BÄCKER gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 44183/12

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 44183/12
B. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. Oktober 2014 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 10. Juli 2012 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, B., ist deutscher Staatsangehöriger und in L. wohnhaft. Er ist derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in L. untergebracht. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn E., Rechtsanwalt in B., vertreten.

A. Die Umstände des Falls

2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

3. Am 29. Januar 1981 wurde vor dem Jugendschöffengericht Hamm Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung, begangen am 5. August bzw. 19. September 1980, erhoben. In dem ersten Fall fuhr der Beschwerdeführer ein sechzehnjähriges Mädchen an und stieß es zu Boden. Dann würgte er das Mädchen, drohte ihm, es zu töten, und vergewaltigte es. In dem zweiten Fall war er einem Mädchen gefolgt und wollte es vergewaltigen. Da sein Fahrrad blockierte, gab er die Verfolgung auf und masturbierte in einem Feld. Er ergriff eine 25-jährige Fußgängerin, würgte sie und drohte ihr, sie zu ersticken. Als die Frau sich wehrte und um Hilfe rief, wurden Passanten auf sie aufmerksam und er konnte nicht in sie eindringen. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, weil er und seine Mutter sich mit seiner medikamentösen Behandlung und seiner Unterbringung in einer Einrichtung für jugendliche Straftäter einverstanden erklärt hatten.

4. Am 24. September 1981 fuhr der Beschwerdeführer eine 24-jährige Radfahrerin an, zog sie in einen Graben, würgte sie bis zur Besinnungslosigkeit und vergewaltigte sie. Als sie die Besinnung wiedererlangt hatte und zu fliehen versuchte, misshandelte er sie, ließ sie bewusstlos und schwer verletzt in einem Feld liegen und fuhr davon. Das Opfer wurde einen Monat lang im Krankenhaus behandelt, litt bis Anfang 1982 an einer Lähmung des Augenmuskels und befand sich ein Jahr nach dem Überfall immer noch in einem fürchterlichen psychischen Zustand mit suizidalen und depressiven Neigungen.

5. Am 17. September 1982 sprach das Landgericht Münster den Beschwerdeführer der Vergewaltigung in zwei Fällen schuldig, verbunden mit schwerer Körperverletzung in dem einen Fall und mit versuchter Vergewaltigung in dem anderen Fall. Er wurde zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren verurteilt; die frühere Verurteilung durch das Jugendgericht war darin einbezogen. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf das mit dem 19. April 1982 datierte Gutachten eines externen psychiatrischen Sachverständigen, der den Beschwerdeführer exploriert und Berichte von Ärzten, Mitarbeitern der Sozialbehörde und Schulen über den Beschwerdeführer und seine Familie eingesehen hatte, die den Zeitraum von 1970 bis 1980 betrafen und alle besagten, dass sich der Beschwerdeführer in einer schwierigen familiären Situation befinde und körperliche Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten habe. Der Sachverständige befand, dass der Beschwerdeführer an einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung mit erhöhtem Sexualtrieb und verminderter Steuerungsfähigkeit leide. Das Landgericht stellte weiter fest, dass der Beschwerdeführer wegen einer psychischen Störung bei der Begehung der Taten vermindert schuldfähig gewesen sei (gemäß § 21 StGB, siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“). Daher ordnete es gemäß den einschlägigen Bestimmungen des deutschen Rechts an, dass der Beschwerdeführer vor Beginn der Verbüßung der Jugendstrafe in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen sei. Zur Zeit der Begehung der Taten war der Beschwerdeführer 16 bzw. 17 Jahre alt. Seit dem 15. Oktober 1982 ist er in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht.

2. Das in Rede stehende Verfahren

(a) Das psychiatrische Sachverständigengutachten vom Dezember 2010

6. Seit 1987 ist der Beschwerdeführer regelmäßig alle drei Jahre von verschiedenen externen psychiatrischen Sachverständigen begutachtet worden, die den Beschwerdeführer zuvor nicht behandelt hatten und die nicht zu der psychiatrischen Einrichtung gehörten, in die der Beschwerdeführer untergebracht ist.

7. Am 6. Dezember 2010 legte der externe Sachverständige K., ein Psychologe, Psychotherapeut und Fachhochschulprofessor, eine Stellungnahme vor, nachdem er den Beschwerdeführer am 19. und 27. Oktober 2010 begutachtet hatte. Bei seiner Einschätzung der Legalprognose des Beschwerdeführers berücksichtigte der Sachverständige die früheren Gutachten, die acht verschiedene externe psychiatrische Sachverständige über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers in den Jahren 1987, 1991, 1993, 1995, 1998, 2001, 2004 und 2008 erstellt hatten, sowie seine Krankenakte, welche die von den behandelnden Ärzten abgegebenen Stellungnahmen zu seinem Verhalten im Krankenhaus sowie zu den durchgeführten therapeutischen Maßnahmen seit seiner Einweisung im Jahr 1982 enthielt.

8. Der Sachverständige befand, dass der Beschwerdeführer an einer histrionischen, narzisstischen und antisozialen Störung mit impulsiven und aggressiven Neigungen leide, die daraus resultieren, dass er in der Vergangenheit zuhause vernachlässigt und misshandelt worden sei. Er lasse sich leicht provozieren und sei sehr reizbar; er sei emotional instabil und die Schwelle für aggressives Verhalten sei bei ihm niedrig. Während seines Klinikaufenthalts habe der Beschwerdeführer, wenn er gereizt worden sei oder sich in einer von ihm als Schikanierung empfundenen Situation befunden habe, einige Male ein aggressives und etwas gewalttätigeres Verhalten an den Tag gelegt. Der Beschwerdeführer habe jedoch in keinem dieser Fälle versucht, jemanden zu würgen oder ernsthaft zu verletzen, und es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sein aggressives Verhalten in seiner Häufigkeit oder Intensität im Laufe der Jahre zugenommen habe. Der Sachverständige betonte, dass der Beschwerdeführer mit der Betreuung des Streichelzoos der Abteilung betraut worden sei und er seine alltäglichen Aufgaben immer erledige.

9. Nach Auffassung des Sachverständigen war zu erwarten, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Krankenhauses ähnliche Straftaten begehen werde wie die, die seiner Unterbringung zugrunde gelegen hätten. Bei seiner Begutachtung durch den Sachverständigen habe er zu verstehen gegeben, dass er keine Notwendigkeit sehe, seine Therapie fortzusetzen. Die weitere Therapie und Medikation seien jedoch geboten, um das Rückfallrisiko möglichst gering zu halten. Daher könne die Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Krankenhaus vorerst nicht empfohlen werden. Der Sachverständige führte in diesem Zusammenhang aus, dass seine Einschätzung sich auf die Annahme stütze, dass das Landgericht zu dem Ergebnis kommen würde, dass die von dem Beschwerdeführer zu befürchtenden Straftaten so schwerwiegend seien, dass der Schutz der Allgemeinheit die Fortdauer seiner Unterbringung erfordere. Der Sachverständige zog den Schluss, dass der Beschwerdeführer nicht als therapierter Sexualstraftäter angesehen werden könne.

(b) Die erste Entscheidung des Landgerichts Paderborn

10. Im März 2011 stellte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer den Antrag, seine weitere Unterbringung für unverhältnismäßig zu erklären oder, hilfsweise, eine zusätzliche psychiatrische Begutachtung durchzuführen. Er brachte vor, dass seine mittlerweile achtundzwanzigeinhalb Jahre andauernde Freiheitsentziehung seine Grundrechte verletze.

11. Am 22. März 2011 wies das Landgericht Paderborn den Antrag des Beschwerdeführers ab, ohne den Beschwerdeführer mündlich anzuhören. Es berücksichtigte dabei einen Bericht der psychiatrischen Einrichtung vom 1. September 2010, der zu dem Schluss gelangte, dass trotz seines überwiegend zufriedenstellenden Verhaltens im Stationsalltag aufgrund fehlender Fortschritte bei seiner Therapie keine positive Legalprognose erstellt werden könne.

12. Am 28. April 2011 hob das Oberlandesgericht Hamm die Entscheidung des Landgerichts auf, weil weder das Sachverständigengutachten vom 6. Dezember 2010 in die Entscheidung einbezogen noch der Sachverständige oder der Beschwerdeführer angehört worden sei. Das Oberlandesgericht verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück.

(c) Die überarbeitete Entscheidung des Landgerichts Paderborn

13. Am 10. Juni 2011 ordnete das Landgericht Paderborn erneut die Fortsetzung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Unter Bezugnahme auf schriftliche Stellungnahmen des psychiatrischen Krankenhauses L., in dem er untergebracht war (Stellungnahme vom 6. Juni 2011, erster Absatz), und der Staatsanwaltschaft, das Gutachten des unabhängigen Sachverständigen vom 6. Dezember 2010, die mündliche Aussage des Beschwerdeführers und das Vorbringen seines Anwalts stellte das Gericht fest, dass die Legalprognose des Beschwerdeführers immer noch negativ sei. Der Sachverständige hatte ausgeführt, dass der Beschwerdeführer an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung leide, zu der eine affektive Instabilität, mangelnde Steuerungsfähigkeit, eine Unfähigkeit, Beziehungen zu begründen, und eine Leugnung der Straftaten gehöre. Der Sachverständige war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer die schützende Umgebung und Betreuung einer Einrichtung über einen relativ langen Zeitraum benötige, da er immer noch keine Einsicht in seine Krankheit oder Empathie mit den Opfern zeige, und sich hartnäckig weigere, Vorschläge der behandelnden Ärzte zur Anpassung seiner Psychotherapie in Betracht zu ziehen, wie dies für die langfristige Behandlung seiner Störung erforderlich sei.

(d) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm

14. Am 1. September 2011 verwarf das Oberlandesgericht Hamm unter Bestätigung der von dem Landgericht angeführten Gründe die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet. Es stellte fest, dass seine weitere Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung unerlässlich und verhältnismäßig sei, solange die ernste Gefahr bestehe, dass er ähnliche Straftaten begehen könnte, und solange er die Behandlung verweigere.

(e) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

15. Am 1. Juni 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2120/11).

(f) Das weitere Verfahren

16. Die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers unterlag einer jährlichen Überprüfung. Am 13. Juni 2012 ordnete das Landgericht Paderborn, das den Beschwerdeführer angehört hatte und die Stellungnahme der psychiatrischen Anstalt vom 13. April 2012 berücksichtigte, die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers an. Die Stellungnahme besagte, dass der Beschwerdeführer weiterhin unverändert an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung leide, zu der histrionische, narzisstische und antisoziale Aspekte und eine undifferenzierte Wahrnehmung anderer Personen, ein hohe Egozentrik und ein starres und unflexibles Denken und Verhalten gehörten. Der Bericht betonte, dass der Beschwerdeführer, obwohl er in dem psychiatrischen Krankenhaus im Alltag gut integriert sei und Verantwortung für sein Verhalten übernehme, Schwierigkeiten mit Veränderungen habe. Das Gericht berücksichtigte, dass der Beschwerdeführer sich im Rahmen der begleiteten Lockerungen an die Regeln halte, dass er die ärztliche Stellungnahme und ein ergänzendes Gutachten aber als Frechheit ansehe und seine Entlassung verlange. Das Gericht war der Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers fortdauern müsse, da sein impulsives und forderndes Verhalten erwarten lasse, dass er außerhalb eines strukturierten Umfeldes erneut straffällig werden würde.

17. Am 31. Juli 2012 verwarf das Oberlandesgericht Hamm die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts.

18. Am 5. Juni 2013 beschloss das Landgericht Paderborn auf der Grundlage einer neuen Stellungnahme der psychiatrischen Einrichtung vom 15. März 2013 die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers mit der Begründung, dass es dem Beschwerdeführer immer noch an sozialen Kompetenzen fehle und seine hohe Egozentrik gegen eine günstige Sozial- und Kriminalprognose spreche. Das Gericht stellte fest, dass ein Behandlungsfortschritt nicht festgestellt werden könne, da er eine Behandlung im eigentlichen Sinne weiterhin ablehne.

19. Am 23. Juli 2013 bestätigte das Oberlandesgericht Hamm den Beschluss des Landgerichts und stellte fest, dass immer noch Rückfallgefahr bestehe, da der der Beschwerdeführer alle Therapieangebote ausschlage.

20. Am 18. November 2013 erklärte das Bundesverfassungsgericht die von dem Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 31. Juli 2012 und 23. Juli 2013 erhobenen Verfassungsbeschwerden für unzulässig (2BvR 2180/13 und 2 BvR 2200/13). Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer seine Rügen nicht hinreichend substantiiert habe, da er nur pauschal vorgebracht habe, dass seine Freiheitsentziehung unverhältnismäßig sei und die ärztliche Begutachtung Mängel aufweise, und dass er polemische Vorwürfe gegen die Gerichte erhoben habe, ohne sich mit ihren Argumenten und Begründungen auseinanderzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht fügte hinzu, dass es nicht seine Aufgabe sei, sich das rechtlich Relevante aus den vorgelegten Unterlagen herauszusuchen. Auch anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer seien gehalten, ihre Rügen – soweit möglich – zu substantiieren.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

21. Das einschlägige innerstaatliche Recht ist in der Rechtssache K. ./. Deutschland ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 48057/10, 19. März 2013, Rdnrn. 38-43) wiedergegeben.

22. Gemäß § 21 StGB ist ein Täter, der wegen einer pathologischen psychischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit, nur teilweise fähig ist, das Unrecht seiner Handlungen einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, als vermindert schuldfähig anzusehen.

RÜGEN

23. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e in Verbindung mit Artikel 17, hilfsweise nach Artikel 3, Artikel 6 Absätze 1, 2, 3 Buchstaben d und e, Artikel 7, Artikel 1 des Protokolls Nr. 6 sowie Artikel 1, 2 und 3 des Protokolls Nr. 13 zur Konvention, dass das in Rede stehende Verfahren hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung der Fortdauer seiner Freiheitsentziehung für die Jahre 2011/12 unfair gewesen sei. Er brachte vor, dass die innerstaatlichen Gericht ihre Entscheidungen auf das rein theoretische Risiko, dass er immer noch eine Gefahr für Gesellschaft darstelle, gestützt hätten. Bei der Einschätzung dieser möglichen Gefahr hätten die nationalen Gerichte und die Mehrheit der psychiatrischen und anderen beteiligten Sachverständigen stets auf die Schwere der Taten verwiesen, wie sie in dem Urteil des Landgerichts vom 17. September 1982 festgestellt worden seien. Sie hätten die späteren Entwicklungen und die relevanten Informationen, die zum Zeitpunkt ihrer Überprüfungen seiner Freiheitsentziehung verfügbar gewesen seien, nicht hinreichend berücksichtigt.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Behauptete Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 der Konvention

24. Unter Bezugnahme auf Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention in Verbindung mit Artikel 17 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass seine fortdauernde Freiheitsentziehung in einem psychiatrischen Krankenhaus unrechtmäßig und willkürlich sei.

25. Der Gerichtshof stellt fest, dass dem Beschwerdeführer aufgrund des Urteils des Landgerichts Münster vom 17. September 1982, mit dem seine unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden war, die Freiheit entzogen wurde. Seine Freiheitsentziehung könnte daher als Freiheitsentziehung „nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a und/oder als Freiheitsentziehung eines „psychisch Kranken“ unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e fallen. Die einschlägigen Vorschriften lauten wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;

[…]

e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; […]“

26. Da die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers in erster Linie auf einer – von dem Beschwerdeführer bestrittenen – Feststellung einer verminderten Schuldfähigkeit, also einer psychischen Erkrankung, durch die nationalen Gerichte, beruht, hält es der Gerichtshof für angebracht, die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e zu prüfen (siehe X ./. Vereinigtes Königreich, 5. November 1981, Rdnr. 39, Serie A Band 46).

27. Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass die in Rede stehende Unterbringung, um Artikel 5 Abs. 1 zu genügen, in erster Linie „rechtmäßig“ sein muss, was auch die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Weise einschließt; in diesem Zusammenhang verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und enthält die Verpflichtung, dessen materiell- und verfahrensrechtliche Bestimmungen einzuhalten. Die Konvention verlangt aber zusätzlich, dass jedwede Freiheitsentziehung mit dem Zweck von Artikel 5, nämlich dem Schutz des Einzelnen vor Willkür, vereinbar ist. Überdies stellt die Freiheitsentziehung eine derart schwerwiegende Maßnahme dar, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und für nicht ausreichend befunden worden sind, um den Einzelnen oder die Allgemeinheit zu schützen, so dass dem Betroffenen gegebenenfalls die Freiheit entzogen werden muss. Dies bedeutet, dass es nicht ausreicht, dass die Freiheitsentziehung im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften erfolgt; sie muss auch unter den Umständen geboten sein (Stanev ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 36760/06, Rdnr. 143, 17. Januar 2012, mit weiteren Nachweisen).

28. Im Hinblick auf die Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken kann einer Person wegen einer „psychischen Erkrankung“ nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e die Freiheit nur entzogen werden, wenn die folgenden Mindestvoraussetzungen vorliegen: Erstens muss die psychische Erkrankung zuverlässig nachgewiesen werden, zweitens muss die psychische Störung ihrer Art oder Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen; drittens muss die Fortdauer der Unterbringung vom Fortbestehen einer derartigen Störung abhängen (siehe Stanev, a. a. O., Rdnr. 145, mit weiteren Nachweisen, und Hutchison Reid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50171/99, Rdnrn. 48-49, ECHR 2003-IV).

29. Um die Freiheitsentziehung zu rechtfertigen, muss, außer in Notfällen, schlüssig nachgewiesen sein, dass eine Person „psychisch krank“ ist. Hierzu muss die zuständige nationale Behörde aufgrund eines objektiven medizinischen Berichts davon überzeugt sein, dass eine tatsächliche psychische Störung vorliegt, deren Art oder Ausmaß die Freiheitsentziehung, die nur bei Fortbestehen der psychischen Störung verlängert werden kann, rechtfertigt. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass es in erster Linie Aufgabe der nationalen Behörden ist, die ihnen in einem bestimmten Fall vorgebrachten Beweise zu würdigen und insbesondere den Beweiswert der Sachverständigengutachten zu beurteilen (vgl. Ruiz Rivera ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 8300/06, Rdnr. 59, 18. Februar 2014, mit weiteren Nachweisen, Vogt ./. Schweiz (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45553/06, 3. Juni 2014). Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, die Entscheidungen dieser Behörden im Lichte der Konvention zu überprüfen (siehe Luberti ./. Italien, 23. Februar 1984, Rdnr. 27, Serie A Band 75, und Ťupa :/. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 39822/07, Rdnr. 49, 26. Mai 2011). Schließlich müssen sich die Fortdauerentscheidungen auf auch aktuelle medizinische Sachverständigengutachten stützen (Ruiz Rivera, a. a. O., Rdnr. 60; Vogt, a. a. O.; siehe auch MagalhãesPereira ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 44872/98, Rdnr.49, ECHR 2002‑I).

30. Der Gerichtshof weist in der vorliegenden Rechtssache darauf hin, dass das Landgericht Münster in seiner Entscheidung vom 17. September 1982 die erstmalige Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnete, nachdem es einen externen Sachverständigen hinzugezogen hatte, der feststellte, dass der Beschwerdeführer an einer psychopatischen Persönlichkeitsstörung mit erhöhtem Sexualtrieb und verminderter Steuerungsfähigkeit leide und im Sinne von § 21 StGB vermindert schuldfähig sei (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“).

31. Bei ihrer im Rahmen der regelmäßigen Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 67e StGB zu treffenden Entscheidung darüber, ob die psychische Störung des Beschwerdeführers ihrer Art oder Schwere nach die Zwangsunterbringung rechtfertigte, berücksichtigten die nationalen Gerichte die verschiedenen Stellungnahmen der behandelnden Ärzte, die im Verlauf der Unterbringung der Beschwerdeführers regelmäßig angefertigt wurden, sowie die eingeholten externen Sachverständigengutachten. Sie beriefen sich insbesondere auf das Gutachten des externen Sachverständigen vom 6. Dezember 2010, das zum Zeitpunkt der überarbeiteten Entscheidung des Landgerichts sechs Monate und zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts neun Monate zurücklag, sowie auf die Stellungnahme der behandelnden Psychiater und Psychologen im psychiatrischen Krankenhaus L.. Außerdem berücksichtigten sie das Verhalten und die Vorbringen des Beschwerdeführers während der Anhörung sowie die Ausführungen seines Rechtsanwalts.

32. Aufgrund der Einschätzung der Sachverständigen sahen es die nationalen Gerichte in ihren Entscheidungen zur Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers in dem in Rede stehenden Verfahren als erwiesen an, dass bei dem Beschwerdeführer eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit histrionischen, narzisstischen und antisozialen Aspekten vorliege und er bisher in seiner Therapie keine hinreichenden Fortschritte erzielt habe. Sie befanden, dass der Beschwerdeführer angesichts fehlender Selbstanalyse hinsichtlich der Tatmotive und fehlender Empathie mit den Opfern, die eine sichere Legalprognose unmöglich machten, immer noch für die Allgemeinheit gefährlich sei. Sie kamen zu dem Schluss, dass infolgedessen nach wie vor die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung auf Bewährung rechtswidrige Taten begehen werde, ähnlich denen, die seiner Unterbringung zugrunde gelegen hätten.

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Erwägungen für die Frage der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht unerheblich waren. Er stellt zudem fest, dass die Sachverständigen und die innerstaatlichen Gerichte entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers die Entwicklungen nach seiner Verurteilung im Jahre 1982 sowie die sachdienlichen Informationen berücksichtigten, die vorlagen, als die die Gutachten und Entscheidungen im Rahmen der aufeinander folgenden Prüfungen der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers erstattet bzw. erlassen wurden.

34. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass aufgrund objektiver und hinreichend aktueller medizinischer Sachverständigengutachten von den nationalen Gerichten festgestellt wurde, dass eine wirkliche psychische Störung der Art und Schwere vorlag, die eine Unterbringung des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit rechtfertigte. Er stellt weiter fest, dass die innerstaatlichen Gerichte im Verlauf der im innerstaatlichen Recht vorgeschrieben regelmäßigen Überprüfungen und insbesondere in dem in Rede stehenden Verfahrens die Notwendigkeit der Fortdauer der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers erneut geprüft haben. Entgegen den Behauptungen des Beschwerdeführers stellten die Sachverständigengutachten und die daraus abgeleiteten Prognose der nationalen innerstaatlichen Gerichte nicht ausschließlich auf die Leugnung seiner Taten ab. Sie stützten sich vielmehr auf den Umstand, dass es wegen der daraus folgenden fehlenden Selbstanalyse hinsichtlich der Taten, deren der Beschwerdeführer schuldig befunden worden war, keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass seine Persönlichkeit und seine Fähigkeit, mit seiner sexuellen Deviation und Aggressivität umzugehen, sich verändert hätten. Daraus geht hervor, das die Zulässigkeit seiner weiteren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vom Fortbestehen seiner psychischen Störung abhing (siehe sinngemäß Winterwerp ./. die Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 39, Band A Nr. 33 und Shtukaturov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 44009/05, Rdnr. 114, 27. März 2008).

35. Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass nichts darauf hindeutet, dass der Beschluss des Landgerichts vom 10. Juni 2011, mit dem die Fortdauer der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers angeordnet wurde, nicht mit dem Zweck des Artikels 5 Abs. 1, ihn vor Willkür zu schützen, im Einklang stand. Die innerstaatlichen Gerichte schenkten der Tatsache Beachtung, dass der Beschwerdeführer bereits über einen beträchtlichen Zeitraum von damals 29 Jahren untergebracht war. Insbesondere das Landgericht kam zu dem Schluss, dass ohne wirksame medizinische Behandlung in der kontrollierten Umgebung eines Krankenhauses die Gefahr bestehe, dass er erneut straffällig würde, und dass er deshalb immer noch eine Gefahr für die Gesellschaft darstelle, was die Fortdauer seiner Freiheitsentziehung rechtfertige. Es war folglich der Auffassung, dass andere, weniger einschneidende Maßnahmen als die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit nicht ausreichten und seine Unterbringung unter diesen Umständen notwendig sei (siehe sinngemäß Varbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 46, EGMR 2000‑X).

36. Der Gerichtshof weist zwar darauf hin, dass die Verhältnismäßigkeit einer fortdauernden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus umso genauer geprüft werden muss, je länger die Unterbringung andauert (siehe F. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 32705/06, 28. September 2010, und G. ./. Deutschland (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 53783/09, 18. Oktober 2011), ist in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen aber der Auffassung, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die innerstaatlichen Entscheidungen während des in Rede stehenden Verfahrens keine gerechte Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Beschwerdeführers und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit vorgenommen haben, und dass auch keine Gründe für die Feststellung vorliegen, dass die Entscheidungen Anzeichen von Willkür erkennen ließen.

37. Folglich war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention gerechtfertigt. Aufgrund dieser Schlussfolgerung hält der Gerichtshof es nicht für erforderlich, zu prüfen, ob auch Buchstabe a auf den vorliegenden Fall anwendbar ist (vgl. P. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 1241/06, 24. März 2009, K., a. a. O., Rdnr. 48).

38. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

B. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers

39. Nach Artikel 6 Abs. 1, 2 und 3 Buchstaben d und e der Konvention, rügte der Beschwerdeführer überdies, dass das gerichtliche Verfahren hinsichtlich seiner Unterbringung und die jährlichen Überprüfungen seiner Freiheitsentziehung nicht fair gewesen seien. Er behauptete ferner, dass seine Freiheitsentziehung und die Bedingungen seiner Unterbringung einer erniedrigende Behandlung gleichkämen, die gegen Artikel 3 der Konvention verstoße. Unter Berufung auf Artikel 7, Artikel 1 des Protokolls Nr. 6 und die Artikel 1, 2 und 3 des Protokolls Nr. 13 zur Konvention trug der Beschwerdeführer abschließend vor, dass seine Behandlung durch die nationalen Behörden, die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten, die von diesen in Bezug auf seine Freiheitsentziehung erlassenen willkürlichen Entscheidungen sowie die Bedingungen seiner Unterbringung diskriminierend gewesen seien und sein Recht auf Gedankenfreiheit verletzt hätten.

40. Der Gerichtshof hat die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt er allerdings fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

41. Daraus folgt, dass auch dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a und Absatz 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Claudia Westerdiek                                       Mark Villiger
Kanzlerin                                                          Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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