Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE F. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 54648/09)
URTEIL
STRASSBURG
23. Oktober 2014
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache F. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 30. September 2014
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 54648/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, F. („der Beschwerdeführer“), am 9. Oktober 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R. Birkenstock, Rechtsanwalt in Köln, vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre zwei Verfahrens-bevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren unfair gewesen sei und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, da er wegen Straftaten verurteilt worden sei, zu deren Begehung er von der Polizei verleitet worden sei.
4. Am 14. Oktober 2013 wurde die Rüge bezüglich der angeblichen Unfairness des gegen den Beschwerdeführer geführten Strafverfahrens der Regierung übermittelt. Am selben Tag erklärte der Präsident der Sektion in Einzelrichterbesetzung die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt H. inhaftiert. Er wurde am 12. Juli 2011 entlassen.
A. Das Ermittlungsverfahren
6. Am 18. Oktober 2007 genehmigte das Amtsgericht Aachen gemäß § 110a Abs. 1 Nr. 1 und § 110b Abs. 2 Nr. 1 StPO (siehe Rdnrn. 24-25) den Einsatz von bis zu fünf verdeckten Ermittlern gegen S. und fünf weitere Personen (zu denen nicht der Beschwerdeführer gehörte). Zuvor war gegen die sechs Verdächtigen ein Ermittlungsverfahren wegen Rauschgifthandels eingeleitet worden. Der Verdacht der Polizei gegen die Verdächtigen hatte sich vor dem Beschluss des Amtsgerichts insbesondere aufgrund von Erkenntnissen aus Telefonüberwachung und polizeilicher Observation erhärtet.
7. Die Polizei beschloss, über den Beschwerdeführer, einen guten Freund von S. und Geschäftspartner für Immobiliengeschäfte, Kontakte zwischen S. und den verdeckten Ermittlern herzustellen. Gegen den Beschwerdeführer, der nicht vorbestraft war, bestand zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Verdacht hinsichtlich einer Verwicklung in den Rauschgifthandel.
8. Ab dem 16. November 2007 nahmen zwei verdeckte Ermittler, P. und D., Kontakt zu dem Beschwerdeführer auf. Sie suchten ihn in dem von ihm geführten Restaurant auf und gaben vor, zum Betrieb eines Clubs eine Immobilie kaufen zu wollen. In den folgenden Wochen bot der Beschwerdeführer den verdeckten Ermittlern mehrere Immobilien an und besichtigte diese mit ihnen.
9. Später stellte der Beschwerdeführer zwecks Organisation eines internationalen Schmuggels von Zigaretten Kontakte zwischen den verdeckten Ermittlern und S. her, nachdem einer der verdeckten Ermittler vorgegeben hatte, über einen geeigneten Lastwagen für den Transport der Zigaretten ins Ausland zu verfügen. S. lehnte es jedoch ab, direkt mit dem verdeckten Ermittler P. zu telefonieren und schlug vor, den Kontakt weiterhin über den Beschwerdeführer laufen zu lassen. Als der verdeckte Ermittler D. dem Beschwerdeführer am 23. Januar 2008 mitteilte, dass er das Risiko, beim Zigarettenschmuggel erwischt zu werden, in Anbetracht der zu erwartenden Profite für zu groß halte, gab der Beschwerdeführer zu erkennen, das sie (d. h. S., andere und er selbst) auch mit Kokain und Amphetamin handeln würden. Er sagte, dass er selbst mit dem Rauschgifthandel nichts zu tun haben wolle und nur Provision kassieren würde. Die verdeckten Ermittler zeigten sich daran interessiert, Rauschgift zu transportieren und zu kaufen.
10. Am 1. Februar 2008 erklärte der Beschwerdeführer, der von dem verdeckten Ermittler P. angerufen worden war, diesem gegenüber jedoch, dass er an anderen Geschäften als dem Betrieb seines Restaurants nicht mehr interessiert sei.
11. Am 7. Februar weitete das Amtsgericht Aachen in Anbetracht der Aussagen, die der Beschwerdeführer am 23. Januar 2008 gegenüber dem verdeckten Ermittler D. gemacht hatte, die Genehmigung des Einsatzes von verdeckten Ermittlern vom 18. Oktober 2007 auch auf den Beschwerdeführer aus.
12. Am 8. Februar 2008 suchte der verdeckte Ermittler P. den Beschwerdeführer in seinem Restaurant auf und zerstreute dessen Misstrauen gegenüber den verdeckten Ermittlern sowie seine Furcht vor einer Freiheitsstrafe im Fall einer Entdeckung des Rauschgiftgeschäfts. Daraufhin fuhr der Beschwerdeführer mit der Organisation von zwei Rauschgiftgeschäften (Kokain und Amphetamin) fort; die verdeckten Ermittler sollten das Rauschgift am 16. Februar 2008 (10 kg Amphetaminpaste und 40 g Kokain) bzw. 12. März 2008 (etwa 250 kg Amphetaminpaste) von S. erwerben. Am letztgenannten Tag wurden der Beschwerdeführer und S. nach Lieferung des Rauschgifts an die verdeckten Ermittler festgenommen. Für die Einfädelung des zweiten Geschäfts zwischen S. und den verdeckten Ermittlern hätte der Beschwerdeführer von S. eine Provision in Höhe von mehr als 50.000 EUR erhalten.
B. Das Verfahren vor dem Landgericht Aachen
13. Am 22. Oktober 2008 verurteilte das Landgericht Aachen den Beschwerdeführer wegen Rauschgifthandels in zwei Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.
14. Nachdem es den Sachverhalt wie oben beschrieben (Rdnrn. 6-12) festgestellt hatte, bemerkte das Landgericht, dass der Beschwerdeführer die Taten in der Verhandlung gestanden habe. Ferner hatte es in der Verhandlung mit Einverständnis der Parteien die schriftlichen Berichte der verdeckten Ermittler D. und P. verlesen, die während der gesamten verdeckten Maßnahme verfasst worden waren. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer diese Berichte im Wesentlichen als richtig akzeptiert habe. Die Behauptung des Beschwerdeführers, nicht er selbst, sondern der verdeckte Ermittler D. habe am 23. Januar 2008 ein mögliches Rauschgiftgeschäft ins Spiel gebracht und er selbst habe auf diesen Vorschlag nur reagiert, sei nicht erwiesen worden. Ferner stellte es in diesem Zusammenhang fest, die verdeckten Ermittler hätten während des gesamten Ermittlungsverfahrens darauf geachtet, nicht von sich aus kriminelle Geschäfte, Rauschgiftarten oder Rauschgiftmengen vorzuschlagen, sondern hätten darauf gewartet, dass ihre jeweiligen Gesprächspartner den ersten Schritt tun, bevor sie konkreter geworden seien.
15. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht strafschärfend, dass mit großen Mengen von Rauschgift gehandelt worden sei. Es lägen jedoch beachtliche Strafmilderungsgründe vor, die dazu führten, dass die Strafe in Anbetracht der Rauschgiftmengen als relativ mild anzusehen sei. Der Beschwerdeführer habe sich überwiegend geständig gezeigt und sei nicht vorbestraft. Darüber hinaus habe er hauptsächlich mit Amphetamin gehandelt, was keine harte Droge sei. In Anbetracht der Beteiligung der verdeckten Ermittler habe außerdem keine Gefahr bestanden, dass das Rauschgift in den freien Verkehr gelangen könnte.
16. Das Landgericht Aachen stellte weiter fest, dass sich ganz besonders strafmildernd auswirke, dass der Beschwerdeführer von einer staatlichen Stelle zu Straftaten verleitet worden sei. Vor Beginn der verdeckten Ermittlung habe gegen den nicht vorbestraften Beschwerdeführer keinerlei Verdacht hinsichtlich einer Verwicklung in den Rauschgifthandel bestanden. Der Polizei sei lediglich bekannt gewesen, dass der Angeklagte mit S., gegen den ganz erhebliche Verdachtsmomente hinsichtlich der Verwicklung in den Rauschgifthandel bestanden hätten, befreundet gewesen sei und mit diesem gemeinsam auch schon Immobilienvermittlungen getätigt habe. Dennoch war das Landgericht der Auffassung, dass der Beschwerdeführer zu den in Rede stehenden Straftaten nicht angestiftet worden sei. Die verdeckten Ermittler hätten abgewartet, bis der Beschwerdeführer die Möglichkeit eines internationalen Zigarettenschmuggels aufgebracht habe, nachdem die Immobilienvermittlung gescheitert sei. Die Beamten hätten auch abgewartet, bis der Beschwerdeführer die Möglichkeit eines Rauschgiftgeschäfts aufgebracht habe, nachdem die verdeckten Ermittler ihm zu verstehen gegeben hätten, dass sie das Risiko, beim Zigarettenschmuggel erwischt zu werden, in Anbetracht der zu erwartenden Profite für zu groß hielten.
17. Das Landgericht betonte darüber hinaus, dass der Beschwerdeführer am 1. Februar 2008 aus Angst vor Strafe von jeglichem Rauschgifthandel abgerückt sei. Gleichwohl hätten die verdeckten Ermittler dann am 8. Februar 2008, nachdem die gerichtliche Genehmigung des Einsatzes von verdeckten Ermittlern auf ihn erweitert worden war, wieder Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufgenommen und seine Zweifel zerstreut. Das Landgericht war der Auffassung, dass die Art der Durchführung der verdeckten Maßnahme, nämlich Kontaktaufnahme zu dem zuvor unverdächtigen Beschwerdeführer zur Kontaktherstellung zum Verdächtigen S., von vornherein die Gefahr geboten habe, dass der Beschwerdeführer in Rauschgiftgeschäfte hereingezogen werde.
18. Das Landgericht stellte ferner fest, dass der Tatbeitrag des Beschwerdeführers geringer gewesen sei als der des S., da er lediglich den Kontakt zwischen S. und den verdeckten Ermittlern vermittelt und S. gegen diese abgeschirmt habe. Kontakte zur Rauschgiftszene, die über den Kontakt zu S. hinausgingen, habe der Beschwerdeführer offensichtlich nicht gehabt.
C. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
19. Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Beschwerdeführer anschließend Revision ein. Er rügte insbesondere, dass er von der Polizei dazu verleitet worden sei die Straftaten zu begehen, derer er später schuldig gesprochen worden sei. Dies verletze das Rechtsstaatsprinzip. Daher liege ein Hindernis für ein Strafverfahren gegen ihn vor, das hätte eingestellt werden müssen.
20. Am 8. April 2009 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet. Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 20. April 2009 zugestellt.
D. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
21. Am 12. Mai 2009 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Darin rügte der Beschwerdeführer, dass das Verfahren gegen ihn nicht fair gewesen sei, wobei er sich unter anderem auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention und die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes bezog. Er brachte vor, die verdeckten Ermittler hätten ihn dazu verleitet, Rauschgiftdelikte zu begehen, die er sonst nicht begangen hätte. Die Verwertung der dadurch erlangten Beweismittel in dem gegen ihn geführten Strafverfahren habe dieses Verfahren unfair gemacht.
22. Am 28. Mai 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts Aachen und den Beschluss des Bundesgerichtshofs zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1029/09). Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 3. Juni 2009 zugestellt.
E. Weitere Entwicklungen
23. Am 16. Juni 2011 ordnete das Landgericht Aachen die vorzeitige Entlassung des Beschwerdeführers für den 12. Juli 2011 an, nachdem dieser zwei Drittel seiner Haftstrafe verbüßt hatte.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Bestimmungen zu verdeckten Ermittlern
24. Laut § 110a Abs. 1 Nr. 1 StPO dürfen verdeckte Ermittler zur Aufklärung von Straftaten eingesetzt werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittelverkehrs begangen worden ist. Der Einsatz ist nur zulässig, soweit die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Verdeckte Ermittler sind Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (sogenannte Legende; siehe § 110a Abs. 2 StPO) ermitteln.
25. Gemäß § 110b Abs. 2 Nr. 1 StPO bedürfen Einsätze mit verdeckten Ermittlern, die sich gegen einen bestimmten Beschuldigten richten, der Zustimmung des Gerichts.
B. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
26. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, wenn der Angeklagte zu der abgeurteilten Straftat durch eine unzulässige, dem Staat zuzurechnende Tatprovokation verleitet worden ist (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 221/99, Urteil vom 18. November 1999, BGHSt 45, S. 321 f., Rdnr. 8 (der Internetversion); bestätigt vom Bundesgerichtshof, 5 StR 240/13, Urteil vom 11. Dezember 2013, Rdnrn. 33 f., unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs im Fall Ramanauskas ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, ECHR 2008).
27. Um festzustellen, ob die Grenzen einer zulässigen Tatprovokation eingehalten wurden, hält es der Bundesgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung für erforderlich, die folgenden Aspekte zu beachten: Grundlage und Ausmaß des gegen die betroffene Person bestehenden Verdachts einer Beteiligung an den untersuchten Straftaten, Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme, Tatbereitschaft und eigene Aktivitäten der betroffenen Person. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien als Ganzes habe das Strafgericht festzustellen, ob das tatprovozierende Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt habe, dass demgegenüber der eigene Beitrag der betroffenen Person in den Hintergrund trete (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 148/84, Urteil vom 23. Mai 1984, BGHSt 32, S. 345 f., Rdnr. 7).
28. In einer Reihe von Entscheidungen wurden Lockspitzel-Einsätze bereits dann als rechtswidrig angesehen, wenn zum Zeitpunkt des Tätigwerdens des Lockspitzels kein Verdacht gegen die betroffene Person bestand, in schwere Straftaten wie den Betäubungsmittelhandel verwickelt zu sein (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 453/89, Beschluss vom 29. August 1989, Rdnr. 3; und 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnr. 15 mit weiteren Verweisen und Rdnr. 51).
29. Was die Folgen einer festgestellten Tatprovokation durch die Polizei angeht, stellt diese nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst dann, wenn sie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt, kein Verfahrenshindernis dar. Ihr sei lediglich im Rahmen der Strafzumessung als wesentlicher Strafmilderungsgrund Rechnung zu tragen (sogenannte Strafzumessungslösung; siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 148/84, a. a. O., Rdnrn. 10-35; 1 StR 453/89, a. a. O., Rdnr. 4; 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 13 und 18; bestätigt in 5 StR 240/13, a. a. O., Rdnr. 37).
30. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs führt der Strafprozessordnung zufolge selbst ein massiver Verstoß gegen die Regelungen zu verbotenen Ermittlungsmethoden lediglich zu einem Beweisverwertungsverbot (siehe § 136a StPO). Darüber hinaus würde die Bejahung eines Verfahrenshindernisses die Rechte der Opfer der Straftat missachten (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 43-44; und 5 StR 240/13, a. a. O., Rdnr. 37). Die Berücksichtigung der Tatprovokation durch einen Lockspitzel als wesentlicher Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung erlaube dem Tatgericht ferner die angemessene Berücksichtigung aller Umstände, die zur Tat geführt hätten (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 148/84, a. a. O., Rdnr. 31; und 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 41-42). Sei Artikel 6 der Konvention verletzt worden, so hätten die Strafgerichte dies in der Urteilsbegründung darzulegen und die Strafe messbar zu mildern (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 47 und 56).
31. Der Bundesgerichtshof vertrat die Auffassung, dass es durch die Strafzumessungslösung möglich sei, die für den Verstoß gegen Artikel 6 der Konvention erforderliche Entschädigung zu leisten (Bundesgerichtshof, 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 18 f.). Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Teixeira de Castro ./. Portugal legte er dar, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs entgegen einiger anderslautender Andeutungen im Wortlaut des Urteils nicht die Einstellung des Verfahrens gegen eine durch polizeiliche Lockspitzel zur Begehung der in Rede stehenden Straftat verleitete Person oder ein Verwertungsverbot der durch die Lockspitzel erlangten Beweismittel verlange (ebenda, Rdnrn. 36-46 und 57-61).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
32. Der Beschwerdeführer rügte, dass das Strafverfahren gegen ihn unfair gewesen sei, da er wegen Rauschgiftdelikten schuldig gesprochen worden sei, zu deren Begehung er durch verdeckte Ermittler verleitet worden sei, und seine Verurteilung im Wesentlichen auf Beweismittel gestützt worden sei, die durch diese ihm gestellte Falle erlangt worden seien. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“
33. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
34. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht in seinem Urteil, in dem es den Beschwerdeführer des Rauschgifthandels schuldig sprach, festgestellt hat, dass dieser von einer staatlichen Stelle zu Straftaten verleitet worden sei, und dass es seine Strafe wegen dieser Tatprovokation gemildert hat. Daher stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer im Sinne des Artikels 34 der Konvention seine Opfereigenschaft im Hinblick auf eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verloren hat. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist die Angemessenheit der Reaktion der Behörden auf die angegriffene Polizeimaßnahme im Lichte dessen zu betrachten, welches Ausmaß die mögliche Unfairness des Verfahrens des Beschwerdeführers infolge dieser Maßnahme erreichte. Die Frage, ob der Beschwerdeführer seine Opfereigenschaft verloren hat, wird daher im Zusammenhang mit der Begründetheit seiner Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 geprüft.
35. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Lief das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren Artikel 6 zuwider?
(a) Die Stellungnahmen der Parteien
(i) Der Beschwerdeführer
36. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren unfair gewesen sei und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe.
37. Er vertrat die Auffassung, dass er von verdeckten Ermittlern dazu angestiftet worden sei, die Straftaten zu begehen, derer er später schuldig gesprochen worden sei. Er brachte vor, dass der Gerichtsbeschluss vom 18. Oktober 2007 bezüglich des Einsatzes von verdeckten Ermittlern zu dem Zeitpunkt, als diese ihre Ermittlungen begannen und Kontakt zu ihm aufnahmen, das Vorgehen der Ermittler gegen ihn nicht genehmigt habe, sondern nur für S. und fünf weitere Verdächtige gegolten habe. Er sei nicht vorbestraft gewesen und es habe keinerlei Verdacht hinsichtlich seiner Verwicklung in den Rauschgifthandel bestanden. Dies habe das Landgericht Aachen in seinem Urteil ausdrücklich bestätigt.
38. Der Beschwerdeführer trug vor, er sei der Begehung von Rauschgiftdelikten nicht zugeneigt gewesen. Als er von den verdeckten Ermittlern kontaktiert worden sei, habe er ein Restaurant in Aachen besessen und geführt. Die verdeckten Ermittler, die ihn über einen langen Zeitraum hinweg regelmäßig getroffen hätten, hätten sodann beharrlich darauf hingearbeitet, ihn zu einer Beteiligung an den in Rede stehenden Straftaten zu verleiten. Nachdem er mehrmals erfolglos versucht habe, ihnen Immobilien zu verkaufen, hätten sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie zu Geschäften jeglicher Art bereit seien, sofern sich das große Risiko lohne, was ihn dazu gebracht habe, über Rauschgiftgeschäfte nachzudenken. Obwohl er am 1. Februar 2008 eindeutig erklärt habe, an derartigen Geschäften nicht mehr interessiert zu sein, hätten die verdeckten Ermittler erneut Kontakt zu ihm aufgenommen und ihn erneut zur Beteiligung an dem Rauschgiftgeschäft verleitet. Die verdeckten Ermittler hätten ihn demnach sogar weiterhin zur Begehung der Straftaten verleitet, obwohl sie ihr Ziel – den Kontakt zu dem Verdächtigen S. herzustellen –, zu dessen Zweck sie ihn kontaktiert hätten, schon seit Januar 2008 erreicht gehabt hätten. Sein einziger Beitrag zu den Rauschgiftgeschäften habe darin bestanden, S. über das Interesse der verdeckten Ermittler am Drogenkauf zu informieren und diesen gegen die Ermittler abzuschirmen.
39. Der Beschwerdeführer brachte ferner vor, dass die verdeckten Ermittler zunächst ohne einen Gerichtsbeschluss, der ihr Vorgehen gegen ihn gebilligt hätte, vorgegangen seien. Als am 7. Februar 2008 per Gerichtsbeschluss der Einsatz der verdeckten Ermittler auch auf ihn ausgeweitet worden sei, sei er – am 1. Februar 2008 – bereits von der weiteren Beteiligung an Straftaten abgerückt gewesen. Dies habe die Staatsanwaltschaft vor dem Amtsgericht Aachen nicht offengelegt. Daher könne nicht behauptet werden, der Einsatz der verdeckten Ermittler wäre von den innerstaatlichen Gerichten ordnungsgemäß überwacht worden.
40. Der Beschwerdeführer betonte, das Landgericht Aachen habe in seinem Urteil ausdrücklich anerkannt, dass er zur Begehung der Rauschgiftdelikte, derer er schuldig gesprochen worden sei, verleitet worden sei. In jedem Fall stelle der Einsatz der verdeckten Ermittler nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine unzulässige Tatprovokation dar, da die Lockspitzel seine Bereitschaft zur Beteiligung an Straftaten gefördert hätten.
(i) Die Regierung
41. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren Artikel 6 Abs. 1 der Konvention entsprochen habe. Der Einsatz der verdeckten Ermittler und die Verwertung der als Ergebnis dieses Einsatzes gewonnenen Beweismittel hätten nicht dazu geführt, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer unfair gewesen sei.
42. Die Regierung brachte insbesondere vor, dass der Beschwerdeführer nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den zwei verdeckten Ermittlern zur Begehung der in Rede stehenden Rauschgiftdelikte verleitet worden sei. Der Beschwerdeführer sei bereits vor dem Einsatz der verdeckten Ermittler tatgeneigt gewesen. Insbesondere habe der Beschwerdeführer bei einem Gespräch mit dem verdeckten Ermittler D. am 23. Januar 2008 nicht nur erwähnt, Zugang zu einer Gruppe von Zigarettenschmugglern zu haben, sondern auch von sich aus die Möglichkeit der Lieferung von Kokain und Amphetamin ins Spiel gebracht und selbst die Mengen des zu liefernden Rauschgifts vorgeschlagen. Darüber hinaus habe sich der Beschwerdeführer selbst als Teil einer Gruppe mit S. bezeichnet und sei über seinen Kontakt zu S. in der Lage gewesen, Rauschgiftgeschäfte zeitnah einzuleiten. Angesichts der Mengen an Rauschgift wäre eine zügige Abwicklung der Rauschgiftgeschäfte ohne das Vorliegen eingespielter Strukturen der organisierten Kriminalität, an denen auch der Beschwerdeführer beteiligt gewesen sei, nicht möglich gewesen. Obwohl der Beschwerdeführer bei den Verhandlungen keine führende Rolle eingenommen habe, habe er am Gewinn der Geschäfte zu gleichen Teilen wie S. beteiligt werden sollen.
43. Des Weiteren war die Regierung der Auffassung, dass die verdeckten Ermittler sich im Zuge ihres Einsatzes weitgehend passiv verhalten hätten und dass es zu der Einbindung des Beschwerdeführers in den von S. gesteuerten Rauschgifthandel auch ohne ihren Einsatz gekommen wäre. Es stimme, dass der Beschwerdeführer bei seinem Telefongespräch mit P. am 1. Februar 2008 mitgeteilt habe, dass er von einer weiteren Vorbereitung eines Rauschgiftgeschäfts Abstand nehmen wolle. Bei ihrer erneuten Kontaktaufnahme am 8. Februar 2008 hätten die verdeckten Ermittler lediglich passiv die Gründe für die Ablehnung des Rauschgiftgeschäfts durch den Beschwerdeführer abklären wollen. Im Laufe des Gesprächs sei jedoch deutlich geworden, dass der Beschwerdeführer sich nicht grundsätzlich von seiner Bereitschaft zum Rauschgifthandel abgewendet habe, sondern die Vertrauenswürdigkeit der verdeckten Ermittler habe prüfen wollen. Die verdeckten Ermittler überließen es ferner der Initiative des Beschwerdeführers und des S., die Rauschgiftgeschäfte vorzubereiten.
44. Die Regierung erkannte an, dass das Landgericht den Begriff „verleiten“ verwendet habe, um das Vorgehen der verdeckten Ermittler zu beschreiben. Aus dem Zusammenhang ergebe sich jedoch, dass der Begriff im Sinne von „ermuntern“ („kommen lassen“) verwendet worden sei. Es habe damit nicht gemeint, dass eine unzulässige Tatprovokation, Anstiftung oder ein Verleiten im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgelegen hätte. Die verdeckten Ermittler hätten den Beschwerdeführer nicht zur Begehung der Rauschgiftdelikte angestiftet, da sie abgewartet hätten, bis der Beschwerdeführer Rauschgiftgeschäfte zur Sprache gebracht habe.
45. Die Regierung hob ferner hervor, dass der Einsatz der verdeckten Ermittler richterlich angeordnet gewesen sei und durchgängig gerichtlich überwacht worden sei. Die ursprüngliche gerichtliche Anordnung vom 18. Oktober 2007, mit der der Einsatz von verdeckten Ermittlern im Hinblick auf S. und andere wegen des Verdachts des Rauschgifthandels genehmigt worden sei, habe nicht für den Beschwerdeführer gegolten, der zu dem Zeitpunkt nicht des Rauschgifthandels verdächtig gewesen sei. Allerdings sei der Einsatz der verdeckten Ermittler durch gerichtliche Anordnung vom 7. Februar 2008 auf den Beschwerdeführer ausgeweitet worden, nachdem dieser zu erkennen gegeben habe, am Handel mit Zigaretten und Rauschgift interessiert und beteiligt zu sein.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
(i) Einschlägige Grundsätze
46. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln in erster Linie durch innerstaatliches Recht zu regeln ist und es generell eSache der innerstaatlichen Gerichte ist, das ihnen vorliegende Beweismaterial zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, festzustellen, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, in der Beweise erhoben wurden, fair war (siehe u. a. Teixeira de Castro ./. Portugal, 9. Juni 1998, Rdnr. 34, Reports of JudgmentsandDecisions 1998‑IV; und Ramanauskas ./.Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, Rdnr. 52, ECHR 2008).
47. Der Einsatz von verdeckten Ermittlern mag akzeptabel sein, sofern er klaren Beschränkungen unterliegt und mit Garantien versehen ist (siehe Teixeira de Castro, a. a. O., Rdnrn. 35-36; und Ramanauskas, a. a. O., Rdnr. 54). Auch wenn die Ausbreitung des organisierten Verbrechens zweifellos das Ergreifen geeigneter Maßnahmen gebietet, nimmt gleichwohl das Recht auf eine geordnete Rechtspflege eine so herausragende Stellung ein, dass es Zweckmäßigkeitserwägungen nicht geopfert werden darf (siehe Teixeira de Castro, a. a. O., Rdnr. 36). Das öffentliche Interesse an der Bekämpfung von Straftaten kann nicht den Gebrauch von Beweismitteln rechtfertigen, die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden, da der Beschuldigte so von Beginn an der Gefahr ausgesetzt würde, dass ihm definitiv kein faires Verfahren zuteil wird (siehe u. a. Teixeira de Castro, a. a. O., Rdnrn. 35-36; Edwards und Lewis ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 39647/98 und 40461/98, Rdnrn. 46 und 48, ECHR 2004‑X; Vanyan ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 53203/99, Rdnr. 46, 15. Dezember 2005; Khudobin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 59696/00, Rdnr. 133, ECHR 2006‑XII (Auszüge); Ramanauskas, a. a. O., Rdnr. 54; und Bannikova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 18757/06, Rdnr. 34, 4. November 2010).
48. Wird der Gerichtshof mit einem Vorwurf der polizeilichen Provokation oder List befasst, so versucht er festzustellen, ob eine derartige Provokation oder List vorgelegen hat (materiell-rechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [Substantive test of incitement]; siehe Bannikova, a. a. O., Rdnr. 37). Eine polizeiliche Provokation liegt dann vor, wenn sich die beteiligten Polizeibeamten nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken, sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass diese zur Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie andernfalls nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck – durch Beweiserbringung und Einleitung einer Strafverfolgung – die Feststellung einer Straftat zu ermöglichen (siehe Ramanauskas, a. a. O., Rdnr. 55 mit weiteren Verweisen; und Bannikova, a. a. O., Rdnr. 37; vgl. auch Pyrgiotakis ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 15100/06, Rdnr. 20, 21. Februar 2008). Der Grund für das Verbot der polizeilichen Provokation besteht darin, dass es die Aufgabe der Polizei ist, Straftaten zu verhindern und zu untersuchen und nicht zu provozieren.
49. Für die Differenzierung zwischen polizeilicher Provokation oder List unter Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und dem Einsatz rechtmäßiger verdeckter Ermittlungsmethoden hat der Gerichtshof die folgenden Kriterien entwickelt.
50. Bei seiner Entscheidung, ob die Ermittlung „weitgehend passiv“ war, prüft der Gerichtshof die Gründe, auf denen die verdeckte Maßnahme beruhte, sowie das Verhalten der Beamten, die die Maßnahme durchgeführt haben. Der Gerichtshof wird sich darauf stützen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Beschwerdeführer an kriminellen Tätigkeiten beteiligt oder tatgeneigt war (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnr. 38).
51. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang insbesondere festgestellt, dass die innerstaatlichen Behörden keinen Grund hatten, eine Person der Beteiligung am Rauschgifthandel zu verdächtigen, wenn diese nicht vorbestraft war, kein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war und nichts darauf hindeutete, dass sie der Beteiligung am Rauschgifthandel schon zugeneigt war, bevor sie von den Polizeibeamten kontaktiert wurde (siehe Teixeira de Castro, a. a. O., Rdnr. 38; bestätigt in Edwards und Lewis, a. a. O., Rdnrn. 46 und 48; Khudobin, a. a. O., Rdnr. 129; Ramanauskas, a. a. O., Rdnr. 56; undBannikova, a. a. O., Rdnr. 39; siehe auch Pyrgiotakis, a. a. O., Rdnr. 21). Darüber hinaus können, je nach den Umständen eines konkreten Falls, auch die folgenden Kriterien als Hinweis auf bestehende kriminelle Tätigkeit oder Tatgeneigtheit verstanden werden: die erwiesene Vertrautheit des Beschwerdeführers mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln und seine Fähigkeit zu deren kurzfristiger Beschaffung (vgl.Shannon ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 67537/01, ECHR 2004‑IV) sowie seine Gewinnbeteiligung (siehe Khudobin, a. a. O., Rdnr. 134; und Bannikova, a. a. O., Rdnr. 42).
52. Bei der Differenzierung zwischen der rechtmäßigen Infiltrierung durch einen verdeckten Ermittler und der Provokation einer Straftat befasst sich der Gerichtshof ferner mit der Frage, ob auf den Beschwerdeführer Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. In Rauschgiftfällen hat er festgestellt, dass die Ermittler sich unter anderem dann nicht mehr passiv verhalten, wenn sie von sich aus Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnehmen, wenn sie ihr Angebot trotz einer anfänglichen Ablehnung seitens des Beschwerdeführers erneuern oder darauf beharren, wenn sie ihn mit Preisen, die den Marktwert übersteigen, ködern oder wenn sie durch Vorspiegelung von Entzugserscheinungen das Mitleid des Beschwerdeführers erregen (siehe u. a. Bannikova, a. a. O., Rdnr. 47; und Veselov u. a. ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 23200/10, 24009/07 und 556/10, § 92, 2. Oktober 2012).
53. Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien erlegt der Gerichtshof den Behörden die Beweislast auf. Soweit der vom Angeklagtenerhobene Vorwurf nicht völlig unplausibel ist, hat die Staatsanwaltschaft zu beweisen, dass keine Tatprovokation stattgefunden hat. In der Praxis könnten die Behörden an der Erfüllung dieser Beweispflicht gehindert sein, wenn die verdeckte Maßnahme nicht förmlich genehmigt und überwacht worden war (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnr. 48). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines eindeutigen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen sowie deren ordnungsgemäßer Überwachung unterstrichen. Bei verdeckten Maßnahmen hielt er die gerichtliche Überwachung für das am besten geeignete Mittel (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnrn. 49-50; vgl. auch Edwards und Lewis, a. a. O., Rdnrn. 46 und 48).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
54. Der Gerichtshof hat zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Rauschgiftdelikte, derer er schuldig gesprochen wurde, infolge einer gegen Artikel 6 Abs. 1 verstoßenden polizeilichen Provokation begangen hat (materiell-rechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [Substantive test of incitement]). Dies war dann der Fall, wenn davon auszugehen ist, dass die verdeckten Ermittler sich nicht auf eine weitgehend passive Untersuchung der Tätigkeiten des Beschwerdeführers beschränkten, sondern insofern Einfluss auf ihn nahmen, als sie ihn zur Begehung einer Straftat verleiteten, die er andernfalls nicht begangen hätte.
55. Im Hinblick auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien für die Differenzierung zwischen polizeilicher Provokation und rechtmäßigen verdeckten Ermittlungsmethoden (siehe Rdnrn. 49-53) stellt der Gerichtshof fest, dass es zu dem Zeitpunkt, als die verdeckten Ermittler im November 2007 erstmals Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnahmen, keine objektiven Anhaltspunkte für den Verdacht einer Verwicklung in den Rauschgifthandel gab. Am 18. Oktober 2007 genehmigte das Amtsgericht Aachen den Einsatz von verdeckten Ermittlern ausschließlich gegen S. und fünf weitere Personen, zu denen nicht der Beschwerdeführer gehörte. Zu diesem Zeitpunkt wurde kein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet. Der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer wurde von den verdeckten Ermittlern nicht wegen des Verdachts einer Verwicklung in den Rauschgifthandel kontaktiert, sondern weil er ein guter Freund des Verdächtigen S. war und daher als Mittel für die Kontaktherstellung zu S. angesehen wurde.
56. Im Hinblick auf das Vorbringen der Regierung, der Beschwerdeführer sei dennoch tatgeneigt gewesen, da er von sich aus die Möglichkeit der Rauschgiftlieferung ins Spiel gebracht und selbst die Mengen des zu liefernden Rauschgifts vorgeschlagen habe, sich als Teil einer Gruppe mit S. bezeichnet habe und über seinen Kontakt zu S. in der Lage gewesen sei, Rauschgiftgeschäfte zeitnah einzuleiten, stellt der Gerichtshof Folgendes fest. Für die Entscheidung, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass die betroffene Person tatgeneigt war, ist der Zeitpunkt entscheidend, zu dem die Person (erstmals) von der Polizei kontaktiert wurde (siehe Rdnr. 51). Wie oben festgestellt, gingen die Strafverfolgungsbehörden zu dem Zeitpunkt, als die verdeckten Ermittler im November 2007 begannen, Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufzunehmen und sich mit ihm zu treffen, nicht davon aus, dass dieser dem Rauschgifthandel zugeneigt sei, wie aus dem Urteil des Landgerichts Aachen deutlich hervorgeht. Es ist daher nicht von Bedeutung, dass der Beschluss des Amtsgerichts Aachen, mit dem die Genehmigung des Einsatzes von verdeckten Ermittlern auch auf den Beschwerdeführer ausgeweitet wurde (siehe Rdnr. 11), auf der Annahme einer solchen Tatgeneigtheit beruhte, zumal der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bereits erklärt hatte, dass er an anderen Geschäften als dem Betrieb seines Restaurants nicht interessiert sei (siehe Rdnr. 10). Dem Beschwerdeführer zufolge hatte die Staatsanwaltschaft diese wichtige Information nicht einmal dem Amtsgericht Aachen übermittelt (siehe Rdnr. 39). Unter diesen Umständen sind die von der Regierung genannten Faktoren kein hinreichender Beweis dafür, dass die Schlussfolgerung, der Beschwerdeführer sei dem Rauschgifthandel zugeneigt, vertretbar gewesen wäre.
57. Der Gerichtshof befasst sich ferner mit der Frage, ob durch die verdeckten Ermittler Druck auf den Beschwerdeführer ausgeübt wurde, die Straftaten, derer er schuldig gesprochen wurde, zu begehen. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Landgericht unter Berufung auf die von den Ermittlern während der gesamten verdeckten Maßnahme erstellten Berichte sowie unter Bezugnahme auf das Vorbringen des Beschwerdeführers festgestellt hat, die Ermittler hätten darauf geachtet, nicht von sich aus konkrete kriminelle Geschäfte, Rauschgiftarten oder Rauschgiftmengen vorzuschlagen, sondern hätten darauf gewartet, dass ihre jeweiligen Gesprächspartner, der Beschwerdeführer oder S., den ersten Schritt taten. In diesem Zusammenhang ist es, wie die Regierung betont hat, von Bedeutung, dass festgestellt wurde, der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit des Rauschgiftverkaufs durch S. selbst aufgeworfen, wenn auch in einem Kontext, den die verdeckten Ermittler sorgfältig und mit dem Ziel vorbereitet hatten, einen Rauschgiftverkauf durch S. an sie zu erwirken.
58. Allerdings kommt der Gerichtshof nicht umhin, festzustellen, dass der Beschwerdeführer am 1. Februar 2008, als er von dem verdeckten Ermittler P. angerufen wurde, diesem erklärte, dass er an der Beteiligung an einem Rauschgiftgeschäft nicht mehr interessiert sei. Nichtsdestotrotz nahm der verdeckte Ermittler P. am 8. Februar 2008 erneut Kontakt zum Beschwerdeführer auf und überredete ihn, mit der Organisation des Rauschgiftverkaufs durch S. an die verdeckten Ermittler fortzufahren. Mit diesem Verhalten gegenüber dem Beschwerdeführer kamen die Ermittler eindeutig von einer passiven Tätigkeit ab und veranlassten den Beschwerdeführer dazu, die Straftaten zu begehen. Auf Grundlage des dem Gerichtshof vorliegenden Materials stellt sich die Sachlage so dar, dass die Ermittler erneut Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnahmen, um einen Rauschgifthandel zu ermöglichen und eine Strafverfolgung sowohl gegen den Beschwerdeführer, in Bezug auf den der Einsatz von verdeckten Ermittlern durch Gerichtsbeschluss vom 7. Februar 2008 genehmigt worden war, als auch gegen S., mit dem die Ermittler nur über den Beschwerdeführer kommunizieren konnten, einzuleiten.
59. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die in Rede stehende verdeckte Maßnahme über rein passive Ermittlungen zu einer bestehenden kriminellen Tätigkeit hinausging und eine polizeiliche Tatprovokation darstellte, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 1 der Konvention definiert ist. Die durch die polizeiliche Provokation erlangten Beweismittel wurden darüber hinaus in dem anschließenden Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer verwertet.
2. Hat der Beschwerdeführer seine Opfereigenschaft verloren?
(a) Die Stellungnahmen der Parteien
(i) Der Beschwerdeführer
60. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine Verurteilung im Wesentlichen auf Beweismittel gestützt worden sei, die dadurch erlangt worden seien, dass man ihm eine Falle gestellt habe, weshalb das Verfahren unfair gewesen sei. Seiner Ansicht nach sei es nicht ausreichend gewesen, dass das Landgericht entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe Rdnrn. 26-31) seine Strafe aufgrund der konventionswidrigen polizeilichen List gemildert habe. Er nahm unter anderem auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Fällen Teixeira de Castro (a. a. O.) und Vanyan (a. a. O.) Bezug und brachte vor, dass das gegen ihn geführte Verfahren hätte eingestellt werden müssen.
(i) Die Regierung
61. Die Regierung brachte vor, dass die Verwertung der durch die verdeckten Ermittler erlangten Beweismittel in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht dazu geführt habe, dass dieses Verfahren unfair gewesen sei. Das Landgericht habe die Strafe des Beschwerdeführers erheblich gemildert, da es durch die verdeckten Ermittler einen staatlich veranlassten Anreiz für die Begehung der Straftaten gegeben habe, obwohl das Gericht nicht vom Vorliegen einer unzulässigen Tatprovokation durch die Polizei im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgegangen sei. Darüber hinaus seien die Berichte der verdeckten Ermittler zum Gegenstand des gegen den Beschwerdeführer geführten Strafverfahrens gemacht worden. Das Landgericht habe sich mit den Vorwürfen des Beschwerdeführers bezüglich einer unzulässigen Tatprovokation auseinandergesetzt und dieser habe seine Verteidigungsrechte in diesem Zusammenhang ausüben können.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
(i) Einschlägige Grundsätze
62. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es primär den innerstaatlichen Behörden obliegt, Wiedergutmachung für Verstöße gegen die Konvention zu leisten (siehe u. a. Siliadin ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 73316/01, Rdnr. 61, ECHR 2005-VII, und Scordino ./. Italien (Nr. 1) [GK], Individualbeschwerde Nr. 36813/97, Rdnr. 179, ECHR 2006‑V). Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Beschwerdeführers reicht nicht grundsätzlich aus, um ihm die Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention abzuerkennen, es sei denn, die innerstaatlichen Behörden haben die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und sodann Wiedergutmachung geleistet (siehe u. a. E. ./. Deutschland, Urteil vom 15. Juli 1982, Rdnr. 66, Serie A Band 51; Dalban ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 28114/95, Rdnr. 44, ECHR 1999-VI; Scordino (Nr. 1), a. a. O., Rdnr. 180; und G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 115, ECHR 2010).
63. Im Hinblick auf die Wiedergutmachung, die geeignet und ausreichend ist, um einer Verletzung eines Konventionsrechts auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, hat der Gerichtshof im Allgemeinen die Auffassung vertreten, dass dies von den Gesamtumständen des Falls abhängt, wobei insbesondere die Art der festgestellten Konventionsverletzung zu berücksichtigen ist (siehe G., a. a. O., Rdnr. 116; vgl. auch Scordino (Nr. 1), a. a. O., Rdnr. 186).
64. In Fällen einer gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßenden Tatprovokation durch die Polizei weist der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung wiederholt darauf hin, dass das öffentliche Interesse an der Bekämpfung schwerer Straftaten wie Rauschgifthandel nicht den Gebrauch von Beweismitteln rechtfertigen kann, die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden (siehe die unter Rdnr. 47 zitierte Rechtsprechung). Damit ein Verfahren im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fair ist, müssen alle als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden oder aber ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen muss greifen (siehe Lagutin u. a. ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 6228/09, 19123/09, 19678/07, 52340/08 und 7451/09, Rdnr. 117, 24. April 2014 mit weiteren Verweisen).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
65. Bei der Entscheidung darüber, ob die innerstaatlichen Gerichte eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt haben, stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht Aachen in dem Urteil, in dem es den Beschwerdeführer des Rauschgifthandels schuldig sprach, den der verdeckten Maßnahme zugrunde liegenden Sachverhalt detailliert dargelegt hat und festgestellt hat, dass der Beschwerdeführer von staatlichen Stellen zu den Straftaten verleitet, aber nicht angestiftet worden sei. Das Landgericht stützte seine Feststellung im Wesentlichen auf denselben Sachverhalt, auf den der Gerichtshof seine Feststellung stützte, dass die verdeckte Maßnahme eine polizeiliche Tatprovokation darstellte, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 1 der Konvention definiert ist. Das Landgericht unterstrich insbesondere, dass vor Beginn der verdeckten Ermittlung keinerlei Verdacht hinsichtlich einer Verwicklung in den Rauschgifthandel gegen den Beschwerdeführer bestanden habe und die Ermittler trotz ihres ansonsten vorsichtigen Vorgehens den Beschwerdeführer erneut kontaktiert und sein Misstrauen und seine Furcht zerstreut hätten, nachdem dieser von der Beteiligung an dem Rauschgiftgeschäft abgerückt sei (siehe Rdnrn. 16-18).
66. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das Landgericht mit diesen Feststellungen dem Vorbringen der Regierung zufolge nicht anerkennen wollte, dass eine unzulässige Tatprovokation durch die Polizei im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgelegen habe. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht weder auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, noch auf die entsprechenden Rechte im Grundgesetz oder die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur unzulässigen Tatprovokation durch die Polizei (Rdnrn. 26-31), mit denen die Begründung des Landgerichts im Einklang zu stehen scheint, ausdrücklich verwiesen hat. Dennoch ist er der Auffassung, dass die Frage, ob davon auszugehen ist, dass das Landgericht eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 durch seine oben genannten Feststellungen der Sache nach anerkannt hat, aus den folgenden Gründen offen gelassen werden kann.
67. Selbst unter der Annahme, das Landgericht habe eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention anerkannt, muss der Gerichtshof weiter prüfen, ob das Gericht für die Konventionsverletzung eine ausreichende Wiedergutmachung geleistet hat. Er stellt fest, dass das Landgericht ausdrücklich festgehalten hat, es wirke sich ganz besonders strafmildernd aus, dass der Beschwerdeführer von einer staatlichen Stelle zu Straftaten verleitet worden sei.
68. Bei der Entscheidung darüber, ob eine erhebliche Strafmilderung als ausreichende Wiedergutmachung gegenüber dem Beschwerdeführer für eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 angesehen werden kann, stellt der Gerichtshof Folgendes fest. Der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zufolge ist der Gebrauch von Beweismitteln, die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden, nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht erlaubt. Damit ein Verfahren im Sinne dieser Bestimmung fair ist, müssen alle als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden oder aber ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen muss greifen (siehe Rdnrn. 47 und 64). Angesichts dieser Rechtsprechung muss der Schluss gezogen werden, dass, von dem Ausschluss derartiger Beweismittel von der Verhandlung oder einem Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen abgesehen, alle anderen Maßnahmen nicht als ausreichend gelten können, um eine angemessene Wiedergutmachung für eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 zu leisten.
69. Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache die durch die polizeiliche Provokation erlangten Beweismittel in dem Verfahren des Beschwerdeführers verwertet wurden und seine Verurteilung auf dieses Beweismaterial gestützt wurde. Darüber hinaus ist der Gerichtshof – nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung des Materials für den Beweis der Schuld des Beschwerdeführers – nicht davon überzeugt, dass selbst eine erhebliche Milderung der Strafe des Beschwerdeführers als ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen wie der Ausschluss der angegriffenen Beweismittel angesehen werden kann. Folglich wurde dem Beschwerdeführer keine ausreichende Wiedergutmachung für die Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 geleistet.
70. Der Gerichtshof möchte hinzufügen, dass es zwar plausibel scheint, dass die wegen des Rauschgifthandels verhängte Strafe des Beschwerdeführers aufgrund der polizeilichen Provokation erheblich gemildert wurde, die genaue Strafmilderung in dem Urteil jedoch nicht festgesetzt wurde und somit nicht eindeutig messbar ist.
71. Angesichts der vorstehenden Ausführungen kann der Beschwerdeführer noch geltend machen, Opfer einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu sein.
3. Schlussfolgerung
72. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
73. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
74. Der Beschwerdeführer forderte insgesamt 85.525,67 EUR in Bezug auf den materiellen Schaden. Die Summe umfasste 68.799,99 EUR (2.000 EUR pro Monat) für den entgangenen Gewinn aufgrund der durch seine Verhaftung bedingten Schließung des Restaurants im September 2008 bis zu seiner Entlassung am 12. Juli 2011. Ferner forderte er 2.090,71 EUR pro Monat und Person für die Ausgaben, die ihm durch die Beschäftigung zweier Vertretungsköche in seinem Restaurant von Mai bis August 2008 entstanden seien. Zur Begründung seiner Forderungen verweist er auf seiner Beschwerde beigefügte Unterlagen (eine betriebswirtschaftliche Auswertung der Gewinne seines Restaurants für die Monate Januar bis Juli 2008 sowie mehrere Gehaltszettel von zwei seiner Beschäftigten für den maßgeblichen Zeitraum).
75. Des Weiteren forderte der Beschwerdeführer insgesamt mindestens 11.749,99 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden. Diese Summe setzt sich aus 8.249,99 EUR als Entschädigung für seine Untersuchungshaft und die Strafhaft von 3,3 Jahren (zur Erklärung seiner Berechnung berief er sich auf nicht weiter spezifizierte Rechtsprechung) sowie mindestens 3.500 EUR als Entschädigung für die Verfahrensdauer zusammen.
76. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass der Beschwerdeführer selbst dann, wenn eine Konventionsverletzung vorgelegen hätte, seine materielle Entschädigungsforderung nicht hinreichend substantiiert dargelegt habe. Auch wenn er mit dem Betrieb seines Restaurants vor seiner Verhaftung durchschnittlich 2.000 EUR erwirtschaftet haben sollte, sei unklar, ob der Beschwerdeführer den Betrieb des Restaurants über den Zeitraum seiner Inhaftierung hinweg aufrechterhalten und weiterhin das gleiche Betriebsergebnis erwirtschaftet hätte. Ferner erschließe sich aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Gehaltszetteln nicht, ob die Beschäftigung der zwei darin genannten Personen in irgendeinem Zusammenhang mit der Inhaftierung des Beschwerdeführers ab Mai 2008 gestanden habe.
77. Im Hinblick auf die Entschädigung, die der Beschwerdeführer offenbar hinsichtlich des immateriellen Schadens forderte, brachte die Regierung vor, der Beschwerdeführer habe nicht nachgewiesen, dass er ohne den Einsatz der verdeckten Ermittler nicht verurteilt worden wäre.
78. Hinsichtlich der Prüfung der Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden möchte der Gerichtshof betonen, dass die Entschädigung in diesem Fall mit der Art und Weise im Zusammenhang steht, in der das Verfahren geführt wurde. Der Zusammenhang zwischen dieser Art und Weise und dem konkret geforderten materiellen Schadensersatz ist im innerstaatlichen Verfahren zu prüfen. Im Falle eines Freispruchs könnte der Beschwerdeführer Entschädigung für den durch die Verurteilung entstandenen materiellen Schaden fordern. Die innerstaatlichen Gerichte wären in diesem Fall am besten dafür geeignet, eine solche Forderung zu prüfen (vgl. sinngemäß auch Veselov u. a., a. a. O., Rdnrn. 135-136).
79. Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass der Beschwerdeführer gelitten haben muss, weil ihm kein faires Verfahren zuteil wurde, da er wegen Rauschgiftdelikten verurteilt wurde, zu deren Begehung er von der Polizei verleitet worden war. Nach Ansicht des Gerichtshofs stellt die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 an sich keine hinreichende gerechte Entschädigung für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden dar. Der Gerichtshof setzt die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer diesbezüglich 8.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu. Die Forderung nach Schadensersatz für die Dauer des Verfahrens ist zurückzuweisen, da die diesbezügliche Rüge des Beschwerdeführers für unzulässig erklärt wurde (siehe Rdnr. 4).
B. Kosten und Auslagen
80. Der Beschwerdeführer forderte außerdem insgesamt 10.685,03 EUR zuzüglich Mehrwertsteuer für die in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen. Dieser Betrag umfasste 4.201,68 EUR netto für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Landgericht angefallen seien, 5.000 EUR netto für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof angefallen seien, sowie 1.483,35 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angefallen seien. Der Beschwerdeführer legte Abschriften der Rechnungen seines Rechtsanwalts für die zwei letztgenannten Beträge vor.
81. Unter Vorlage von Belegen forderte der Beschwerdeführer außerdem 2.654,72 EUR zuzüglich Mehrwertsteuer für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof angefallen seien.
82. Die Regierung vertrat die Auffassung, der Beschwerdeführer habe auch seine Kosten und Auslagen nicht hinreichend substantiiert. Aus den vorgelegten Rechnungen, die sich auf „die Strafsache“ des Beschwerdeführers bezögen, gehe nicht klar hervor, ob damit das der Beschwerde zugrunde liegende Verfahren gemeint sei und welche Leistungen damit auf welcher Grundlage vergütet worden seien.
83. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden waren und der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 8.500 EUR zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
84. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt, soweit sie die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der angeblichen Unfairness des gegen ihn geführten Strafverfahrens betrifft;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 8.000 EUR (achttausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 8.500 EUR (achttausendfünfhundert Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 23. Oktober 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar