EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 32783/08
E. GMBH ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 2. September 2014 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern
Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Vincent A. De Gaetano
sowie Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 7. Juli 2008 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Bei der Beschwerdeführerin, der E. GmbH, handelt es sich um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in M., Deutschland. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
2. Der Sachverhalt, wie er von der Beschwerdeführerin vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
1. Der Hintergrund der Rechtssache
3. Bei der Beschwerdeführerin handelte es sich um ein Softwareunternehmen, das den Kundendienst für eine von deutschen Medizinern weithin eingesetzte Datenbank anbot. Es vertrieb diese Software an etwa 400 Arztpraxen in B. und führte Wartungen durch.
4. Am 16. Mai 1997 erschien in der medizinischen Fachzeitschrift „M.“ ein Artikel, in dem vor einer technischen Sicherheitslücke gewarnt und die Beschwerdeführerin als „Christusbetrieb“ bezeichnet wurde, die eng mit der Glaubensgemeinschaft U. verbunden sei. In dem Artikel hieß es, dass U. die Beschwerdeführerin zwar nicht formell kontrolliere, dies informell aber doch tue, da alle Mitarbeiter sowie die Geschäftsführung in ihren religiösen Überzeugungen an U. gebunden seien. In dem Artikel wurde auch der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. mit negativen Aussagen über U. zitiert.
5. Am 18. Mai 1997 gab der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. eine Pressemitteilung mit der Überschrift „Sicherheitslücke in ärztlicher Praxis-EDV – Patientendaten im Zugriff der Psychosekte U. heraus. Er warnte vor der zumindest möglichen Gefahr, dass die Beschwerdeführerin ihren Zugriff auf Patientendaten für die Zwecke der Glaubensgemeinschaft U. missbrauchen könnte. Er verwies auch auf die ungewöhnlichen Sichtweisen von U. hinsichtlich der Behandlung von Krankheiten, bei der „kosmische Strahlung“ Medikamenten vorzuziehen sei.
6. Am 20. Mai 1997 gab der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. einem unabhängigen b. Radiosender ein Interview, in dem er bestätigte, dass er die Datensicherheit gefährdet sehe, wobei er explizit darauf hinwies, dass weder er noch die M. behauptet hätte, dass die Beschwerdeführerin ihren Zugriff auf Patientendaten in der Vergangenheit bereits missbraucht hätte. Dennoch sei er der Auffassung, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um einen „Christusbetrieb“ mit Verbindung zu U. und angesichts ihrer ungewöhnlichen Ansichten hinsichtlich der Behandlung von Krankheiten um eine „dubiose Organisation“ handle, und er rief niedergelassene Ärzte dazu auf, zu überdenken, ob sie den Zugriff auf Patientendaten gewähren wollen. Ein Vertreter der Beschwerdeführerin kam über eine Tonaufnahme, in der er alle Vorwürfe zurückwies und den Beauftragten der Evangelischen Kirche einen „öffentlichen Lügner“ nannte, ebenfalls zu Wort.
7. Anschließend wurde das Thema von mehreren regionalen und überregionalen Tageszeitungen aufgegriffen, die die in der Pressemitteilung ausgedrückte Angst vor einer möglichen Sicherheitslücke wiederholten.
8. Am 29. Mai 1997 kündigte das Unternehmen, das die Beschwerdeführerin mit dem Vertrieb und dem Kundenservice für ihre Software beauftragt hatte, unter Hinweis auf die kritischen Pressemeldungen den Vertrag.
9. Da sie hierdurch ihre Haupteinnahmequelle verlor, stellte die Beschwerdeführerin ihre Geschäftstätigkeit am 31. Dezember 1997 ein.
2. Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten
10. Die Beschwerdeführerin erhob Unterlassungsklage zum Verwaltungsgericht. Am 11. November 1998 zog die Beschwerdeführerin ihre Klage teilweise zurück, nachdem das Verwaltungsgericht erklärt hatte, dass die Äußerungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin verletzt hätten.
11. Am 4. Juni 1999 hob der Verwaltungsgerichtshof das Urteil der Vorinstanz im Beschwerdeverfahren auf, wobei er angab, dass gleichzeitig ein zivilrechtliches Schadenersatzverfahren anhängig sei, welches Vorrang vor dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren habe.
12. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung am 12. Juli 2000.
13. Am 9. Mai 2001 wies das Landgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Schadenersatz und eine Unterlassungsanordnung nach § 823 Abs. 1 BGB (siehe Rdnr. 17) zurück. Es befand, dass weder die Persönlichkeitsrechte der Beschwerdeführerin noch ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb durch den Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. verletzt worden seien.
14. Das Landgericht wog die Rechte der Beschwerdeführerin gegen die Rechte der Kirche auf freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit ab und vertrat die Auffassung, dass die Tatsachenbehauptungen zutreffend gewesen seien, insbesondere derjenige Teil der Pressemitteilung und des Interviews, bei dem es um den „Zugriff“ von U. auf Patientendaten gegangen sei. Das Landgericht räumte ein, dass sich die negative Darstellung von U. negativ auf das Geschäft der Beschwerdeführerin ausgewirkt haben könnte. U. sei aber nicht unberechtigt kritisiert oder Schmähkritik ausgesetzt worden. Die Äußerung sei mit einer expliziten Äußerung dahingehend einhergegangen, dass es bisher keinerlei Anzeichen für einen missbräuchlichen Zugriff der Beschwerdeführerin auf Patientendaten gegeben habe. Die Evangelische Kirche sei zur Kritik an der Beschwerdeführerin berechtigt gewesen, die tatsächlich der Kontrolle einer anderen Religionsgemeinschaft unterlegen habe. Unter Bezugnahme auf ein früheres Urteil des Verwaltungsgerichtshofs berücksichtigte das Landgericht, dass die Mitglieder von U. kein größeres finanzielles Einkommen außerhalb der von der Gemeinschaft betriebenen sogenannten „Christusbetriebe“ erzielen dürften. Persönliches Vermögen hätten die Mitglieder dem Gemeinwohl der Gruppe zur Verfügung zu stellen. Für eine strikte Trennung zwischen den persönlichen religiösen Überzeugungen der Mitarbeiter und der Geschäftsführung einerseits und dem Unternehmen andererseits habe die Evangelische Kirche daher keinen Grund gehabt. Ihre enge Bindung an U. verstärke das Sicherheitsrisiko.
15. Am 8. Februar 2002 bestätigte das Oberlandesgericht das Urteil und schloss sich der Begründung an. Darüber hinaus betonte es bei der Interessenabwägung, dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in B. mit ihren Äußerungen keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt habe. Vielmehr habe sie ein Thema von erheblichem öffentlichem Interesse angesprochen, das mehr als 400 Arztpraxen in B. betreffe. Es stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Beschwerdeführerin den Äußerungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. betreffend ihre Anschauungen hinsichtlich medizinischer Behandlungen (oder denen von U.) nicht der Sache nach widersprochen hat. Ferner stellte es fest, dass der Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. die öffentliche Debatte nicht angestoßen habe, sondern auf eine andere Veröffentlichung reagiert habe. Schließlich stellte das Oberlandesgericht fest, dass die Folgen der Pressemittelung für die Beschwerdeführerin äußerst negativ gewesen seien. Diese seien jedoch einer Debatte geschuldet und nicht durch irgendeine Art von Druck auf die betroffenen Arztpraxen und Patienten hervorgerufen worden.
16. Am 18. Dezember 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 198/03).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
17. Die einschlägigen Vorschriften des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches lauten wie folgt:
§ 823
„(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. […]“
§ 1004
„(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.“
Nach der ständigen Rechtsprechung der deutschen Zivilgerichte sieht § 823 Abs. 1 und 2 BGB i. V. m. § 1004 BGB (in analoger Anwendung) für jede Person – natürliche wie juristische – deren Persönlichkeitsrechte konkret gefährdet sind, ein Recht auf Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs vor.
BESCHWERDEN
18. Die Beschwerdeführerin berief sich auf die Artikel 8 und 9 der Konvention sowie auf Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls und rügte, dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in B. ihren Ruf beschädigt und ihre wirtschaftliche Grundlage zerstört habe, indem sie die religiöse Angehörigkeit ihrer Mitarbeiter und Geschäftsführung offengelegt und auf dieser Grundlage ihre Verlässlichkeit in Frage gestellt habe. Ohne irgendwelche Beweise habe die Evangelisch-Lutherische Kirche in B. der Öffentlichkeit gegenüber behauptet, der potentielle Zugriff der Beschwerdeführerin auf medizinische Patientendaten stelle ein Sicherheitsrisiko dar. Darüber hinaus behauptete die Beschwerdeführerin, dass sie als Rechtskörper ihre Rechte aus den Artikeln 8 und 9 der Konvention geltend machen könne, soweit die Religionszugehörigkeit ihrer Mitarbeiter und Geschäftsführung öffentlich gemacht worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention
19. Die Beschwerdeführerin rügte, dass ihr Ruf durch die Äußerungen des Sektenbeauftragten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. beschädigt worden sei. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieser Teil der Individualbeschwerde in erster Linie nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen ist, der wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
1. Anwendbarkeit von Artikel 8
20. Es stellt sich die Frage, ob der Aspekt des „Privatlebens“ aus Artikel 8 in diesem Fall, in dem eine juristische Person – die Beschwerdeführerin – eine angebliche Verletzung ihres Rufes gerügt hat, anwendbar ist.
21. Der Gerichtshof erinnert daran, dass der Aspekt des Privatlebens aus Artikel 8 der Konvention den Ruf einer natürlichen Person umfasst (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 82, 7. Februar 2012). Im Hinblick auf juristische Personen hat der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt, dass die Geschäftsräume (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41604/98, Rdnr. 31, ECHR 2005‑IV mit weiteren Verweisen, und N. ./. Deutschland, 16. Dezember 1992, Rdnrn. 29-31, Serie A Band 251‑B) und die Korrespondenz (siehe Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 74336/01, Rdnrn. 43-45, ECHR 2007‑IV) einer juristischen Person in den Anwendungsbereich von Artikel 8 fallen.Der Gerichtshof hat darüber hinaus festgestellt, dass der Schutz des Rufes eines Unternehmens einen rechtmäßigen Zweck einer Einschränkung nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention darstellen kann (siehe H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28274/08, §Rdnr. 64, ECHR 2011 (Auszüge), und Steel and Morris ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 68416/01, Rdnr. 94, ECHR 2005‑II)
22. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem ein gerechter Ausgleich zwischen den Rechten der Beschwerdeführerin und der Meinungsfreiheit hergestellt werden muss, der Ausgang des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich nicht davon abhängen sollte, ob die Beschwerde nach Artikel 10 der Konvention von der Person, die den verletzenden Artikel veröffentlicht hat, oder nach Artikel 8 der Konvention von der Person, die Gegenstand dieses Artikels war, beim Gerichtshof eingereicht wurde. Tatsächlich verdienen diese Rechte grundsätzlich die gleiche Achtung (siehe S., a. a. O.,Rdnr. 87, und Mosley ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 48009/08, Rdnr. 111, 10. Mai 2011).
23. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er die Frage, ob der Ruf eines Unternehmens unter den Aspekt des Privatlebens nach Artikel 8 Abs. 1 fällt, für die Zwecke der vorliegenden Individualbeschwerde offen lassen kann. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze wird er von der Annahme ausgehen, dass Artikel 8 Anwendung findet.
2. Positive Verpflichtungen
24. In der vorliegenden Rechtssache geht es nicht um eine staatliche Handlung, sondern um den angeblich unzulänglichen Schutz des Rufes der Beschwerdeführerin durch die innerstaatlichen Gerichte.
25. Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens und dem in Artikel 10 der Konvention garantierten Recht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. auf freie Meinungsäußerung ein gerechter Ausgleich hergestellt worden ist.
26. Die entscheidenden Kriterien für die Abwägung dieser Interessen bestehen in der Frage, ob ein Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse geleistet wurde, in der Bekanntheit der betroffenen Person, dem früheren Verhalten der betroffenen Person und dem Inhalt, der Form und den Folgen der Veröffentlichung (siehe H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnrn. 108 f., ECHR 2012).
27. Ein weiterer besonders wichtiger Aspekt für die Beurteilung durch den Gerichtshof ist die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Während das Vorliegen von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ist ein Werturteil keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Dennoch kann selbst im Falle einer Äußerung, die einem Werturteil gleichkommt, die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs davon abhängen, ob eine hinreichende Tatsachengrundlage für die angegriffene Äußerung vorliegt, da auch ein Werturteil als überzogen angesehen werden kann, wenn es von keinerlei Tatsachen gestützt wird (siehe Ferihumer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 30547/03, Rdnr. 24, 1. Februar 2007).
28. Der Gerichtshof stellt fest, dass die angegriffenen Äußerungen des Vertreters der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse geleistet haben, nämlich über die Datensicherheit in dem sensiblen Bereich des Schutzes medizinischer Daten, und dass die Debatte durch eine frühere Veröffentlichung, die keinen Bezug zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. aufwies, angestoßen wurde. Die Äußerungen mit Bezug auf den Zugriff von U. auf Patientendaten basierten – wie die innerstaatlichen Gerichte festgestellt haben – auf wahren Tatsachen. Was die Äußerungen hinsichtlich der Gefahr eines missbräuchlichen Zugriffs durch U. auf Patientendaten, ein Werturteil, angeht, hatte diese Behauptung eine Tatsachengrundlage: den bestehenden Zugriff auf solche Daten. Darüber hinaus hatte der Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. klargestellt, dass er nicht behaupte, U. habe diesen Datenzugriff tatsächlich missbraucht. Was die Beschreibung der Beschwerdeführerin als „dubiose Organisation“ angeht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dieses negative Werturteil eine hinreichende Tatsachengrundlage hatte, da es ein Unternehmen betraf, das der tatsächlichen Kontrolle einer anderen Religionsgemeinschaft unterstand, deren ungewöhnliche Anschauungen hinsichtlich medizinischer Behandlungen in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten nicht bestritten wurden, und dass es keine Schmähkritik darstellte. Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten ferner, dass die Äußerungen des Vertreters der Evangelisch-Lutherischen Kirche in B. negative wirtschaftliche Folgen für die Beschwerdeführerin hatten, die ihre Geschäftstätigkeit einstellen musste.Sie stellten jedoch fest, dass dies im Wesentlichen eine Folge einer öffentlichen Debatte gewesen sei, die bereits zuvor von Dritten angestoßen worden sei.
29. In Anbetracht der Tatsache, dass die deutschen Gerichte all diese Faktoren berücksichtigt und bei den angegriffenen Entscheidungen in angemessener Weise gegeneinander abgewogen haben, kann nicht festgestellt werden, dass sie ihren Ermessensspielraum im Hinblick auf Artikel 8 überschritten hätten. Folglich ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Rügen der Beschwerdeführerin keine Anzeichen einer Verletzung von Artikel 8 erkennen lassen und gemäß Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen sind.
B. Behauptete Verletzung von Artikel 9 der Konvention
30. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Veröffentlichung der Religionszugehörigkeit ihrer Mitarbeiter ihre Rechte aus Artikel 9 der Konvention verletzt habe.
31. Der Gerichtshof erinnert daran, dass eine juristische Person wie eine Kirche oder eine geistliche Gemeinschaft die in Artikel 9 der Konvention garantierten Rechte im Namen ihrer Anhänger ausüben darf (siehe Cha’areShalomVeTsedek ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 27417/95, Rdnr. 72, ECHR 2000-VII).In der vorliegenden Rechtssache handelt es sich bei der Beschwerdeführerin jedoch um eine juristische Person, die allein für Geschäftszwecke gegründet wurde und keine religiösen Aktivitäten betreibt; vielmehr versucht sie, sich von den religiösen Überzeugungen ihrer Geschäftsführung und Mitarbeiter zu distanzieren.
32. Daher kann die Beschwerdeführerin weder die in Artikel 9 garantierten Rechte ihrer Mitarbeiter ausüben, noch sich auf ein eigenes Recht aus Artikel 9 berufen.
33. Nach alledem stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Teil der Beschwerde rationepersonae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
C. Behauptete Verletzung von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls
34. Die Beschwerdeführerin rügte zusätzlich, dass die in Rede stehenden Äußerungen ihr Geschäft ruiniert und damit gegen ihre Eigentumsrechte verstoßen hätten. Die Frage, ob der Ruf und der ideelle Wert eines Unternehmens „Eigentum“ im Sinne von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls darstellen und dem Vertragsstaat in Situationen wie diesen positive Verpflichtungen auferlegen, kann dahinstehen, da die erforderliche Abwägung keine anderen Fragen aufwerfen würde als die Abwägung nach Artikel 8.
35. Folglich ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Rügen der Beschwerdeführerin nach Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls ebenfalls gemäß Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen sind.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Stephen Phillips Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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