LOY gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 15069/08

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 15069/08
L. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 7. Oktober 2014 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
und Stephen Phillips, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 22. März 2008 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der Beschwerdeführer, L., hat einen serbischen Vater und eine bosnische Mutter. Er ist serbischer Staatsangehöriger und lebte in O. in Deutschland. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn J.-R. Albert, Rechtsanwalt in Fürth, vertreten.

2. Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

A. Die Umstände der Rechtssache

1. Persönliche Umstände

3. Der Beschwerdeführer wurde 19.. in Österreich geboren und zog 1979 vom ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Danach besuchte er das ehemalige Jugoslawien ein Mal im Jahr 1988. Er besuchte in Deutschland die Schule und schloss dort eine Berufsausbildung ab. 1995 erteilten ihm die deutschen Behörden eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Der Vater des Beschwerdeführers, seine Stiefmutter und seine Geschwister sind in Deutschland wohnhaft. Der Beschwerdeführer erwähnte zwar Kontakte zu seiner Schwester, machte aber keine Angaben zum konkreten Aufenthaltsort sonstiger Familienmitglieder oder zu seinem Verhältnis zu diesen.

4. Der Beschwerdeführer ging eine Beziehung zu einer deutschen Staatsangehörigen ein und ist Vater von zwei Kindern, die 1993 bzw. 1997 geboren wurden. Die Kinder besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit und sind in Deutschland aufgewachsen. Der Beschwerdeführer und die Mutter der Kinder trennten sich 1998. Die Kinder leben bei ihrer Mutter, die das alleinige Sorgerecht hat. Der Beschwerdeführer war zwar einige Zeit unter derselben Adresse gemeldet, es ist jedoch unklar, ob er jemals mit ihnen im selben Haushalt zusammengelebt hat. Nach Angabe der Mutter der Kinder habe er vor seinem Aufenthalt im Strafvollzug zu keiner Zeit Unterhalt gezahlt und sei an keinen Erziehungsfragen interessiert oder beteiligt gewesen. Der Vortrag des Beschwerdeführers enthielt keine substantiierte Beschreibung seines Verhältnisses zu ihnen in dieser Zeit.

5. Später verlobte sich der Beschwerdeführer mit einer anderen deutschen Staatsangehörigen. Am 6. Juni 2006 traten sie wegen der zur Eheschließung vorzulegenden Unterlagen erstmals an das Standesamt heran. Am 8. Februar 2007 heirateten sie, trennten sich jedoch später.

2. Die Verurteilungen des Beschwerdeführers

6. Zwischen 1996 und 1999 wurde der Beschwerdeführer viermal zu einer Geldstrafe verurteilt, und zwar wegen versuchter Strafvereitelung, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und unerlaubten Aufenthalts.

7. Am 7. Februar 2000 wurde der Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, nachdem er die Mutter der Kinder angegriffen hatte. Die Bewährungszeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt.

8. Am 10. Juli 2003 wurde er wegen Körperverletzung zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt. Er hatte in einem Nachtclub einem Mann einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, durch den bei diesem eine blutenden Lippe und ein loser Zahn verursacht worden war. Anschließend war er vom Tatort geflohen, so dass erst ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen eines damit nicht in Zusammenhang stehenden Vorfalls dazu führte, dass seine Verwicklung in diesen Fall aufgedeckt wurde.

9. Am 13. Mai 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln festgenommen. Im Juli 2005 verurteilte ihn das innerstaatliche Gericht wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer an der Koordinierung der Lieferung von Amphetaminen in zwei Fällen (0,5 kg bzw. 2,5 kg) beteiligt gewesen sei. Die letzte Tat habe am 13. Mai 2004 stattgefunden und der Beschwerdeführer sei unmittelbar nach einer Übergabe festgenommen worden. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht strafmildernd, dass ein verdeckter Ermittler als Käufer beteiligt gewesen sei, es berücksichtigte aber auch seine Vorstrafen. Ferner widerrief das Gericht die Strafaussetzung zur Bewährung hinsichtlich der Verurteilung wegen Körperverletzung aus dem Jahr 2003 und setzte die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wieder in Kraft.

10. Zwar besuchten die Kinder des Beschwerdeführers ihn im Strafvollzug nicht, er hatte aber um solche Kontakte gebeten. Er behauptete, diese fänden nicht statt, weil er den Wunsch der Mutter respektiere, ihnen die Erfahrung eines Besuchs in einer Justizvollzugsanstalt zu ersparen. Die Mutter der Kinder gab an, das ältere Kind habe sich geweigert, ihn zu sehen, während sie dem jüngeren Kind von dieser Bitte gar nichts gesagt habe.

11. Im Oktober 2006 entließ das innerstaatliche Gericht den Beschwerdeführer auf Bewährung. In seiner Entscheidung erwähnte das Gericht, dass sein Verhalten im Strafvollzug sehr gut gewesen sei.

12. Nach seiner Entlassung fanden einige Treffen mit seinen Kindern statt, zunächst mit Unterstützung der Schwester des Beschwerdeführers, später unbegleitet. Abgesehen von der allgemeinen Behauptung, er sei dabei, sein Verhältnis zu seinen Kinder zu intensivieren, wurden keine wesentlichen Angaben zur Häufigkeit der Kontakte oder zu sonstigen Einzelheiten gemacht.

3. Das Ausweisungsverfahren

13. Am 20. Januar 2006 erließ die Stadt Nürnberg einen Ausweisungsbescheid gegen den Beschwerdeführer. Die Stadt stellte fest, dass im Fall des Beschwerdeführers § 53 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gelte, der die Ausweisung eines Täters vorsieht, der innerhalb von fünf Jahren wegen einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren oder wegen anderer Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurde. Zwar sieht § 56 AufenthG einen gewissen Schutz für Ausländer mit langjährigem, rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland vor, allerdings wird nach § 53 bei Vorliegen seiner Voraussetzungen dennoch ein Ausweisungstatbestand angenommen. Hier liege kein Ausnahmefall vor, in dem die Annahme der Gefährlichkeit in Bezug auf die zugrundeliegenden Straftaten widerlegt sei; auch führten die Umstände nicht zu dem Schluss, dass eine Ausweisung eine unzumutbare Härte darstellen würde.

14. Am 27. Juli 2006 wies das Verwaltungsgericht Ansbach die Klage des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid ab. Unter Hervorhebung der Vorstrafen des Beschwerdeführers führte es aus, dass er in verhältnismäßig kurzen Zeitabständen und teilweise, während er wegen früherer Taten noch unter Bewährung gestanden habe, zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als drei Jahren verurteilt worden sei. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer Betäubungsmitteldelikte nach dem Betäubungsmittelgesetz begangen, die eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren zur Folge gehabt hätten. Er stelle daher eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, auch wenn er seine Taten gestanden und Reue gezeigt habe und die Strafgerichte festgestellt hätten, dass er sich in der Strafhaft unauffällig gezeigt habe. Der Ausweisungsbescheid stehe auch im Einklang mit Artikel 8 der Konvention. Der Beschwerdeführer habe zwei in Deutschland lebende Kinder, jedoch könne sein Verhältnis zu ihnen nicht als familiäre Lebensgemeinschaft betrachtet werden. Insbesondere sei der einzige Nachweis, den er diesbezüglich vorgelegt habe, eine Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft gewesen. Das Gericht hob hervor, dass der Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Körperverletzung ein Angriff auf die Mutter der Kinder zugrunde gelegen habe und dass er in der Haft von den Kindern keinen Besuch erhalten habe. Außerdem sei dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Adresse seiner Kinder nicht bekannt gewesen. Das Gericht stellte weiterhin fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit einer deutschen Staatsangehörigen verlobt gewesen sei, wies aber darauf hin, dass sie erst nach Erlass des Ausweisungsbescheids an das Standesamt herangetreten seien. Ferner habe der Beschwerdeführer zwar lange in Deutschland gelebt und sei in Deutschland zur Schule gegangen, es sehe jedoch keinen Grund, die Ausweisung wegen besonderer Umstände hinsichtlich seiner Straftaten oder weil er besonders gut in die deutsche Gesellschaft integriert wäre, nicht zu verfügen.

15. Am 30. Oktober 2007 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Zulassung der Berufung des Beschwerdeführers ab und bestätigte die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts. Er stellte fest, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts hinreichend begründet sei und alle ordnungsgemäß vorgetragenen Argumente berücksichtige. Des Weiteren werfe die Rechtssache des Beschwerdeführers nicht, wie geltend gemacht worden sei, Fragen von grundsätzlicher, über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung auf.

16. Am 19. Dezember 2007 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers und einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ohne weitere Begründung ab (2 BvR 2522/07).

17. Im März 2008 wurde der Beschwerdeführer nach Serbien abgeschoben.

18. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers teilte dem Gerichtshof mit, dass die Wirkungen der Ausweisung nicht befristet worden seien.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

19. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG lautet wie folgt:

„Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er

1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,

2. wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, wegen Landfriedensbruches unter den in § 125a Satz 2 des Strafgesetzbuches genannten Voraussetzungen oder wegen eines im Rahmen einer verbotenen öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen Aufzugs begangenen Landfriedensbruches gemäß § 125 des Strafgesetzbuches rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist […]“

20. § 56 Abs. 1 AufenthG lautet wie folgt:

„Ein Ausländer, der

1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, […]

2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, […]

4. mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, […]

genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 vor.Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. […]“

RÜGEN

21. Der Beschwerdeführer rügte unter Berufung auf die Artikel 8 und 12 der Konvention, dass er aufgrund der Ausweisung sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens mit seinen Kindern und seiner Ehefrau nicht ausüben könne.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

22. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer nicht daran gehindert war, 2007 zu heiraten; er wird sich nach Artikel 8 der Konvention mit der Sache befassen.

23. Der Beschwerdeführer rügte, dass er infolge seiner Ausweisung sein Recht auf Privat- und Familienleben mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in seiner vertrauten Umgebung nicht ausüben könne. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit […], zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, […].“

24. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Ausweisung unverhältnismäßig sei, da er seit seiner Kindheit in Deutschland gelebt habe, in Deutschland zur Schule gegangen sei, kaum serbisch spreche und enge persönliche und familiäre Bindungen zu Deutschland habe. Die innerstaatlichen Gerichte hätten nicht hinreichend berücksichtigt, dass er zwei minderjährige Kinder habe, die in Deutschland lebten, und dass er mit einer deutschen Staatsangehörigen verlobt sei. Ferner hätte berücksichtigt werden müssen, dass er von einem verdeckten Ermittler zur Begehung der letzten Straftat angestiftet worden sei, dass er sich im Strafvollzug tadellos geführt habe und dass er sein Verhalten bereue.

25. Der Gerichtshof bestätigt erneut, dass ein Staat das Recht hat, im Rahmen des Völkerrechts und nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort zu regeln. Die Konvention garantiert nicht das Recht eines Ausländers auf Einreise oder Aufenthalt in einem bestimmten Land, und die Vertragsstaaten sind in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, befugt, einen wegen Straftaten verurteilten Ausländer auszuweisen. Ihre Entscheidungen in diesem Bereich müssen aber, soweit sie in ein nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d. h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (siehe Üner ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, Rdnr. 54, ECHR 2006-XII).

26. Der Gerichtshof nimmt die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, dass die Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen Kindern und zu seiner Verlobten zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht keine familiäre Beziehung gewesen sei.

27. Unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer in dem Land, aus dem sie ausgewiesen werden sollen, kommen nicht alle niedergelassenen Zuwanderer dort zwingend in den Genuss eines „Familienlebens“ im Sinne des Artikels 8. Da Artikel 8 allerdings auch das Recht schützt, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt einzugehen und zu entwickeln, und bisweilen Aspekte der sozialen Identität einer Person betreffen kann, muss anerkannt werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Zuwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben, einen Teil des Begriffs „Privatleben“ im Sinne des Artikels 8 darstellt. Unabhängig davon, ob ein „Familienleben“ besteht, stellt die Ausweisung eines niedergelassenen Zuwanderers daher einen Eingriff in dessen Recht auf Achtung seines Privatlebens dar (siehe Üner, a. a. O., Rdnr. 59; Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnr. 63, ECHR 2008).

28. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Ausweisung auf innerstaatlichem Recht beruhte, nämlich § 53 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, und dass sie einem legitimen Ziel diente, nämlich der Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten.

29. Es ist somit zu beurteilen, ob die Ausweisung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, d. h., ob sie durch ein dringendes soziales Bedürfnis begründet war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand.

30. Der Gerichtshof wiederholt, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand, die folgenden Kriterien heranzuziehen sind (siehe Üner,a. a. O., Rdnrn. 57‑58; Maslov, a. a. O., Rdnrn. 69-71):

„– Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;

– die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

– die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

– die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;

– die familiäre Situation des Beschwerdeführers, z. B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;

– ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;

– ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und

– das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.“

[…]

„– die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und

– die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.“

31. Bei der Anwendung dieser Kriterien auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst die Art der begangenen Straftaten fest: Der Beschwerdeführer wurde wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Amphetaminen in nicht geringer Menge in zwei Fällen verurteilt. Der Gerichtshof hat häufig festgestellt, dass die Staaten berechtigte Gründe haben, die Verbreitung von Drogen entschieden zu bekämpfen (A.W. Khan ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 47486/06, Rdnrn. 40, 41, 12. Januar 2010; Dalia ./. Frankreich, 19. Februar 1998, Rdnr. 54, Reports of JudgmentsandDecisions 1998‑I; Baghli ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34374/97, Rdnr. 48, ECHR 1999‑VIII). Die verhängte Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren zeigt die Schwere der von ihm begangenen Straftaten. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Strafgericht, dass ein verdeckter Ermittler an der Transaktion beteiligt gewesen sei. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer bereits zuvor dreimal innerhalb kurzer Zeit wegen Körperverletzung verurteilt worden war und dass die Straftat innerhalb der Bewährungszeit aus einer früheren Verurteilung begangen wurde.

32. Was die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Deutschland angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nahezu 30 Jahre in Deutschland gelebt hatte und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatte, als die Ausweisungsverfügung bestandskräftig wurde.

33. Im Hinblick auf die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in diesem Zeitraum merkt der Gerichtshof an, dass die Abschiebungsverfügung zugestellt wurde, als der Beschwerdeführer noch seine Freiheitsstrafe wegen Drogendelikten verbüßte, und dass das Verfahren nach seiner Entlassung im Oktober 2006 fortgesetzt wurde. Das Verfahren wurde im Dezember 2007 abgeschlossen und der Beschwerdeführer im März 2008 abgeschoben. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass das Verfahren mit angemessener Zügigkeit geführt wurde, und merkt an, dass der Beschwerdeführer einen Großteil der Zeit zwischen der Begehung der Straftat und der tatsächlichen Rückführung (fast 29 von 46 Monaten) im Strafvollzug verbrachte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er in der Zeit zwischen seiner Entlassung aus dem Strafvollzug und dem Verfahrensende erneut straffällig wurde.

34. Hinsichtlich der familiären Beziehung zu seinen Kindern aus seiner früheren Beziehung stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer die Vaterschaft anerkannt hat. Er hat jedoch nicht dargelegt, dass er vor seiner Festnahme in irgendeiner Weise an der Erziehung der Kinder beteiligt war. Die zweite Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Gewaltdelikten betraf einen körperlichen Angriff auf die Mutter. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass während des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Strafvollzug keine Besuche stattfanden. Ein Kind weigerte sich, ihn zu sehen, und ein Kind wusste nichts von seinem Aufenthalt im Strafvollzug. Erst nach seiner Entlassung (und während des laufenden Ausweisungsverfahrens) fanden einige Treffen statt; da jedoch keine weiteren substantiierten Angaben in dieser Hinsicht vorliegen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die familiäre Bindung des Beschwerdeführers zu seinen Kindern nicht sehr ausgeprägt war.

35. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers eine weitere Entfernung von seinen Kindern zur Folge hatte. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich die Ausweisung so auswirkt, wie es der Fall wäre, wenn der Beschwerdeführer und seine Kinder als Familie zusammengelebt hätten. Zudem sind die Kinder jetzt 21 bzw. 17 Jahre alt und der Kontakt kann per Telefon und E-Mail sowie durch Besuche bei dem Beschwerdeführer aufrecht erhalten werden.

36. Was das Familienleben mit seiner Ehefrau angeht, stellt der Gerichtshof Folgendes fest: Als der Beschwerdeführer im Juni 2006 (als er sich noch im Strafvollzug befand) an das Standesamt herantrat, war der Ausweisungsbescheid bereits zugestellt worden und zum Zeitpunkt der Eheschließung im Februar 2007 war seine erste Klage gegen den Ausweisungsbescheid bereits abgewiesen worden. Ihr Familienleben fand daher immer vor dem Hintergrund des laufenden Ausweisungsverfahrens statt. Kurz nach der Heirat trennten sie sich. Unter diesen Umständen kann der familiären Beziehung zu seiner Ehefrau kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden (siehe A.W. Khan ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 47486/06, Rdnrn. 46, 47, 12. Januar 2010).

37. Der Gerichtshof prüft auch, ob bedeutsame Beziehungen innerhalb der Gesellschaft des Aufenthaltslandesbestehen (siehe T., a. a. O., Rdnr. 62; M., a. a. O., Rdnr. 58; L. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 25021/08, 20. September 2011) und stellt fest, dass der Beschwerdeführer – abgesehen von der Erwähnung, dass er in Deutschland zur Schule gegangen sei und dort seine Ausbildung abgeschlossen habe – neben dem Nachweis der Dauer seines Aufenthalts keine Nachweise über eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vorgebracht hat. Neben der Berufung auf seine Kinder und seine frühere Ehefrau nahm er auf die Tatsache Bezug, dass sein Vater, seine Stiefmutter und seine Geschwister in Deutschland leben. Er behauptet, Kontakt zu seiner Schwester zu haben, nennt aber keine Einzelheiten. Zu sonstigen sozialen Kontakten wurden keine Angaben gemacht. Deshalb können in der vorliegenden Rechtssache nur wenige bedeutsame Beziehungen festgestellt werden.

38. Hinsichtlich der Bindungen des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsland stellt der Gerichtshof fest, dass er bis 1979 im ehemaligen Jugoslawien lebte und es den Anschein hat, dass er etwas serbisch spricht, auch wenn er behauptet, in der Sprache weder lesen noch schreiben zu können.

39. Darüber hinaus merkt der Gerichtshof an, dass die Ausweisung aus dem Bundesgebiet nicht zwingend dauerhaft sein muss und dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, eine Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zu beantragen (siehe S. ./. Deutschland(Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45971, Rdnr. 30, 19. März 2013).

40. In Anbetracht der Schwere des von dem Beschwerdeführer begangenen Drogendelikts in Verbindung mit seinen früheren Gewaltdelikten und angesichts der Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Kontrolle und Regelung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet erkennt der Gerichtshof an, dass die innerstaatlichen Behörden das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens und das Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten angemessen gegeneinander abgewogen haben. Der Gerichtshof erkennt die Konsequenzen der Ausweisung für den Beschwerdeführer an, kann aber nicht feststellen, dass der beschwerdegegnerische Staat in der vorliegenden Rechtssache bei der Entscheidung über die Verhängung dieser Maßnahme seinen eigenen Interessen zu großes Gewicht beigemessen hätte.

41. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

Stephen Phillips                                       Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                                     Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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