EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 77306/12
A. K. gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 1. Juli 2014 als Ausschuss mit den Richterinnen und dem Richter
Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 27. November 2012 erhoben wurde,
unter Berücksichtigung der Entscheidung der Präsidentin, dem Beschwerdeführer Anonymität zu gewähren,
nach Beratung wie folgt entschieden.
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger und derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in L. untergebracht.
A. Die Umstände der Rechtssache
2. Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Hintergrund der Rechtssache
(a) Das erste Verfahren gegen den Beschwerdeführer
3. 1991 überfiel der Beschwerdeführer eine Frau mittleren Alters, versuchte, sie zu vergewaltigen, würgte sie und fügte ihr Schnittwunden im Halsbereich zu. Das Opfer überlebte schwer verletzt, und zwar nur, weil der Beschwerdeführer sie für tot hielt und zurückließ. Am 7. November 1991 wurde er wegen dieser Tat zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt, nachdem ein Psychologe und ein psychiatrischer Sachverständiger zu dem Schluss gekommen waren, dass der Beschwerdeführer in seiner sexuellen Entwicklung zurückgeblieben sei, aber nicht an einer psychischen Störung leide. Nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe wurde er am 27. Mai 1996 aus der Justizvollzugsanstalt entlassen.
(b) Der Rückfall des Beschwerdeführers nach seiner Entlassung
4. Am 30. Mai 1996, also drei Tage nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt, ermordete der Beschwerdeführer eine Prostituierte mit 78 Messerstichen. Nach den Feststellungen des Tatgerichts aus dem Jahr 2002 hinsichtlich des Tatmotivs wollte der Beschwerdeführer eine Steigerung seiner sexuellen Lust erzielen, indem er einer Frau beim Sterben zusah. Der Beschwerdeführer wurde dieses Mordes erst verdächtigt, nachdem eine 1999 abgegebene Speichelprobe untersucht worden war.
(c) Das zweite Verfahren gegen den Beschwerdeführer und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
5. Am 8. Oktober 1997 wurde der Beschwerdeführer wegen Onanierens in der Öffentlichkeit und sexuellen Übergriffen gegen Frauen erneut festgenommen.
6. Das Gericht forderte ein psychologisches und ein psychiatrisches Sachverständigengutachten an, um festzustellen, ob die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers aufgrund einer psychischen Störung vermindert sei. Der Psychiater kam zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung sowie zusätzlich an einer Sexualstörung leide. Die Kombination dieser beiden Störungen ergebe eine schwere seelische Abartigkeit. Die Prognose für den Beschwerdeführer sei ungünstig, da es wahrscheinlich sei, dass er erneut ähnliche Taten begehen werde. In dem zweiten Sachverständigengutachten stellte der Psychologe eine entsprechende Diagnose: Der Beschwerdeführer leide an einer schweren psychosexuellen Störung, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Begehung weiterer ähnlicher Straftaten zur Folge habe. Beide Sachverständigen hatten zu dieser Zeit keine Kenntnis von dem Mord aus dem Jahr 1996. Das Gericht ebenfalls nicht.
7. Am 3. März 1998 wurde der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurde nach § 63 StGB seine unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, da das Gericht davon überzeugt war, dass der Beschwerdeführer für die Allgemeinheit gefährlich und seine Schuldfähigkeit aufgrund seines psychischen Zustandes vermindert sei.
8. Seit 3. Juni 1998 ist der Beschwerdeführer in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Seine Unterbringung wurde regelmäßig gerichtlich überprüft, wobei das Gericht zuvor jeweils Berichte der behandelnden Ärzte anforderte.
(d) Das dritte Verfahren gegen den Beschwerdeführer
9. Nachdem den Behörden bekannt geworden war, dass der Beschwerdeführer mit dem Mordopfer vom 30. Mai 1996 in Verbindung gebracht werden konnte, wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, im Laufe dessen das Gericht zwei weitere Sachverständigengutachten (eines von einem Psychologen und eines von einem Psychiater) einholte.
10. Am 13. November 2002 wurde der Beschwerdeführer wegen des 1996 begangenen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Die bei Mord vorgeschriebene lebenslange Freiheitsstrafe wurde aufgrund der verminderten Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers herabgesetzt. Unter Einbeziehung der Verurteilung aus dem Jahr 1998 wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verhängt. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB wurde bestätigt.
11. Das Gericht begründete die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus mit der hohen Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung (fortschreitende schwere sadistische Perversion in Kombination mit dem vollständigen Fehlen von Empathie) erneut ähnliche Straftaten begehen werde. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer in seinen Gesprächen mit den Sachverständigen zugegeben habe, dass er beim Onanieren weiterhin über Sex und Gewalt gegen Frauen fantasiere und dass ihn die Erinnerungen an den Mord aus dem Jahr 1996 immer noch sehr erregten. Das Gericht schloss sich der Einschätzung der Sachverständigen an, wonach der Beschwerdeführer die Hemmung, einen Menschen zu töten, verloren habe, weshalb es wahrscheinlich sei, dass er erneut töten werde, um seine sexuellen Fantasien in die Tat umzusetzen. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer in den Monaten zwischen dem Mord und seiner Festnahme im Oktober 1997 weitere Prostituierte aufgesucht habe und sich in mindestens zwei Fällen bereits mit Klebeband und einem Messer auf einen Überfall vorbereitet habe.
12. Da der Beschwerdeführer kein Rechtsmittel einlegte, wurde das Urteil rechtskräftig.
(e) Frühere Überprüfungen der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus
13. Seit 1998 wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus jährlich vom zuständigen Landgericht überprüft. 2007 und 2010 holte das Landgericht Paderborn externe Sachverständigengutachten ein. Am 4. März 2010 legte Professor K. ein detailliertes Gutachten vor, in dem er zunächst alle vorangegangen Gutachten zusammenfasste und anschließend seine aktuellen Erkenntnisse darlegte. Seine Diagnose entsprach allen vorangegangenen: sexueller Sadismus in Kombination mit einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und vermeidenden Zügen. Die Aussicht auf eine bedingte Entlassung oder auch nur auf Vollzugslockerungen wurde als sehr gering eingeschätzt, da die Therapie im Hinblick auf den Sadismus bis zu diesem Zeitpunkt erfolglos geblieben sei, weil der Beschwerdeführer einer psychologischen Behandlung nicht zugänglich sei. Am 17. Dezember 2010 schloss sich das Landgericht Paderborn den Schlussfolgerungen des Sachverständigen an und ordnete die Fortdauer der Unterbringung an.
2. Das in Rede stehende Verfahren
(a) Der Beschluss des Landgerichts Paderborn
14. Am 16. Dezember 2011 ordnete das Landgericht Paderborn im Rahmen des Verfahrens zur jährlichen Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
15. Unter Berufung auf eine Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses Lippstadt vom 13. Oktober 2011 befand das Landgericht, dass der Beschwerdeführer an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit schizoiden, dissozialen und vermeidenden Zügen leide. In der Stellungnahme habe es ferner geheißen, die Behandlung seines sexuellen Sadismus sei nicht einmal ansatzweise erfolgreich erfolgt und das scheine auch in absehbarer Zeit nicht möglich zu sein. Der Beschwerdeführer sei einer Psychotherapie zur Reduktion seiner sadistischen Fantasien nicht zugänglich. Der Stellungnahme zufolge habe der Beschwerdeführer selbst eine chemische Kastration mit Antiandrogenen vorgeschlagen, weil er sich von seinen Fantasien mehr und mehr gequält fühle. Das psychiatrische Krankenhaus unterstütze diese Behandlung wegen drohender Nebenwirkungen jedoch nicht. Dem Krankenhaus zufolge habe es auch den Anschein, dass der Beschwerdeführer sich mit seiner Situation arrangiert habe und gut in die Patientengemeinschaft integriert sei. Er sei sogar Patientensprecher geworden. In Konfliktsituationen zeige sich jedoch, dass sein Potential zur Konfliktlösung begrenzt sei. Wegen der fortbestehenden Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten gegenüber Frauen könne seine Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus nicht empfohlen werden. Der Beschwerdeführer und sein Verteidiger wurden in dem Gerichtsverfahren angehört. Der Beschwerdeführer bat um weitere – auch psychotherapeutische – Behandlung und brachte vor, dass es sich ihm nicht erschließe, warum das Krankenhaus seinen Wunsch nach einer antiandrogenen Therapie oder selbst einer operativen Kastration nicht unterstütze.
16. Das Gericht ließ es offen, ob das Krankenhaus dem Beschwerdeführer weitere Therapieangebote machen müsse, und wies darauf hin, dass das Verfahren lediglich die Fortdauer seiner Unterbringung zum Gegenstand habe. Es befand, die Dauer der Unterbringung sei insbesondere angesichts der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die Allgemeinheit und der ungünstigen Prognose für ihn nicht unverhältnismäßig. Das Gericht nahm auch auf das von Professor K. erstellte externe Sachverständigengutachten vom 4. März 2010 Bezug.
(b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm
17. Am 13. Februar 2012 verwarf das Oberlandesgericht Hamm die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers, wobei es der Begründung des Landgerichts Paderborn hinzufügte, dass die Rechtmäßigkeit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dem Bundesgerichtshof zufolge nicht von Heilungsaussichten oder Behandlung abhänge.
(c) Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
18. Am 24. Oktober 2012 lehnte es eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 804/12).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
19. Das deutsche Strafgesetzbuch unterscheidet zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung. Eine dieser Maßregeln der Besserung und Sicherung ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB). § 63 StGB bestimmt, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen hat und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Maßregel muss jedoch in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB). Die Dauer einer solchen Maßnahme wird nicht festgesetzt, sondern jährlich gerichtlich überprüft.
RÜGEN
20. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und die Beschlüsse, mit denen die Fortdauer dieser Unterbringung angeordnet wurde. Er rügte insbesondere, dass das Verfahren unfair gewesen sei, da die medizinischen Sachverständigengutachten qualitativ minderwertig und unzuverlässig gewesen seien, weil sie aus früheren Gutachten abgeschrieben worden seien. Außerdem seien die Vorwürfe gegen ihn von Gutachten zu Gutachten schwerer geworden, da es nun heiße, er leide an „ausgeprägtem Sadismus“, wohingegen in früheren Gutachten nur von „Sadismus“ die Rede gewesen sei. Auch rügte er eine unzureichende Behandlung, da er auf der sogenannten Langzeitbehandlungsstation untergebracht sei, wo er angeblich die letzten vier Jahre keine Therapie erhalten habe. Er rügte daher, ohne Aussicht auf Wiedererlangung seiner Freiheit für immer weggesperrt zu sein.
21. Weiterhin rügte er, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Artikel 7 der Konvention verletze, da sie in der Praxis einer Sicherungsverwahrung gleichkomme, zu der er nicht verurteilt worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
22. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nur im Hinblick auf die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erschöpft hat. Hierdurch wird der Umfang der vorliegenden Beschwerde eingegrenzt.
A. Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention
23. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie sie in dem in Rede stehenden Verfahren bestätigt worden sei, mit Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e der Konvention nicht vereinbar sei; diese Bestimmung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
[…]
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern […]“
24. Der Gerichtshof stellt fest, dass dem Beschwerdeführer aufgrund des Urteils des Landgerichts Paderborn vom 3. März 1998, das mit Beschluss des Landgerichts Paderborn vom 13. November 2002 bestätigt wurde, die Freiheit entzogen wurde. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht Paderborn am 16. Dezember 2011 die unbefristete Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hat.
25. Da die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers in erster Linie auf einer – vom Beschwerdeführer bestrittenen – Feststellung einer psychischen Störung, also einer psychischen Erkrankung, durch die innerstaatlichen Gerichte beruht, hält es der Gerichtshof für angebracht, die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e zu prüfen (siehe G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 53783/09, 18. Oktober 2011;X ./. Vereinigtes Königreich, 5. November 1981, Rdnr. 39, Serie A Band 46).
26. Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass die in Rede stehende Unterbringung, um Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e zu genügen, „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ und rechtmäßig erfolgt sein und einen „psychisch Kranken“ betroffen haben muss.
1. Ist der Beschwerdeführer psychisch krank?
27. Bei der Entscheidung darüber, ob der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e psychisch krank war, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass einer Person wegen einer psychischen Erkrankung die Freiheit nur entzogen werden kann, wenn drei Mindestvoraussetzungen vorliegen: Die psychische Erkrankung muss zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver medizinischer Beweise vor einer zuständigen Behörde festgestellt werden, die psychische Störung muss der Art oder des Grades sein, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, und die Fortdauer der Unterbringung muss vom Fortbestehen einer derartigen Störung abhängen (siehe Winterwerp ./. Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 39, Serie A Band 33, und Shtukaturov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 44009/05, Rdnr. 114, 27. März 2008).
28. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Prüfung der Frage, ob bei den regelmäßigen Überprüfungen der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers zuverlässig nachgewiesen wurde, dass bei ihm eine psychische Erkrankung der Art oder Schwere vorlag, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigte, auf die Ergebnisse der verschiedenen Stellungnahmen der jeweiligen Kliniken und behandelnden Ärzte, die im Verlauf der Unterbringung des Beschwerdeführers regelmäßig angefertigt wurden, sowie auf das u. a. 2010 eingeholte externe Sachverständigengutachten Bezug nahmen.
29. In dem hier in Rede stehenden Verfahren stützte sich das Landgericht Paderborn insbesondere auf eine Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses Lippstadt, die am 13. Oktober 2011 abgegeben worden war. Auf dieser Grundlage hatten die innerstaatlichen Gerichte es als erwiesen angesehen, dass der Beschwerdeführer an sexuellem Sadismus und einer Persönlichkeitsstörung leide und sich bei ihm keine Therapiefortschritte ergeben hätten sowie dass bei seiner Entlassung auf Bewährung zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin mit erheblichen rechtswidrigen Taten zu rechnen sei.
30. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass aufgrund objektiver und hinreichend aktueller medizinischer Sachverständigengutachten von den innerstaatlichen Gerichten festgestellt wurde, dass eine wirkliche psychische Störung der Art und Schwere vorliegt, die eine Unterbringung des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit rechtfertigt.
31. Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e psychisch krank war.
2. Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers
32. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Freiheitsentziehung rechtmäßig ist, wenn die materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts eingehalten werden, wobei der Begriff „rechtmäßig“ sich bis zu einem gewissen Grad mit dem allgemeinen Erfordernis der „gesetzlich vorgeschriebene[n] Weise“ aus Artikel 5 Abs. 1 überschneidet (siehe G., a. a. O.; Winterwerp, a. a. O., Rdnr. 39, und H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/09, Rdnr. 114, ECHR 2004-IX). Ein notwendiges Merkmal der „Rechtmäßigkeit” der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e ist, dass keine Willkür vorliegt. Die Freiheitsentziehung stellt eine derart schwerwiegende Maßnahme dar, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und zum Schutz des Einzelnen oder der Allgemeinheit für nicht ausreichend befunden wurden, so dass dem Betroffenen gegebenenfalls die Freiheit entzogen werden muss. Es muss dargetan werden, dass die Freiheitsentziehung unter den gegebenen Umständen notwendig war (siehe Varbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 46, ECHR 2000-X).
33. Bei der Entscheidung darüber, ob dem Beschwerdeführer die Freiheit nach Maßgabe des Zwecks von Artikel 5 Abs. 1 entzogen war, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei ihren Entscheidungen, mit denen sie die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers anordneten, die zunehmende Dauer seiner Unterbringung besonders berücksichtigten und insbesondere unter Berufung auf die von den behandelnden Ärzten im Verlauf des Verfahrens abgegebenen Stellungnahmen zu dem Schluss kamen, dass weniger einschneidende Maßnahmen als die fortdauernde Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht in Betracht kämen. Die Gerichte berücksichtigten auch das externe Sachverständigengutachten von Professor K., das dieser im Überprüfungsverfahren des Jahres 2010 erbracht hatte. Das Sachverständigengutachten war erstellt worden, nachdem Professor K. mit dem Beschwerdeführer gesprochen und auch einige Standardtests durchgeführt hatte. In seinem Gutachten fasste er zunächst alle früheren Gutachten zusammen und stellte anschließend seine aktuellen Erkenntnisse vor, wobei er zunächst sein Gespräch mit dem Beschwerdeführer und dann die Erkenntnisse aus den Standardtests untersuchte. Es handelte sich hierbei nicht um eine Abschrift früherer Gutachten, sondern um einen sorgfältig ausgearbeiteten, detaillierten Bericht über die Erkenntnisse des Sachverständigen. Seine Diagnose entsprach allen vorangegangenen: sexueller Sadismus in Kombination mit einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und vermeidenden Zügen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Gerichte diesem Material zufolge der Auffassung waren, dass der Beschwerdeführer noch immer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, da seine psychische Erkrankung fortbestehe, er keine hinreichenden Therapiefortschritte gemacht habe und daher zu erwarten sei, dass er im Falle einer Entlassung auf Bewährung erneut straffällig werden würde. Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das innerstaatliche Gericht die Tatsache berücksichtigt hat, dass nach Ansicht der behandelnden Ärzte bei einer antiandrogenen Therapie nachteilige Nebenwirkungen zu befürchten seien, weshalb eine solche Therapie nicht als weniger einschneidende Maßnahme als die Fortdauer der Unterbringung in Betracht komme.
34. In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof erneut, dass die nationalen Behörden dafür sorgen sollten, dass jede Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus von wirksamen und konsequenten Therapiemaßnahmen begleitet wird, damit dort untergebrachten Personen nicht die Aussicht auf Entlassung genommen wird. Anlässlich der regelmäßigen Überprüfungen der Fortdauer der Unterbringung und bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsinteresse des Untergebrachten und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit sollte die Durchführung derartiger Maßnahmen von den innerstaatlichen Gerichten besonders genau geprüft werden (siehe F. ./. Deutschland (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 32705/06, 28. September 2010).
35. Der Gerichtshof weist zwar darauf hin, dass die Verhältnismäßigkeit einer fortdauernden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besonders genau geprüft werden muss, je länger die Unterbringung andauert, ist in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen aber der Auffassung, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Landgericht Paderborn in seiner Entscheidung vom 16. November 2011, die mit Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Februar 2012 bzw. des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2012 bestätigt wurde, im Zeitpunkt des in Rede stehenden Verfahrens keine gerechte Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Beschwerdeführers und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit vorgenommen hat oder dass die damaligen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte willkürlich waren.
36. Folglich war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e der Konvention gerechtfertigt.
37. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
B. Weitere Rügen
1. Behauptete Unfairness des Verfahrens
38. Soweit der Beschwerdeführer vortrug, dass das Verfahren unfair gewesen sei, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Rüge nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention zu prüfen ist, der wie folgt lautet:
„4. Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“
39. Der Gerichtshof stellt fest, dass die von dem Beschwerdeführer unter dieser Rubrik aufgeworfenen Fragen bereits im Zusammenhang mit seiner Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e geprüft worden sind. Der Gerichtshof ist insbesondere überzeugt, dass der Beschwerdeführer, der während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten war, Gelegenheit hatte, seine Sache vor Gericht zu vertreten und den zur Begründung seiner Unterbringung beigebrachten medizinischen Sachverständigenbeweis anzufechten.
40. Daraus folgt, dass dieser Teil der Rüge des Beschwerdeführers ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Behauptete Verletzung von Artikel 7 der Konvention
41. Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – in der Praxis – einer Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB gleichkomme, zu der er nicht verurteilt worden sei, stellt der Gerichtshof fest, dass in den Urteilen vom 3. März 1998 und 13. November 2002 gemäß § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen den Beschwerdeführer angeordnet wurde. Seine Behauptung ist demnach nicht zutreffend.
42. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass § 63 StGB eine rechtliche Grundlage für die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus darstellt und dass die rechtlichen Anforderungen dieser Bestimmung erfüllt waren, so dass er nicht behaupten kann, ohne gesetzliche Grundlage bestraft worden zu sein.
43. Daraus folgt, dass dieser Teil der Rüge des Beschwerdeführers ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Stephen Phillips Ganna Yudkivska
Stellvertretender Kanzler Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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