestimmt worden wären, um anschließend zu untersuchen, ob diese Interessen hinreichend gewahrt wurden. Es liegt auf der Hand, dass Familienmitglieder ein rechtmäßiges Interesse daran haben, dass die Todesumstände aufgeklärt und die Verantwortlichen ermittelt werden. Dies wurde durch die behördlichen Ermittlungen im vorliegenden Fall durchaus geleistet.[2] Ob die rechtmäßigen Interessen der Familienmitglieder in Strafverfahren weiter reichen – mit anderen Worten: ob die Verpflichtung des Staates gegenüber den Hinterbliebenen hier endet – ist eine Frage, die sinnvollerweise zu klären wäre.

Es ist ungewöhnlich, dass das deutsche Recht die Behörden zwar verpflichtet, den Angehörigen eines Opfers in dem gegen den Täter geführten Strafverfahren Akteneinsicht zu gewähren (Rdnr. 29), die Behörden jedoch nicht dazu verpflichtet, die Angehörigen über die Beendigung eines solchen Verfahrens, in dem sie Partei sind, zu informieren. Am 12. März 2008 traf in der vorliegenden Rechtssache der Staatsanwalt eine solche Entscheidung zur Beendigung des Strafverfahrens gegen Doktor U. Er beantragte beim Amtsgericht Witten den Erlass eines Strafbefehls, der, sollte dem Antrag stattgegeben werden, eine neunmonatige Bewährungsstrafe und eine Auflage zur Zahlung von 5.000 Euro für den Arzt vorsah. Nach deutschem Recht waren die Beschwerdeführer nicht berechtigt, diesen Antrag mit dem Ziel der „Verhängung einer anderen Rechtsfolge der Tat“ anzugreifen (Rdnr. 56). Im Grunde hatten sie keine Möglichkeit, diesem Antrag zu widersprechen oder gar von dem den Strafbefehl erlassenden Gericht gehört zu werden. In diesem Zusammenhang spielt offenbar das Zeugnis der Angehörigen (victim impact evidence) keine Rolle bei der Prüfung solcher Anträge, die, wenn ihnen stattgegeben wird, erhebliche Konsequenzen hinsichtlich der Strafzumessung haben.

Ich tue mich schwer damit, mich der sehr allgemein gehaltenen Feststellung anzuschließen, dass die Entscheidung, die Beschwerdeführer nicht über die Beendigung des Strafverfahrens in Kenntnis zu setzen, „die rechtmäßigen Interessen der Beschwerdeführer als Verletzte oder potentielle Nebenkläger nicht beeinträchtigt“ habe (Rdnr. 91), wo doch diese Interessen gar nicht konkret bestimmt wurden. Nicht mehr Nebenkläger in einem Strafverfahren zu sein, hat offensichtliche Folgen für die Hinterbliebenen. Die Beendigung eines Verfahrens ohne Benachrichtigung einer beteiligten Partei kann eine Frage nach Artikel 6 der Konvention aufwerfen. Ob diese unterlassene Benachrichtigung die Interessen der Partei in einem Maße beeinträchtigt, dass sie eine Verletzung von Artikel 2 darstellt, ist fraglich.

Ich erkenne an, dass ein Strafbefehl den Erfordernissen des Artikels 2 insoweit genügen kann, als er den Behörden ermöglicht, die Todesursache und die Verantwortlichen festzustellen. Wenn allerdings eine fahrlässige Tötung die Einleitung eines Strafverfahrens nach sich zieht, ist es psychologisch gesehen für die Angehörigen durchaus von Bedeutung, Gelegenheit zu bekommen, zugegen zu sein, wenn die Behörden über die entsprechende strafrechtliche Verantwortung urteilen. Es ist wichtig für sie, dass das Unrecht, das ihrem Angehörigen angetan wurde, öffentlich anerkannt wird, selbst wenn sie die scheinbare Milde der für die Verursachung dieses Unrechts verhängten Strafe belastet.

_______

[1] Hugh Jordan ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 24746/94, ECHR 2001‑III (Auszüge).
[2] Wie sich den Feststellungen des Gerichtshofs in zahlreichen Rechtssachen entnehmen lässt, beschränkt sich die allgemeine Verantwortung des Staates nach Artikel 2 jedoch nicht allein auf die Feststellung der unmittelbaren bzw. näheren Todesursache (siehe L.C.B. ./. das Vereinigte Königreich [9. Juni 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998‑III]; Öneryıldız ./. Türkei ([GK],Individualbeschwerde Nr. 48939/99, ECHR 2004‑XII); und Opuz ./. Türkei [Individualbeschwerde Nr. 33401/02, ECHR 2009]). Bei der Bewertung der Verpflichtungen des Staates nach Artikel 2 prüft der Gerichtshof, ob der Staat alles getan hat, was von ihm verlangt werden kann, um eine „vermeidbare Gefährdung“ des Lebens zu verhindern. Diese Prüfung ist jedoch nicht Bestandteil der Überprüfung von Strafverfahren, die gegen die für die fahrlässige Tötung verantwortliche Person geführt werden.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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