EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 31197/09 M. GmbH gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion), der am 17. Juni 2014 als Komitee zusammengetreten ist, das sich aus folgenden Richtern und Richterinnen zusammensetzt:
Ganna Yudkivska,Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki, Richterin und Richter,
und von Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,
aufgrund der vorerwähnten Beschwerde, die am 12. Juni 2009 erhoben worden ist,
hat nach Beratung die folgende Entscheidung erlassen:
SACHVERHALT
1. Bei der ersten Beschwerdeführerin, M. GmbH, handelt es sich um eine nach deutschem Recht bestehende Gesellschaft mit beschränkter Haftung und Geschäftssitz in D., der zweite Beschwerdeführer, W., und der dritte Beschwerdeführer, B., sind Geschäftsführer dieser Gesellschaft, deutsche Staatsangehörige, geboren 19.. beziehungsweise 19.. und wohnhaft in N. und in R.
2. Sie sind vor dem Gerichtshof von der Rechtsanwältin B. aus S. vertreten worden.
A. Die Umstände der vorliegenden Rechtssache
3. Die Umstände des Falles, so wie sie von den Beschwerdeführern dargelegt worden sind, können wie folgt zusammengefasst werden.
1. Der Hintergrund des Falles
a) Das von der Steuerfahndung Düsseldorf wegen Steuerhinterziehung eingeleitete Ermittlungsverfahren
4. Im Jahr 1986 leitete die Steuerfahndung Düsseldorf (im Folgenden „die Steuerfahndung“) – eine mit der Ermittlung von Steuerstraftaten betraute spezialisierte Stelle der Finanzverwaltung – gegen die Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung ein.
5. Am 14. Juli 1993 fertigte die Steuerfahndung Düsseldorf einen Bericht an, in dem die Höhe der von den Beschwerdeführern geschuldeten Steuern berechnet wurde („steuerrechtlicher Bericht“). Diesem Bericht zufolge schuldetet die erste Beschwerdeführerin den Betrag in Höhe von 25 Millionen DM, ca. 12,5 Millionen Euro.
6. Am 24. Dezember 1993 fertigte die Steuerfahndung Düsseldorf einen zweiten Bericht über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer („Ermittlungsbericht“) an, in dem sie folgerte, dass der zweite und der dritte Beschwerdeführer sich der Steuerhinterziehung in Höhe von 18 Millionen DM und der Untreue in Höhe von 8 Millionen DM strafbar gemacht hatten.
7. Diese Berichte wurden dem Finanzamt übermittelt, damit es die Beitreibung der nicht entrichteten Steuer in die Wege leitet. Im März 1994 übersandte das Finanzamt die Berichte an die Beschwerdeführer mit der Bitte, dazu Stellung zu nehmen. Im Nachhinein wurde festgestellt, dass das Finanzamt unterlassen hatte, die Berichte zu prüfen, obwohl es von Gesetzes wegen hierzu verpflichtet war.
8. Die Beschwerdeführer waren der Ansicht, dass diese Berichte in sachlicher und rechtlicher Hinsicht auf gravierenden Fehlern beruhten und nur durch grobe Fahrlässigkeit bei den Ermittlungstätigkeiten zu erklären seien. Sie befürchteten, dass das Finanzamt die Steuern auf der Grundlage dieser Berichte festsetzen und von ihnen die Zahlung der vorläufig festgesetzten Beträge verlangen würde, was ihren (persönlichen) Ruin bedeutet hätte. Sie schalteten Steuerberater, Rechtsanwälte und Rechtsprofessoren ein, um ihre Verteidigung sicherzustellen und um die fehlerhaften Berichte zu korrigieren.
9. Im April 1994 erstellte ein Steuerberater einen Bericht, in dem auf gravierende Fehler bei der Lohnsteuerberechnung hingewiesen wurde. Im Juli 1994 legte ein Rechtsprofessor ein Sachverständigengutachten vor und folgerte, dass die Steuerfahndung Düsseldorf die Steuergesetze falsch angewendet hatte. Im August 1994 drohte der zweite Beschwerdeführer der Finanzverwaltung wegen der in den Berichten nachgewiesenen Fehler mit einer Amtshaftungs- und Schadensersatzklage. Weitere von den Beschwerdeführern in Auftrag gegebene Rechtsgutachten wiesen ebenfalls auf Pflichtverletzungen der Steuerfahnder hin.
10. Die Rechtsanwälte, die den zweiten und dritten Beschwerdeführer vertraten, lehnten daraufhin im Verlauf des Strafverfahrens die Steuerfahndung Düsseldorf als befangen ab.
Im Jahr 1995 wurde der Steuerfahndung Düsseldorf der Fall entzogen und der Steuerfahndung Wuppertal übertragen.
b) Das von der Steuerfahndung Wuppertal wegen Steuerhinterziehung eingeleitete Ermittlungsverfahren und das Steuerstrafverfahren
12. Die Steuerfahndung Wuppertal fertigte unter dem 27. Juli 1995 einen ergänzenden Ermittlungsbericht an, in dem den Beschwerdeführern Steuerhinterziehung in Höhe von 1,8 Millionen DM vorgeworfen wurde.
13. Im August 1995 stützte sich die Staatsanwaltschaft Düsseldorf in ihrer Anklageschrift gegen den zweiten und dritten Beschwerdeführer auf diesen Ergänzungsbericht. In der Anklageschrift wurde der im ursprünglichen Ermittlungsbericht der Steuerfahndung Düsseldorf erhobene Vorwurf nicht mehr beibehalten. Das Verfahren war diesbezüglich gemäß § 154 der Strafprozessordnung vorläufig eingestellt worden (siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht).
14. Durch Beschluss vom 27. März 1996 lehnte das Landgericht Düsseldorf die Eröffnung des Hauptverfahrens ab (Nichteröffnungsbeschluss). Dieser Beschluss wurde am 12. Juni 1996 rechtskräftig.
15. Am 13. September 1996 fertigte die Steuerfahndung Wuppertal einen steuerrechtlichen Ergänzungsbericht an mit dem Ergebnis, dass Steuern in Höhe von 3,3 Millionen DM nicht entrichtet worden seien.
2. Das streitige Verfahren
16. Am 11. Juni 1999 erhoben die Beschwerdeführer Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen und beantragten u.a. die Erstattung der Gebühren, die von den beauftragten Steuerberatern, Rechtsanwälten und Rechtsprofessoren erhoben wurden, indem sie der Steuerfahndung Düsseldorf, dem Finanzamt und der Staatsanwaltschaft Düsseldorf diverse Pflichtverletzungen und Fahrlässigkeit vorwarfen.
17. Mit Urteil vom 8. Juni 2001 entschied das Landgericht über einen Teil der Rechtsstreitigkeit. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hob das Urteil des Landgerichts am 17. Juli 2002 auf und verwies die Sache an das Landgericht Düsseldorf zurück.
18. Am 20. März 2006 wies das Landgericht die Klage der Beschwerdeführer ab. Es legte dar, warum die Forderungen nicht begründet seien, hob aber hervor, dass die Ansprüche auf jeden Fall gemäß § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuchs verjährt seien, demzufolge eine Verjährungsfrist von drei Jahren von dem Zeitpunkt an vorgesehen war, in welchem von dem Schaden Kenntnis erlangt wird (siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht). Das Gericht stellte klar, dass die Beschwerdeführer ihre Forderungen nur auf Handlungen stützen könnten, die vor dem Abschluss der Verträge mit den Rechtsberatern, Rechtsanwälten und -professoren erfolgt sind, in diesem Fall also auf fahrlässige Handlungen, die anlässlich der Ermittlungen der Steuerfahndung Düsseldorf und der von dieser erstellten Berichte begangen wurden, sowie auf die mangelnde Nachprüfung der Berichte durch das Finanzamt. Es folgerte, dass die Beschwerdeführer vor Juni 1996 Kenntnis von diesem Sachverhalt hätten und dass demnach ihre im Juni 1999 erhobene Klage verjährt sei.
19. Mit Urteil vom 4. April 2007 bestätigte das Oberlandesgericht Düsseldorf das Urteil. Es stellte fest, dass die von der Steuerfahndung Düsseldorf erstellten Berichte zwar zahlreiche sachliche und rechtliche Unrichtigkeiten aufwiesen, dass die Steuerfahnder Fehler begangen hätten und die Beschwerdeführer demnach grundsätzlich Schadensersatzansprüche geltend machen könnten, dass bei diesen jedoch zwischenzeitlich die Verjährungsfrist abgelaufen sei. Das Oberlandesgericht hob hervor, dass die Beschwerdeführer spätestens im Mai 1996 Kenntnis von den Fehlern in den Berichten hatten und demnach eine Feststellungsklage hätten erheben können, die genügt hätte, um die Verjährungsfrist zu unterbrechen. Es war der Auffassung, dass den Beschwerdeführern ein solches Vorgehen vernünftigerweise zumutbar war und dass die Tatsache, dass das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen war, dem nicht entgegenstand. Das Oberlandesgericht wies das Vorbringen der Beschwerdeführer zurück, wonach sie hätten befürchten müssen, dass die Staatsanwaltschaft diese Klage zum Anlass hätte nehmen können, die Anklage auf diese Sachverhalte auszudehnen, und unterstrich, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet sei sicherzustellen, dass die gegen die Beschwerdeführer erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe begründet sind und das Strafverfahren zu einer Verurteilung führt. Es befand, dass eine gegen das Land erhobene Klage, die sich auf die in den Berichten der Steuerfahndung Düsseldorf enthaltenen Fehler stützt, die Staatsanwaltschaft veranlasst hätte, einen kritischen Blick auf die Berichte zu werfen und zu prüfen, ob diese als Grundlage für eine Anklage hätten dienen können. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts wäre es infolgedessen „abwegig“ anzunehmen, die Staatsanwaltschaft würde die Anklage ausdehnen, „um sich zu revanchieren“. Diesbezüglich hob das Oberlandesgericht hervor, dass die Staatsanwaltschaft an das Legalitätsprinzip gebunden ist und dass eine Ausdehnung der Anklage im Anschluss an die gegen das Land gerichtete Amtshaftungsklage offenkundig rechtswidrig und willkürlich gewesen wäre. Es legte dar, die Beschwerdeführer hätten ein solches Verhalten der Staatsanwaltschaft nicht befürchten müssen, dies umso weniger, als die von den Beschwerdeführern beanstandeten Berichte von der Steuerfahndung Düsseldorf und nicht von der Staatsanwaltschaft angefertigt worden seien. Das Oberlandesgericht ließ die Revision nicht zu.
20. Am 19. September 2008 (Anm.d.Übs.: richtig 17. September 2008) verwarf der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführer. Er wies die Argumentation der Beschwerdeführer zurück, wonach diese wegen etwaiger Repressalien nicht verpflichtet gewesen seien, eine Amtshaftungsklage gegen das Land zu erheben, solange die strafrechtlichen Ermittlungen noch andauerten, weil solche Befürchtungen nachweislich unbegründet waren. Er war der Auffassung, dass die Beschwerdeführer auf jeden Fall seit der Anklageschrift vom August 1995 wussten, dass die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage nicht mehr auf den Ermittlungsbericht der Steuerfahndung Düsseldorf, sondern auf denjenigen der Steuerfahndung Wuppertal gestützt war und es für die Beschwerdeführer demnach keinen Anlass gegeben hatte, eine auf den Lücken im Bericht der Steuerfahndung Düsseldorf gestützte Amtshaftungsklage auf später zu verschieben.
21. Die Beschwerdeführer erhoben Verfassungsbeschwerde und legten dar, dass ihnen nicht zumutbar war, eine Schadensersatzklage gegen den Staat anzustrengen, solange die gegen sie betriebenen strafrechtlichen Ermittlungen nicht abgeschlossen waren, weil es der Staatsanwaltschaft freigestanden hätte, das im Bericht der Steuerfahndung Düsseldorf erwähnte Verfahren jederzeit wieder aufzunehmen.
22. Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. Dezember 2008 durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer (1 BvR 3192/08) ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung angenommen.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis
1. Das einschlägige innerstaatliche Recht
23. § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuchs lautete in der damals geltenden Fassung wie folgt:
(1) Der Anspruch auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens verjährt in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt, ohne Rücksicht auf diese Kenntnis in dreißig Jahren von der Begehung der Handlung an. (…).
24. § 154 der Strafprozessordung sieht vor:
(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,
1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2. darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.
(2) (…)
(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.
(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden. (…)
2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
25. Der Bundesgerichtshof hat – neben den in § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuchs aufgeführten Aspekten – das Kriterium der Zumutbarkeit entwickelt, um das Einsetzen der Verjährungsfrist zu bestimmen. Dieser Rechtsprechung zufolge tritt die Verjährung erst ein, wenn dem Gläubiger „vernünftigerweise zugemutet“ werden kann, dass er seine Ansprüche im Wege einer Klageerhebung geltend macht. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung in Bezug auf die Fälle nuanciert, in denen die Klage auf die staatliche Verantwortung wegen Strafverfolgungsmaßnahmen gestützt ist. Der Bundesgerichtshof hat am 29. Oktober 1987 einen Beschluss erlassen (III ZR 33/87), wonach die Verjährungsfrist, selbst wenn die in Rede stehende Strafverfolgung noch nicht abgeschlossen ist, ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Gläubiger weiß, dass sie wegen pflichtwidrigen Verhaltens im Lauf der Ermittlungen eine ihm gegenüber vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung darstellt. Der Bundesgerichtshof hat am 2. April 1998 (III ZR 309/96) entschieden, dass die Verjährungsfrist für einen Schadensersatzanspruch wegen Ermittlungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft erst nach der rechtskräftigen Entscheidung des Strafgerichts, mit der die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wird (Nichteröffnungsbeschluss), beginnt, weil der Kläger zuvor nicht für genügend gesichert erkennen konnte, dass die Strafverfolgung auf einer unerlaubten Handlung der Staatsanwaltschaft beruhte.
RÜGEN
26. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 13 der Konvention beklagen die Beschwerdeführer, dass die innerstaatlichen Gerichte wegen der Verjährung nicht über ihre Klagen entschieden und sie demnach keinen Zugang zu einem Gericht gehabt hätten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
27. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention, dessen einschlägiger Passus wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (…) von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht (…) verhandelt wird.“
28. Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, dass die von den innerstaatlichen Gerichten angewandten Rechtsvorschriften – insbesondere in Bezug auf den Eintritt der dreijährigen Verjährung bei Amtshaftungsklagen – ihr Recht auf ein faires Verfahren verletzt haben, weil diese Rechtsprechung sie gezwungen habe, vor Verjähren der Strafverfolgung eine Zivilklage zu erheben.
29. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention das „Recht auf ein Gericht“, gewährt, wobei das Zugangsrecht, nämlich dasjenige, ein Gericht in Zivilsachen anzurufen, nur einen Aspekt darstellt (siehe insbesondere Golder ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 21. Februar 1975, Serie A Bd. 18, Rdnr. 36; L. ./. Deutschland [GK], Nr. 42527/98, Rdnr. 43, CEDH 2001 VIII).
30. Der Gerichtshof bekräftigt sodann, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht kein absolutes Recht ist und implizit zugelassene Einschränkungen erfahren kann, da es von Natur aus eine Regelung durch den Staat erfordert, der in dieser Hinsicht über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügt (García Manibardo ./ Spanien, Nr. 38695/97, Rdnr. 36, CEDH 2000 II; Levages Prestations Services ./. Frankreich, Urteil vom 23. Oktober 1996, Sammlung der Urteile und Entscheidungen, 1996-V, S. 1543, Rdnr. 40). Diese Einschränkungen dürfen jedoch den Zugang eines Rechtsuchenden nicht in einer Weise oder in einem Maße beschränken, dass sein Recht auf ein Gericht in seinem Wesensgehalt beeinträchtigt wird (Stagno ./. Belgien, Nr. 1062/07, Rdnr. 25, 7. Juli 2009; Stanev ./. Bulgarien [GK], Nr. 36760/06, Rdnr. 230, CEDH 2012).
31. Der Gerichtshof ruft ferner in Erinnerung, dass die angewandten Einschränkungen nur dann mit Artikel 6 Absatz 1 der Konvention in Einklang stehen, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen und die eingesetzten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen (siehe u.a. Pedro Ramos ./. Schweiz, Nr. 10111/06, Rdnr. 36, 14. Oktober 2010, Levages Prestations, vorgenannt, Rdnr. 40, Stubbings u.a. ./. Vereinigtes Königreich, 22. Oktober 1996, Rdnr. 50, Sammlung 1996 IV, und Stagno, vorgenannt, Rdnr. 25).
32. Teil dieser legitimen Einschränkungen sind die gesetzlichen Verjährungsfristen, die mehrere wichtige Ziele verfolgen: Sie sollen z.B. die Rechtssicherheit gewährleisten, indem Klagen befristet werden, potenzielle Beklagte vor verspäteten Rügen schützen, denen möglicherweise nur schwer entgegenzutreten ist, und Ungerechtigkeiten verhindern, die sich dadurch ergeben könnten, dass Gerichte aufgerufen wären, über weit zurückliegende Ereignisse anhand von Beweismitteln zu befinden, denen man keinen Glauben mehr schenken könnte und die wegen des Zeitablaufs unvollständig wären (Stubbings, vorgenannt, Rdnr. 51, und Stagno, vorgenannt, Rdnr. 26).
33. Daraus folgt, dass das Bestehen einer Verjährungsfrist an sich mit der Konvention nicht unvereinbar ist. Es ist Aufgabe des Gerichtshofs, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Art der in Rede stehenden Verjährungsfrist oder die Weise, in der sie angewendet worden ist, mit der Konvention vereinbar ist (Stagno, vorgenannt, Rdnr. 27; Phinikaridou ./. Zypern, Nr. 23890/02, Rdnr. 52, 20. Dezember 2007).
34. Der Gerichtshof stellt fest, dass der vorliegende Rechtsstreit sich mit der Frage befasst, wann die dreijährige Verjährungsfrist in Bezug auf die Amtshaftung eingetreten ist, die aufgrund der damals geltenden Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Zeitpunkt zu laufen begann, zu dem der Betroffene von dem schädigenden Ereignis Kenntnis hatte. Er stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte übereinstimmend befunden haben, dass die Beschwerdeführer einige Monate nach der Zustellung des „steuerrechtlichen Berichts“ der Steuerfahndung Düsseldorf im März 1994 Kenntnis von den Fehlern hatten, die von den Finanzbehörden begangen worden waren. Diese Hypothese wird von den Beschwerdeführern übrigens nicht bestritten.
35. Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass die Beschwerdeführer sich auf den Grundsatz nemo tenetur und denjenigen „der Waffengleichheit“ stützen, um ihre Auffassung zu rechtfertigen, dass sie die Zivilgerichte vor Abschluss des Strafverfahrens nicht hätten anrufen können, wobei sie behaupten, dass im Falle einer Klage die Gefahr einer Ausdehnung der Anklage bestanden hätte.
36. Der Gerichtshof hebt hervor, dass die deutschen Gerichte diese Argumente geprüft und darauf mit Entscheidungen reagiert haben, die sorgfältig begründet waren und keine Willkür erkennen ließen. So hätten die deutschen Gerichte insbesondere die Möglichkeit verworfen, dass die Anklage im Anschluss an die Zivilklage ausgedehnt würde, wobei sie erwogen haben, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens von Gesetzes wegen Bedingungen unterworfen und es der Staatsanwaltschaft untersagt ist, Ermittlungen im Sinne einer „Retourkutsche“ zu führen. Diesbezüglich hebt der Gerichtshof hervor, dass die innerstaatlichen Gerichte ebenfalls unterstrichen haben, die befürchteten Repressalien seien umso weniger gerechtfertigt gewesen, als die Anklage sich auf den Ermittlungsbericht der Steuerfahndung Wuppertal und nicht auf denjenigen der Steuerfahndung Düsseldorf stützte, der von den Beschwerdeführern beanstandet worden war.
37. Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass der Bundesgerichtshof die Auffassung vertreten hat, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts, wonach eine Klageerhebung „zugemutet“ werden konnte, im Einklang mit seiner Rechtsprechung steht, weil die Schäden, derentwegen die Beschwerdeführer Schadensersatz verlangten, auf dem Ermittlungsbericht der Steuerfahndung Düsseldorf basierte, der 1995 von der Staatsanwaltschaft von den strafrechtlichen Ermittlungen ausgenommen worden war, und dass die Klage demnach unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens erhoben werden konnte.
38. Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Einschränkung des Rechts der Beschwerdeführer auf Zugang zu einem Gericht in Bezug auf das Ziel, die Rechtssicherheit und die geordnete Rechtspflege zu gewährleisten, verhältnismäßig gewesen ist.
39. Diese Rüge ist folglich nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:
Er erklärt die Beschwerde für unzulässig.
Stephen Phillips Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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