SCIABICA gegen Italien und Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Beschwerde Nr. 1891/10

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
ZWEITE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Beschwerde Nr. 1891/10
S.
gegen Italien und Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Zweite Sektion), der am 21. Oktober 2014 als Kammer zusammengetreten ist, die sich zusammensetzt aus:

Işıl Karakaş, Präsidentin,
Guido Raimondi,
András Sajó,
Angelika Nußberger,
Helen Keller,
Paul Lemmens,
Robert Spano,Richter,
und Stanley Naimith, Kanzler der Sektion,

gestützt auf die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention)“,

aufgrund der vorerwähnten Beschwerde, die am 6. Januar 2010 erhoben worden ist,

aufgrund der von der beschwerdegegnerischen italienischen Regierung vorgelegten Stellungnahmen und der vom Beschwerdeführer in Beantwortung unterbreiteten Stellungnahmen,

hat nach Beratung die folgende Entscheidung erlassen:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer S. ist italienischer Staatsangehöriger und in V. wohnhaft. Er wird vor dem Gerichtshof von Herrn G., Rechtsanwalt in P., vertreten.

2. Die italienische Regierung („die Regierung“) wird von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau E. Spatafora, vertreten.

A. Die Umstände des vorliegenden Falles

3. Die Umstände des Falles, so wie sie von den Parteien dargelegt worden sind, können wie folgt zusammengefasst werden.

4. Am 13. Juli 1994 verurteilte das Landgericht Hamburg den Beschwerdeführer und einen anderen Angeklagten, X., wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe.

5. Am 6. Juli 2000 beantragte der italienische Rechtsanwalt des Beschwerdeführers bei der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Palermo dessen Überstellung nach Italien.

6. Am 8. September 2000 stimmte der Beschwerdeführer gemäß dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (im Folgenden „Überstellungsübereinkommen“) und seinem Zusatzprotokoll seiner Überstellung nach Italien zu.

7. Der Beschwerdeführer behauptet, dass er seiner Überstellung nur zugestimmt habe, weil aus dem Schriftstück, das er hierzu unterzeichnet habe, hervorgegangen sei, dass die Strafe am 3. August 2008 verbüßt sei. Die Durchsicht der Verfahrensunterlagen hat ergeben, dass die Satzteile „zwei Drittel der Strafe“ und „Ende der Strafe“ im Original dieses Schriftstücks in deutscher Sprache gestrichen worden waren, während die Anmerkung „15 Jahre: 3/08/2008“ auch in der deutschen Fassung und der beglaubigten Übersetzung ins Italienische auftaucht.

8. Per Fax vom 21. Juli 2001 beauftragte das italienische Justizministerium das italienische Konsulat in Deutschland, den Beschwerdeführer darüber zu unterrichten, dass er, sobald er nach Italien überstellt worden sei, eine Mindeststrafe zu verbüßen habe, die im Vergleich zu der vom deutschen Gesetzbuch vorgesehenen höher sei.

9. Per Fax vom 13. September 2001 unterrichtete der Konsul das Ministerium, dass der Beschwerdeführer am 1. August 2001 ein Ersuchen um Überstellung gemäß Artikel 2 Absatz 2 des Überstellungsübereinkommens unterschrieben hatte. Das Ersuchen lautete wie folgt:

„Ersuchen gemäß Artikel 2 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen

Ich, der Unterzeichnete,

S., geboren am TT. MM 19.. in A., mit einer geschiedenen Person zusammenlebend und derzeit in der Justizvollzugsanstalt in H. in Haft,

erkläre, dass

1) ich italienischer Staatsangehöriger bin;

2) ich durch rechtskräftiges Urteil vom 12. Juli 1994 wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden bin;

3) dass sich die noch zu verbüßende Strafe auf 7 Jahre und 3 Tage beläuft.

Ich möchte nach Italien überstellt werden, um die Reststrafe gemäß dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen zu verbüßen.

Ich bin mir der rechtlichen Folgen bewusst, die sich daraus ergeben würden, dass meinem Überstellungsersuchen möglicherweise stattgegeben wird, und insbesondere der Tatsache bewusst, dass die italienischen Justizbehörden nach der Überstellung Gerichtsverfahren gegen mich betreiben, mich aburteilen und mir wegen einer anderen Straftat als derjenigen, derentwegen ich verurteilt worden bin, die Freiheit entziehen könnten.

Ich, der Unterzeichnete, erkläre, dass mir bekannt ist, dass ich nach meiner Rückkehr nach Italien wahrscheinlich eine Mindeststrafe zu verbüßen habe, die höher als die vom deutschen Strafgesetzbuch vorgesehene ist.

H., den 1. August 2001

Unterschrift“

10. In der Zwischenzeit hat das Appellationsgericht Palermo am 9. Mai 2001 die deutsche Strafe in eine italienische Strafe, d.h. auch eine lebenslange Strafe, umgewandelt: Die wesentliche Folge davon war, dass der Beschwerdeführer nunmehr erst nach Verbüßung von mindestens sechsundzwanzig Jahren Freiheitsstrafe einen Anspruch auf Aussetzung des Strafrestes erheben könnte.

11. Am 29. September 2001 wurde der Beschwerdeführer nach Italien überstellt.

12. Am 20. März 2002 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde vor dem Appellationsgericht und beantragte, die Dauer der Strafvollstreckung auf fünfzehn Jahre festzusetzen. Er trug vor, dass dies die Haftdauer sei, auf deren Grundlage ihm in Deutschland die Aussetzung des Strafrestes hätte gewährt werden können, während in Italien die erforderliche Mindestdauer sechsundzwanzig Jahre betrage. Die tatsächlich von ihm verbüßte Strafe wäre somit 11 Jahre länger.

13. Mit Beschluss vom 23. September 2002 wies das Appellationsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers mit folgender Begründung zurück:

– Die Strafe ist nach den Bestimmungen des italienischen Rechts zu vollstrecken.

– Da der Beschwerdeführer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, hatte keine Erhöhung seiner „Strafe“ stattgefunden.

– Der Beschwerdeführer hatte zum Zeitpunkt der Überstellung davon Kenntnis gehabt, dass die Strafe gemäß den italienischen Gesetzesbestimmungen vollstreckt würde.

Das Gericht wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Erhalt einer Kopie aller deutschen Schriftstücke ab.

14. Der Beschwerdeführer legte Revision ein.

15. Mit Urteil vom 11. Februar 2004 hob der Kassationsgerichtshof die Entscheidung des Appellationsgerichts auf, weil es hätte nachprüfen müssen, ob den einschlägigen deutschen Quellen zufolge der Beschwerdeführer vor seiner Überstellung nach Italien den Anspruch auf eine Verkürzung seiner Strafe bereits „erworben“ hatte.

16. Durch im Rahmen der Rückverweisung ergangenen Beschluss vom 27. Oktober 2004 stellte das Appellationsgericht nach Prüfung der deutschen Unterlagen heraus, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Überstellung noch nicht in den Genuss einer Verkürzung seiner Strafe gelangt war. Nach deutschem Recht stelle nämlich die Aussetzung der Strafe, nachdem der Beschwerdeführer fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe verbüßt hätte, lediglich eine Möglichkeit dar. Diese Verkürzung der Haftdauer bedeute daher für den Beschwerdeführer im Zeitpunkt seiner Überstellung nach Italien noch keinen „erworbenen Anspruch“.

17. Der Beschwerdeführer legte Revision ein. Mit Urteil vom 16. Dezember 2005 wies der Kassationsgerichtshof das Rechtsmittel zurück, denn er war der Auffassung, dass das Appellationsgericht alle strittigen Punkte schlüssig und richtig begründet hatte.

18. Am 2. September 2009 beantragte der Beschwerdeführer beim Appellationsgericht die Aussetzung seiner Strafe. Unter Hinweis darauf, dass sein Mitangeklagter in Deutschland freigelassen worden sei, bestätigte er, dass er nach seiner Überstellung nach Italien seine Zustimmung erteilt habe, indem er ein Schriftstück unterschrieben habe, aus dem hervorging, dass das Ende der Strafe auf den 3. August 2008 festgelegt worden war. Er ersuchte das Appellationsgericht, dieses Dokument zu beschaffen und den zuständigen Beamten des deutschen Ministeriums zu befragen.

19. Mit Beschluss vom 23. November 2009 wies das Appellationsgericht den Antrag des Beschwerdeführers zurück.

20. In seiner Begründung hob das Appellationsgericht zunächst hervor, dass der Mitangeklagte des Beschwerdeführers nicht nach Italien überstellt worden sei, und vertrat folglich die Auffassung, dass die Situation sich anders darstelle.

Es wiederholte anschließend das Argument, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Überstellung den Anspruch auf Aussetzung der Strafe noch nicht erworben hatte, da er die vom deutschen Recht vorgesehenen fünfzehn Jahre Vollstreckung der Strafe noch nicht erreicht gehabt hatte.

Was das angeblich in dem Schriftstück eingetragene Datum anbelangt, das der Beschwerdeführer unterschrieben hatte, weist das Appellationsgericht darauf hin, dass in diesem Schriftstück in deutscher Sprache die Satzteile „zwei Drittel der Strafe“ und „Ende der Strafe“ im deutschen Original gestrichen worden waren.

21. Das Appellationsgericht betonte, dass andere Gefangene sich auch in einer vergleichbaren Situation befänden und dass hierzu eine parlamentarische Anfrage gestellt worden sei, um die Verabschiedung eines Gesetzes zu beantragen, welches dazu bestimmt ist, die Regelung der vom italienischen Recht vorgesehenen Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen gemäß den Grundsätzen des Überstellungsübereinkommens mit dem deutschen Recht in Einklang zu bringen.

22. Der Beschwerdeführer legte Revision ein. Mit Beschluss vom 21. Juni 2010 erklärte der Kassationsgerichtshof das Rechtsmittel wegen offensichtlich fehlender Begründung für unzulässig, denn das Appellationsgericht habe alle strittigen Punkte schlüssig und richtig begründet. Er betonte insbesondere, dass die Frage, ob der Beschwerdeführer den Anspruch auf Aussetzung der Strafe vor seiner Überstellung nach Italien bereits erworben hatte, durch das Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 16. Dezember 2005 schon endgültig beantwortet worden sei (Rdnr. 17 oben).

Infolgedessen habe das Appellationsgericht diesen neuen Antrag des Beschwerdeführers zu Recht mit der Begründung abgewiesen, dass sich die Situation des Mitangeklagten des Beschwerdeführers anders darstelle und die von den deutschen Behörden erhaltenen Informationen erschöpfend seien.

B. Das einschlägige innerstaatliche und internationale Recht

23. Das italienische Recht

Artikel 176 Absätze 1 und 3 des Strafgesetzbuchs lautet wie folgt:

„1. Hat sich der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte während der Vollstreckung seiner Strafe so geführt, dass mit Sicherheit anzunehmen ist, dass er sich gebessert hat, so kann er zur bedingten Entlassung zugelassen werden, wenn er mindestens dreißig Monate oder jedenfalls mindestens die Hälfte der verhängten Strafe verbüßt hat, vorausgesetzt, dass der Rest der Strafe fünf Jahre nicht übersteigt.

(…).

3. Der zu lebenslanger Gefängnisstrafe Verurteilte kann zur bedingten Entlassung zugelassen werden, wenn er mindestens sechsundzwanzig Jahre der Strafe verbüßt hat.“

Gemäß Artikel 50 Absatz 5 des Gesetzes Nr. 354 von 1975 kann der Verurteilte zum offenen Vollzug zugelassen werden, nachdem er mindestens zwanzig Jahre Freiheitsstrafe verbüßt hat.

24. Das Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen und das Zusatzprotokoll

Die Ziele des Übereinkommens von 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (Sammlung Europäischer Verträge, SEV Nr. 112; in diesem Absatz „das Übereinkommen“) und seines Zusatzprotokolls von 1997 (SEV Nr. 167) bestehen darin, die internationale Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten zu entwickeln, den Interessen der Rechtspflege zu dienen und die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen zu fördern. Gemäß der Präambel des Übereinkommens erfordern es diese Ziele, Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen ist, Gelegenheit zu geben, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen.

Nach Artikel 3 Absatz 1 des Übereinkommens ist die Überstellung einer verurteilten Person des „Urteilsstaats“ in den „Vollstreckungsstaat“ insbesondere unter der Voraussetzung gestattet:

– dass sie Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist;

– dass er oder sie (oder in bestimmten Fällen ein Vertreter) der Überstellung zustimmt;

– dass die Handlungen oder Unterlassungen, derentwegen die Sanktion verhängt worden ist, nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellen oder, wenn sie in seinem Hoheitsgebiet begangen oder festgestellt worden wären, darstellen würden;

– dass sich der Urteils- und der Vollstreckungsstaat auf die Überstellung geeinigt haben.

In Artikel 7 des Übereinkommens (Zustimmung und Nachprüfung) heißt es:

„Der Urteilsstaat gewährleistet, dass diejenige Person, die nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d der Überstellung zuzustimmen hat, ihre Zustimmung freiwillig und im vollen Bewusstsein der rechtlichen Folgen gibt. Das Verfahren für diese Zustimmung richtet sich nach dem Recht des Urteilsstaates.

Der Urteilsstaat gibt dem Vollstreckungsstaat Gelegenheit, sich durch einen Konsul oder einen anderen im Einvernehmen mit dem Vollstreckungsstaat bezeichneten Beamten zu vergewissern, dass die Zustimmung entsprechend den in Absatz 1 dargelegten Bedingungen gegeben worden ist.“

Artikel 9 des Übereinkommens („Wirkungen der Überstellung für den Vollstreckungsstaat“) bestimmt:

„1. Die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats:

a. setzen die Vollstreckung der Sanktion unmittelbar oder aufgrund einer Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung unter den in Artikel 10 enthaltenen Bedingungen fort oder

b. wandeln die Entscheidung, durch welche die Sanktion verhängt wurde, unter den in Artikel 11 enthaltenen Bedingungen in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren in eine Entscheidung dieses Staates um, wobei sie die im Urteilsstaat verhängte Sanktion durch eine nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für dieselbe Straftat vorgesehene Sanktion ersetzen.

2. Der Vollstreckungsstaat setzt den Urteilsstaat auf dessen Ersuchen vor Überstellung der verurteilten Person davon in Kenntnis, welches dieser Verfahren er anwenden wird.

3. Die Vollstreckung der Sanktion richtet sich nach dem Recht des Vollstreckungsstaats, und dieser Staat allein ist zuständig, alle erforderlichen Entscheidungen zu treffen.

(…)“

In Artikel 10 des Übereinkommens („Fortsetzung der Vollstreckung“) heißt es:

„1. Im Fall einer Fortsetzung der Vollstreckung ist der Vollstreckungsstaat an die rechtliche Art und die Dauer der Sanktion, wie sie vom Urteilsstaat festgelegt worden sind, gebunden.

2. Ist diese Sanktion jedoch nach Art oder Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar oder schreibt dessen Recht dies vor, so kann dieser Staat die Sanktion durch eine Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung an die nach seinem eigenen Recht für eine Straftat derselben Art vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Diese Strafe oder Maßnahme muss ihrer Art nach soweit wie möglich der Sanktion entsprechen, die durch die zu vollstreckende Entscheidung verhängt worden ist. Sie darf nach Art oder Dauer die im Urteilsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen und das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates vorgesehene Höchstmaß nicht überschreiten.

Artikel 11 des Übereinkommens („Umwandlung der Sanktion“) lautet wie folgt:

„1. Im Fall einer Umwandlung der Sanktion ist das nach dem Recht des Vollstreckungsstaats vorgesehene Verfahren anzuwenden. Bei der Umwandlung:

a. ist die zuständige Behörde an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, soweit sie sich ausdrücklich oder stillschweigend aus dem im Urteilsstaat ergangenen Urteil ergeben;

b. darf die zuständige Behörde eine freiheitsentziehende Sanktion nicht in eine Geldstrafe oder Geldbuße umwandeln;

c. hat die zuständige Behörde die Gesamtzeit des an der verurteilten Person bereits vollzogenen Freiheitsentzugs anzurechnen;

d. darf die zuständige Behörde die strafrechtliche Lage der verurteilten Person nicht erschweren und ist sie an ein Mindestmaß, das nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für die begangene Straftat oder die begangenen Straftaten gegebenenfalls vorgesehen ist, nicht gebunden.

2. Findet das Umwandlungsverfahren nach der Überstellung der verurteilten Person statt, so hält der Vollstreckungsstaat diese in Haft oder gewährleistet auf andere Weise ihre Anwesenheit im Vollstreckungsstaat bis zum Abschluss dieses Verfahrens.“

(…)“

25. Das deutsche Recht

Gemäß Artikel 57a deutsches Strafgesetzbuch muss das Gericht dem Verurteilten nach Verbüßung von fünfzehn Jahren einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Strafe zur Bewährung gewähren, unter dem Vorbehalt, dass eine solche Entscheidung mit den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit vereinbar ist und dass nicht die besondere Schwere der Schuld des Betroffenen die weitere Vollstreckung gebietet.

RÜGEN

26. Ohne sich auf bestimmte Artikel der Konvention zu berufen, rügt der Beschwerdeführer, dass seine deutsche Strafe in eine italienische lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt worden sei. Da er davon ausgeht, dass er in Deutschland nur fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe verbüßt hätte, vertritt er die Auffassung, dass seine Überstellung nach Italien seine Freiheitsstrafe tatsächlich um elf Jahre erhöht hat und dass dies den Bestimmungen des Überstellungsübereinkommens und seines Zusatzprotokolls zuwiderläuft.

27. Ohne sich auf Artikel der Konvention zu berufen, rügt der Beschwerdeführer das Verhalten der Beamten des zuständigen deutschen Ministeriums, die es unterlassen hätten, ihn über die rechtlichen Auswirkungen seiner Überstellung auf die Vollstreckung der Strafe zu informieren.

RECHTLCHE WÜRDIGUNG

A. Die gegen Italien gerichtete Rüge

28. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er Herr der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts ist (Söderman ./. Schweden [GK], Nr. 5786/08, Rdnr. 57, CEDH 2013, Aksu ./. Türkei [GK], Nrn. 4149/04 und 41029/04, Rdnr. 43, CEDH 2012), und ist der Auffassung, dass die Rüge des Beschwerdeführers unter dem Blickwinkel des Artikels 5 Absatz 1 der Konvention zu prüfen ist, der wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: (…)“

29. Die italienische Regierung bringt eine Einrede der Unzulässigkeit der Beschwerde wegen Fristversäumnis vor. Sie legt dar:

– dass der Beschwerdeführer das Urteil des Appellationsgerichts vom 9. Mai 2001, das am 24. Juni 2001 rechtskräftig geworden ist, nicht auf nationaler Ebene angefochten und neun Jahre gewartet hat, bevor er die Beschwerde erhebt (Rdnr. 10 oben);

– dass eine rechtskräftige Entscheidung, die geeignet ist, die Sechsmonatsfrist auszulösen, auch in dem Urteil vom 6. Dezember 2005 gesehen werden kann, mit dem der Kassationsgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat, und zwar am Ende eines zweiten Verfahrens, das dieser im Jahr 2002 betrieben hat, um sich darüber zu beklagen, dass er nach fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe nicht zur bedingten Entlassung zugelassen wurde (Rdnr. 17 oben);

– dass, als der Beschwerdeführer den Gerichtshof im Januar 2010 angerufen hat, ein neues Rechtsmittel vor den innerstaatlichen Gerichten anhängig war, und dass das diesbezügliche Urteil des Kassationsgerichtshofs nach Erhebung der Beschwerde bei der Kanzlei eingereicht worden war (Rdnr. 18-22 oben).

30. Der Beschwerdeführer hat seine Stellungnahme zur Begründetheit und der gerechten Entschädigung nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist vorgelegt.

31. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Sechsmonatsfrist gemäß Artikel 35 Absatz 1 der Konvention mehrere Ziele verfolgt. Sie soll als erstes die Rechtssicherheit sicherstellen, indem sie gewährleistet, dass die Rechtssachen, die Fragen im Hinblick auf die Konvention aufwerfen, innerhalb einer angemessenen Frist geprüft werden können, und sie soll auch die Behörden und anderen betroffenen Personen vor der Ungewissheit schützen, in der sie gelassen würden, wenn ein längerer Zeitraum verstreichen würde (Mocanu und andere ./. Rumänien [GK], Nrn. 10865/09, 45886/07 und 32431/08, Rdnr. 258, 17. September 2014, Sabri Güneş ./. Türkei [GK], Nr. 27396/06, Rdnr. 39, 29. Juni 2012, El Masri ./. „ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien“ [GK], Nr. 39630/09, Rdnr. 135, CEDH 2012, und Bayram und Yıldırım ./. Türkei (Entsch.), Nr. 38587/97, CEDH 2002-III).

32. Diese Regel legt somit die zeitlichen Grenzen für die Kontrolle fest, welche die Konventionsorgane vornehmen können, und weist sowohl Einzelpersonen als auch staatliche Behörden auf die Frist hin, nach deren Ablauf keine Kontrolle mehr möglich ist (Walker ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 34979/97, CEDH 2000-I, Sabri Güneş, a.a.O., Rdnr. 40, und El Masri, a.a.O., Rdnr. 135).

33. Im Allgemeinen läuft die Sechsmonatsfrist ab dem Datum der rechtskräftigen Entscheidung, die im Rahmen des Prozesses der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ergangen ist. Jedoch dürfen nur übliche und wirksame Rechtsbehelfe berücksichtigt werden, da ein Beschwerdeführer die von der Konvention vorgegebene strikte Frist nicht verschieben darf, indem er versucht, unangemessene oder missbräuchliche Beschwerden an Instanzen oder Institutionen zu richten, die nicht über die erforderlichen Befugnisse oder Zuständigkeiten verfügen, um auf der Grundlage der Konvention eine wirksame Wiedergutmachung hinsichtlich der in Rede stehenden Rüge zu gewähren (Fernie ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr.14881/04, 5. Januar 2006).

34. Gemäß einer umfassenden Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt Artikel 35 in der Regel nicht, außerordentliche Rechtswege zu beschreiten, wie zum Beispiel die Wiederaufnahme und andere Verfahren, die zur Wiedereröffnung eines Verfahrens führen können (Kiiskinen ./. Finnland (Entsch.), Nr. 26323/95 CEDH 1999-V). Solche Rechtswege, die nicht zu den üblichen innerstaatlichen Rechtsbehelfen zählen, dürfen bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist grundsätzlich nicht berücksichtigt werden (siehe, AO „Ouralmach“ ./. Russland (Entsch.),13338/03, 10. April 2003).

35. Die nicht mit einer konkreten Frist einhergehenden Rechtsbehelfe erzeugen dementsprechend Ungewissheit und führen dazu, dass die Sechsmonatsregel gemäß Artikel 35 Absatz 1 unwirksam wird (Williams ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 32567/06, 17. Februar 2009).

36. Der Gerichtshof merkt im vorliegenden Fall zunächst an, dass der Kassationsgerichtshof mit einem Urteil vom 6. Dezember 2005 die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Appellationsgerichts abgewiesen hat, das die Auffassung vertreten hatte, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Überstellung noch nicht in den Genuss einer Herabsetzung des Strafmaßes gelangt war (Rdnr. 17 oben).

37. Diese Entscheidung hat die Situation, die der Beschwerdeführer jetzt vor dem Gerichtshof rügt, endgültig geregelt. Sie ist somit der Beginn der Sechsmonatsfrist.

38. Die folgenden, vom Beschwerdeführer im Jahr 2009 vor dem Appellationsgericht und dann vor dem Kassationsgerichtshof eingelegten Rechtsbehelfe haben keine Auswirkung auf den Verlauf dieser Frist. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass der Kassationsgerichtshof in seinem Urteil vom 21. Juni 2010, mit dem der vom Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Appellationsgerichts eingelegte Rechtsbehelf wegen offensichtlich fehlender Begründung für unzulässig erklärt wurde, unterstrichen hat, dass die Frage, ob der Betroffene den Anspruch auf Strafminderung bereits vor seiner Überstellung nach Italien erworben hatte, schon durch das Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 16. Dezember 2005 geklärt worden war.

39. Der Gerichtshof führt schließlich aus, dass der Beschwerdeführer das Vorhandensein besonderer Umstände weder aufgezeigt noch vorgetragen hat, die rechtfertigen könnten, dass er nach dem Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 16. Dezember 2005 einen Zeitraum von 5 Jahren abgewartet hat, bevor er diese Beschwerde am 6. Januar 2010 erhoben hat.

40. Hieraus ergibt sich, dass diese Rüge verspätet und nach Artikel 35 Absätze 1 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

A. Die gegen Deutschland gerichtete Rüge

41. Ohne sich auf Artikel der Konvention zu berufen, rügt der Beschwerdeführer im Übrigen das Verhalten der Beamten des zuständigen deutschen Ministeriums, die es unterlassen hätten, ihn über die rechtlichen Auswirkungen seiner Überstellung auf die Vollstreckung der Strafe zu informieren.

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass die letzte Rüge nicht substantiiert ist. Soweit er dafür zuständig ist, die vorgebrachten Behauptungen zu würdigen, hat der Gerichtshof eine Verletzung der nach der Konvention zugesicherten Rechte und Freiheiten nicht erkannt. Daher ist auch diese Rüge nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention für unzulässig zu erklären.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof mehrheitlich:

Er erklärt die Beschwerde für unzulässig.

Stanley Naismith                                 Işıl Karakaş
Kanzler                                                Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert