EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 67522/09)
URTEIL
STRASSBURG
6. November 2014
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache E. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 14. Oktober 2014
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 67522/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die eine staatenlose Person, E. („der Beschwerdeführer“), am 14. Dezember 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn B., Rechtsanwalt in D., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass die Dauer seiner Untersuchungshaft überlang gewesen sei.
4. Am 5. September 2013 wurde die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Dauer der Untersuchungshaft der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in H., Deutschland, wohnhaft.
A. Das Ermittlungsverfahren
6. Der Beschwerdeführer wurde am 8. April 2007 festgenommen. Seine Ausweispapiere erwiesen sich als Fälschungen. Am 9. April 2007 erließ das Amtsgericht Hagen gegen den Beschwerdeführer Haftbefehl wegen Besitzes gefälschter Urkunden.
7. Am 11. April 2007 übernahm der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen. Am 23. Mai 2007 hob der Bundesgerichtshof den Haftbefehl auf und erließ einen neuen Haftbefehl u. a. wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen VereinigungX..
8. Am 21. Juni 2007 verwarf der Bundesgerichtshof die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Haftbefehl.
9. Durch die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 30. August und 30. Oktober 2007 sowie 14. Februar 2008 wurde jeweils der Haftbefehl aufrechterhalten und die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers angeordnet.
10. Am 27. Mai 2008 erließ der Bundesgerichtshof einen neuen Haftbefehl. Laut dem neuen Haftbefehl stand der Beschwerdeführer in dringendem Verdacht, sich als Rädelsführer an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt und zwei Morde sowie sechs versuchte Morde begangen zu haben. Insbesondere habe der Beschwerdeführer von Deutschland aus den Zeugen G.G. angerufen und ihn angewiesen, einen terroristischen Anschlag durchzuführen, welcher am 1. April 1993 in Istanbul erfolgt sei und bei dem zwei Polizisten getötet worden seien. Weiterhin wurde der Beschwerdeführer verdächtigt, mehrere terroristische Anschläge angeordnet zu haben; diese seien zwischen Januar 2001 und Juli 2005 in der Türkei in Form von Sprengstoffattentaten erfolgt.
11. Am 17. Juni 2008 ordnete der Bundesgerichtshof die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an.
12. Am 24. Juni 2008 erhob der Generalbundesanwalt Anklage gegen den Beschwerdeführer; die Anklageschrift umfasste 286 Seiten zuzüglich einer 81-seitigen Liste von Beweismitteln und stützte sich auf dieselben Gründe wie der Haftbefehl vom 27. Mai 2008.
13. Am 2. Oktober 2008 ordnete der Bundesgerichtshof die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an.
B. Das erste Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf
14. Mit Beschluss vom 21. November 2008 eröffnete das Oberlandesgericht Düsseldorf als Gericht des ersten Rechtszuges in Staatsschutzsachen das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer (Az. III-2 STS 1/08). Die Hauptverhandlung wurde am 15. Januar 2009 eröffnet und erstreckte sich über 95 Verhandlungstage.
15. Am 28. April 2008 wurde der Zeuge G. G. in Anwesenheit aller Verfahrensparteien von einem Gericht in Istanbul vernommen.
16. Am 9. Juni 2009 hob das Oberlandesgericht nach 16 Verhandlungstagen den Haftbefehl auf, soweit er den Verdacht betraf, der Beschwerdeführer habe den Anschlag in Istanbul vom 1. April 1993 angeordnet. Ferner ordnete es aus den übrigen Gründen des Haftbefehls den weiteren Vollzug seiner Untersuchungshaft an. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass der Zeuge G. G., auf den sich die Anklage stütze, seine 1993 gegenüber den türkischen Behörden gemachte Aussage nicht bestätigt habe. Er habe vielmehr erklärt, dass er von türkischen Beamten gefoltert und gezwungen worden sei, ein schon vorbereitetes Protokoll zu unterzeichnen. Den Beschwerdeführer kenne er nicht. In dieser Situation bestehe gegen den Beschwerdeführer nicht mehr der dringende Verdacht, die vorgenannte Straftat angeordnet zu haben.
17. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts stand der Beschwerdeführer jedoch weiterhin unter dringendem Verdacht, die anderen ihm zur Last gelegten Taten begangen zu haben. Insbesondere lägen ausreichende Urkunden- und Zeugenbeweise dafür vor, dass der Beschwerdeführer als führendes Mitglied einer terroristischen Vereinigung für die Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen und die Begehung weiterer Straftaten verantwortlich sei. Das Oberlandesgericht bezog sich unter anderem auf die Protokolle und Entscheidungen des Gründungskongresses, aus denen hervorgehe, dass der Beschwerdeführer Anfang 1999 zum Mitglied des Zentralkomitees der terroristischen Vereinigung X. gewählt worden sei.
18. Das Oberlandesgericht war darüber hinaus der Auffassung, es bestehe Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer, der sich illegal in Deutschland aufgehalten habe, weder über einen festen Wohnsitz noch über ausreichende soziale Bindungen verfüge, die sein Erscheinen vor Gericht gewährleisten würden. Es stünden folglich keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung, um seine Anwesenheit bei dem Prozess sicherzustellen.
19. Das Oberlandesgericht führte ferner aus, das Verfahren werde unter Beachtung des in Untersuchungshaftsachen gebotenen Beschleunigungsgebotes gefördert. Es stellte das Verfahren detailliert dar und erläuterte, dass wiederholt Zeugen vor Gericht nicht hätten vernommen werden können, weil sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätten. Neun Zeugen seien vernommen worden, bei weiteren vier dauere die Vernehmung an. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass die Angaben türkischer Zeugen zur Klärung der Frage, ob dem Beschwerdeführer die ihm zur Last gelegten Straftaten nachgewiesen werden könnten, von ausschlaggebender Bedeutung seien. Dementsprechend habe es mehrere Rechtshilfeersuchen an die Türkei richten müssen.
20. Am 4. August 2009 wies der Bundesgerichtshof die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Der Bundesgerichtshof bestätigte, dass der Beschwerdeführer weiterhin dringend verdächtig sei, mehrere Sprengstoffanschläge, bei denen es Tote und Verletzte gegeben habe, angeordnet zu haben. Er bestätigte auch, dass bei dem Beschwerdeführer weiterhin Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr bestehe. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei angesichts der Bedeutung der Sache und der hohen Straferwartung im Falle einer Verurteilung nicht unverhältnismäßig. Außerdem sei die Dauer des Verfahrens auf seine Komplexität zurückzuführen, wie vom Oberlandesgericht im Einzelnen dargestellt worden sei.
21. Am 6. Oktober 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 2133/09) ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen die Beschlüsse vom 9. Juni und 4. August 2009 zur Entscheidung anzunehmen.
22. Am 17. Februar 2010 wurden der Zeuge S.G. und ein weiterer Zeuge in Istanbul vernommen.
23. Am 17. Mai 2010 erweiterte das Oberlandesgericht Düsseldorf den Haftbefehl mit der Begründung, es bestehe (wieder) der dringende Verdacht, dass der Beschwerdeführer den Anschlag angeordnet habe, bei dem im April 1993 in Istanbul zwei Polizisten getötet worden seien. Diese Einschätzung stütze sich insbesondere auf die Aussage des Zeugen S. G., der angegeben habe, dass G. G. ihm 1993 berichtet habe, dass der Beschwerdeführer ihm die Anweisung zur Durchführung des Anschlags auf die Polizisten gegeben habe. Das Oberlandesgericht erachtete diese Angaben als konstant und glaubhaft. Darüber hinaus war es der Auffassung, es gebe erhärtende Beweise, da Zeugen bestätigt hätten, dass der Beschwerdeführer im fraglichen Zeitraum eine führende Position innerhalb der terroristischen Vereinigung inne gehabt habe.
24. Das Oberlandesgericht stellte überdies fest, dass auch hinsichtlich der übrigen Tatvorwürfe weiterhin ein dringender Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer bestehe. Unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Entscheidungen stellte das Oberlandesgericht fest, dass bei dem Beschwerdeführer weiterhin Fluchtgefahr bestehe. Diese Gefahr habe sich dadurch noch erhöht, dass zwischenzeitlich ein anderer Senat des Oberlandesgerichts die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Türkei für zulässig erklärt habe. Laut eines nachrichtendienstlichen Gutachtens von 2009 habe ein führendes Mitglied der terroristischen Vereinigung angeordnet, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung schnellstmöglich außer Landes gebracht werden solle. Die terroristische Vereinigung verfüge auch über die notwendigen Mittel zur Umsetzung dieses Plans.
25. Das Oberlandesgericht war schließlich der Auffassung, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und die Schwere der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe nicht unverhältnismäßig sei.
26. Am 23. September 2010 wurde der Zeuge S. G. in Istanbul erneut vernommen.
27. Am 10. Februar 2011, am 68. Verhandlungstag, schloss das Oberlandesgericht die Beweisaufnahme ab und hörte das Plädoyer des Staatsanwalts. Auf Antrag der Verteidigung wurde die Beweisaufnahme wiederaufgenommen; das Oberlandesgericht beschränkte die Anklage auf die beiden im April 1993 begangenen Morde und stellte das Verfahren bezüglich der anderen Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer ein.
28. Am 27. September 2011 verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf den Beschwerdeführer wegen Mordes an zwei Menschen zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Auf der Grundlage der in der Verhandlung vorgelegten Beweise sah es das Oberlandesgericht als erwiesen an, dass der Beschwerdeführer das Attentat auf die Polizisten Ende März 1993 telefonisch von Deutschland aus angeordnet habe. Das Gericht stützte die Verurteilung des Beschwerdeführers hauptsächlich auf Aussagen des Zeugen S. G. Das Oberlandesgericht war ferner der Ansicht, dass diese Feststellung mit der Kommandostruktur innerhalb der terroristischen Organisation übereinstimme und durch die Behauptung des G. G., er kenne den Beschwerdeführer nicht, nicht in Frage gestellt werde. Bei seiner Vernehmung durch das türkische Gericht habe sich G. G. geweigert, genauere Angaben zu machen. Vor diesem Hintergrund sei die unspezifische Bekundung, der Beschwerdeführer habe mit dem Anschlag nichts zu tun, nicht geeignet, die Angaben des S. G. in Zweifel zu ziehen.
29. Schließlich führte das Oberlandesgericht aus, die Dauer der Untersuchungshaft und der Hauptverhandlung verletze die Rechte des Beschwerdeführers nach Artikel 6 der Konvention nicht. Ein früherer Abschluss des Verfahrens sei wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht möglich gewesen. Diese hätten sich aus Umfang und Schwierigkeit der Tatvorwürfe ergeben. Neben dem abgeurteilten Mord an zwei Menschen seien dem Beschwerdeführer Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Beteiligung an zahlreichen Sprengstoffanschlägen in der Türkei zur Last gelegt worden. Die Verfahrensakten bestünden aus etwa 130 Stehordnern. Da der Beschwerdeführer zufällig festgenommen worden sei, hätten die Ermittlungen erst nach seiner Festnahme aufgenommen werden können. Die türkischen Behörden hätten umfangreiche Unterlagenübermittelt, wie Sachverständigengutachten, Tatortskizzen und Protokolle von Zeugenvernehmungen, die vor der Erstellung der Anklageschrift vom 24. Juni 2008 hätten übersetzt und ausgewertet werden müssen. Wegen des Umfangs der Verfahrensakten und der Komplexität des Verfahrensgegenstandes habe das Hauptverfahren erst am 21. November 2008 eröffnet werden können. Während der Hauptverhandlunghabe die Erledigung mehrerer an die türkischen Behörden gerichteter Rechtshilfeersuchen den Fortgang der Beweisaufnahme bestimmt. Mitglieder des Senats und Vertreter der Prozessbeteiligten seien insgesamt viermal in die Türkei gereist, um an Zeugenvernehmungen vor türkischen Gerichten teilzunehmen. Die Beweisaufnahme mittels Rechtshilfeersuchen habe jeweils deutlich mehr als ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Danach sei die Beweisaufnahme am 10. Februar 2011 geschlossen und auf Antrag der Verteidigung insgesamt dreimal wieder eröffnet worden. Allein die Verlesung des letzten Wortes des Beschwerdeführers habe vier Verhandlungstage in Anspruch genommen.
C. Das Revisionsverfahren
30. Am 29. November 2012 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf und verwies die Sache an einen anderen Senat des Gerichts zurück. Der Bundesgerichtshof sah die Beweiswürdigung durch das Oberlandesgericht als fehlerhaft an, da dieses Gericht fälschlicherweise angenommen habe, dass die Aussagen des Zeugen S. G. zu den Umständen seines angeblichen Gesprächs mit G. G. konstant und ohne Widersprüche seien.
31. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Überzeugungsbildung des Oberlandesgerichts auf diesem Fehler beruhe. Die Aussage des S. G. sei auch aus weiteren Gründen kritisch zu würdigen. Erstens habe S. G. die Anordnung des Anschlags durch den Beschwerdeführer nicht selbst wahrgenommen, sondern sei lediglich ein „Zeuge vom Hörensagen“. Darüber hinaus sei der Zeuge nicht vor dem Tatgericht, sondern auf Ersuchen des Tatgerichts vor einem türkischen Gericht vernommen worden. Schließlich habe S. G. nach seiner Festnahme in der Türkei im Jahr 2002 mit der türkischen Polizei zusammengearbeitet, weshalb er eine mildere Strafe erhalten habe und vorzeitig aus der Haft entlassen worden sei.
D. Das zweite Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf
32. Am 17. Januar 2013 ordnete das Oberlandesgericht Düsseldorf (Az. III‑6 STS 3/12) den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an. Der weitere Vollzug der Haft sei gerechtfertigt, weil der Beschwerdeführer unter dem dringenden Verdacht stehe, eine schwere Straftat begangen zu haben, und weil bei ihm Fluchtgefahr bestehe. Nach Auffassung des Gerichts war der Beschwerdeführer weiterhin dringend verdächtig, den Anschlag auf die Polizisten vom 1. April 1993 angeordnet zu haben. Dies werde durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, das Urteil aufzuheben, nicht in Frage gestellt. Die Aufklärung des möglichen Widerspruchs in den Angaben des Zeugen S. G. bleibe der neuen Hauptverhandlung vorbehalten. Das Oberlandesgericht war ferner der Ansicht, dass das Erscheinen des Beschwerdeführers vor Gericht nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden könne und dass die Dauer seiner Haft noch nicht unverhältnismäßig sei. Die Tatsache, dass der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf aufgehoben habe, begründe keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, da kein offensichtlicher Verfahrensfehler vorliege. Ferner trage das Oberlandesgericht dem Beschleunigungsgebot Rechnung, indem es bereits die entsprechenden Rechtshilfeersuchen vorbereite, damit die Hauptverhandlung Ende April/Anfang Mai 2013 beginnen könne.
33. Am 19. März 2013 verwarf der Bundesgerichtshof die Beschwerde des Beschwerdeführers. Er bestätigte, dass der Beschwerdeführer weiterhin unter dem dringenden Tatverdacht stehe, den Anschlag in Istanbul angeordnet zu haben. Der Verdacht beruhe insbesondere auf den Angaben des Zeugen S. G., die dieser während der Hauptverhandlung am 17. Februar und am 23. September 2010 gemacht habe, sowie auf den Angaben des Zeugen G. G. in dessen Vernehmung durch die türkische Polizei vom 2. Mai 1993.Dem stehe nicht entgegen, dass das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die Revision des Beschwerdeführers aufgehoben worden sei. Die widersprüchliche Aussage des Zeugen S. G. betreffe nicht den eigentlichen Kern seiner Aussage, der unverändert geblieben sei.
34. Der Bundesgerichtshof stellte ferner fest, der Zeuge G. G. habe in seiner Vernehmung durch die türkischen Behörden am 2. Mai 1993 angegeben, dass ihm der Beschwerdeführer den Aktionsbefehl für den Anschlag am 1. April 1993 erteilt habe. Das Gericht war der Auffassung, dass es an der Berücksichtigung dieser Aussage nicht dadurch gehindert sei, dass G. G. mehrfach behauptet habe, diese Aussage unter Folter gemacht zu haben, da seine vagen und pauschalen Vorwürfe nicht bestätigt worden seien.
35. Schließlich stellte der Bundesgerichtshof fest, dass die Dauer der Haft (fast sechs Jahre) nicht unverhältnismäßig sei. Er stellte den Verfahrensgang umfassend dar und kam zu dem Ergebnis, dass die Verfahrensdauer maßgeblich durch die Komplexität des Verfahrensgegenstandes und den überaus starken Auslandsbezug des Verfahrens bedingt worden sei. Jedoch habe es keine erheblichen Verzögerungen gegeben, die dem Tatgericht zuzurechnen seien.
36. Am 15. Mai 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht (Az. 2 BvR 790/13) unter Bezugnahme auf seine Verfahrensordnung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
37. Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf die neue Hauptverhandlung in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer.
38. Am 4. Oktober 2013 ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers auf der Grundlage des Haftbefehls vom 27. Mai 2008 an.
39. Am 4. Februar 2014 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf auf den neuen Haftprüfungsantrag des Beschwerdeführers vom 20. Januar 2014 den Haftbefehl auf und ordnete die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft an. Der Beschwerdeführer wurde am selben Tag entlassen.
40. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre. Seiner Auffassung nach war der Beschwerdeführer weiterhin dringend verdächtig, den Anschlag vom 1. April 1993begangen zu haben, bei dem zwei Polizisten getötet wurden. Bei dieser Einschätzung stützte sich das Gericht auf die Angaben, die der Zeuge S. G. während des ersten Verfahrens gemacht hatte, sowie auf weitere den Tatverdacht stützende Erkenntnisse. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre. In Untersuchungshaftsachen seien die Strafgerichte verfassungsrechtlich verpflichtet, das Verfahren zu beschleunigen (Beschleunigungsgebot). Da die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers schon so lange andauere, sei dieser Grundsatz besonders streng anzuwenden. Das Oberlandesgericht führte an, dass es nicht absehen könne, wann S. G., der Hauptbelastungszeuge, vernommen werden könne. Trotz mehrerer Erinnerungsschreiben seien Rechtshilfeersuchen, die im April und im September 2013 an die türkischen Behörden gerichtet worden seien, noch nicht erledigt worden. Da unklar sei, wann der Zeuge vernommen werden könne, war das Oberlandesgericht der Auffassung, dass es nicht in der Lage sei, das Verfahren mit der in Anbetracht der bereits fast sieben Jahre andauernden Untersuchungshaft gebotenen Beschleunigung fortzuführen. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass die Angaben, die der Zeuge G. G. im Jahr 1993 gegenüber den türkischen Behörden gemacht habe, nicht verwertbar seien, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie durch Folter erlangt worden seien.
41. Im August 2014 war das Strafverfahren immer noch bei Oberlandesgericht Düsseldorf anhängig.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
42. Gemäß § 112 Abs. 1 StPO darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht.
43. Nach Absatz 2 liegt ein Haftgrund vor, wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen oder Beweismittel manipulieren wird. Absatz 3 sieht vor, dass gegen den Beschuldigten die Untersuchungshaft auch angeordnet werden darf, wenn er bestimmter schwerer Straftaten, u. a. Mord oder Totschlag, dringend verdächtig ist.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 3 DER KONVENTION
44. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Dauer seiner Untersuchungshaft seine Rechte nach Artikel 5 Abs. 3 der Konvention verletzt habe, der wie folgt lautet:
„Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist … hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.“
45. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
46. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
47. Der Beschwerdeführer trug vor, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf das Verfahren nicht hinreichend beschleunigt habe. Im ersten Halbjahr 2009 sei nur an 19 der 54 ursprünglich anberaumten Verhandlungstagen verhandelt worden. Danach sei noch seltener verhandelt worden. Der Beschwerdeführer räumte ein, dass das Verfahren aufgrund des starken Auslandsbezugs möglicherweise selbst durch weitere Hauptverhandlungstermine nicht hätte weiter gefördert werden können. Im Lichte seines Rechts auf persönliche Freiheit dürfe sich dies jedoch nicht zu seinen Lasten auswirken. Wenn der deutsche Staat im Rahmen der internationalen Anti-Terror-Gesetzgebung angebliche Straftaten verfolge, die im Ausland begangen worden seien, und sich das Verfahren durch Umstände verzögere, die nicht dem Einfluss dieses Staates unterlägen, so seien diese Verzögerungen dennoch dem deutschen Staat anzulasten. Es sei weiterhin unklar, ob die türkischen Behörden die in den anhängigen Ersuchen erbetene Rechtshilfe abschließend erledigen würden.
48. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, die lange Untersuchungshaft sei auf die mangelnde Unterstützung der türkischen Behörden und auf das Fehlen einer kritischen Würdigung der verfügbaren Beweismittel zurückzuführen. Der Beschwerdeführer betonte, dass das Oberlandesgericht im ersten Verfahren vier Mal nach Istanbul gereist sei, um an Zeugenvernehmungen teilzunehmen. Audio-visuelle Vernehmungen seien von den Gerichten nicht ermöglicht worden. Die Aussage des S. G. sei besonders problematisch, weil sie auf Hörensagen beruhe, weil seine Vernehmung nicht im Rahmen der Hauptverhandlung erfolgt sei und weil er für seine aktive Unterstützung der türkischen Strafverfolgungsbehörden erhebliche Vergünstigungen erhalten habe. Darüber hinaus habe der Zeuge S. G. widersprüchliche Angaben gemacht, deren fehlerhafte Würdigung dazu geführt habe, dass das erstinstanzliche Urteil vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden sei. Das Urteil des Oberlandesgerichts sei durch eine Reihe weiterer Verfahrensfehler gekennzeichnet.
49. Aufgrund der problematischen Zeugenaussage und im Lichte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hätte das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer spätestens am 17. Mai 2010 entlassen müssen. Stattdessen habe es die Fortdauer seiner Haft angeordnet.
2. Die Stellungnahme der Regierung
50. Die Regierung trug vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers wegen der Schwere der Straftaten, deren er verdächtig sei, sowie der bestehenden Fluchtgefahr verhältnismäßig sei. Die Dauer des Verfahrens sei auf den höchst außergewöhnlichen Umfang und die Komplexität der Tatvorwürfe sowie auf seinen starken Auslandsbezugs zurückzuführen. Die Komplexität zeige sich daran, dass die Verfahrensakten mittlerweile einen Umfang von 134 Stehordnern erreicht hätten.
51. Während des gesamten Verfahrens habe gegen den Beschwerdeführer der Verdacht der Begehung schwerer Straftaten fortbestanden. Der gegen den Beschwerdeführer erlassene Haftbefehl sei mehrmals neu gefasst und an die aktuellen Ermittlungsergebnisse angepasst worden. Die Regierung betonte, dass die Staatsanwaltschaft Istanbul seit April 1997 nach dem Beschwerdeführer gefahndet habe. Dementsprechend seien die Ermittlungen geprägt gewesen durch eine umfangreiche Auslandskorrespondenz sowie die Notwendigkeit, die Ergebnisse im Ausland geführter Ermittlungen abzuwarten und zu übersetzen. Der am 27. Mai 2008 erlassene Haftbefehl habe sich auf außergewöhnlich umfangreiches schriftliches Beweismaterial über die Aktivitäten der terroristischen Organisation gestützt, dass von den niederländischen und türkischen Behörden bereitgestellt worden sei. Die Gründe für die Haft des Beschwerdeführers seien von den innerstaatlichen Gerichten regelmäßig überprüft worden, sowohl vor als auch nach der Anklageerhebung.
52. Darüber hinaus habe während des gesamten Verfahrens Haft- und Verdunkelungsgefahr bestanden.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
53. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei einer in erster Instanz verurteilten Person nicht von einer Freiheitsentziehung „zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde wegen des begründeten Verdachts, eine Straftat begangen zu haben“ gemäß Artikel 5 Abs. 3 ausgegangen werden kann (siehe u.v.a. Kudła ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 30210/96, Rdnr. 104, ECHR 2000‑XI). Dementsprechend umfasste der maßgebliche Zeitraum zwei voneinander getrennte Zeiträume. Der erste begann am 8. April 2007, als der Beschwerdeführer in Haft genommen wurde, und endete am 27. September 2011, als das Oberlandesgericht Düsseldorf den Beschwerdeführer in erster Instanz verurteilte; der zweite begann am 29. November 2012, als der Bundesgerichtshof die Verurteilung des Beschwerdeführers aufhob, und endete am 4. Februar 2014, als der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen wurde. Der Gesamtzeitraum betrug daher fünf Jahre und acht Monate.
54. Die Frage, ob die Dauer einer Haft angemessen ist, kann nicht abstrakt beurteilt werden (W. ./. Schweiz, 26. Januar 1993, Rdnr. 30, Serie A Band 254‑A). Ob es angemessen ist, dass ein Angeklagter in Haft bleibt, muss im Einzelfall anhand der Besonderheiten des Falles geprüft werden. Im konkreten Fall kann die Fortdauer der Haft nur dann gerechtfertigt sein, wenn bestimmte Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie im öffentlichen Interesse wirklich notwendig ist, und dieses öffentliche Interesse den Grundsatz der Achtung der Freiheit der Person auch angesichts der Unschuldsvermutung überwiegt (siehe u. a. W., a.a.O., Rdnr. 30; Labita ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26772/95, Rdnr. 152, ECHR 2000‑IV; C. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65655/01, Rdnr. 35, ECHR 2006‑XII; und Tinner ./. Schweiz, Individualbeschwerden Nrn. 59301/08 und 8439/09, Rdnr. 49, 26. April 2011).
55. In erster Linie ist es Sache der innerstaatlichen Justizbehörden, alle Umstände, die für oder gegen das Vorliegen einer solchen Notwendigkeit sprechen, zu prüfen und in ihren Entscheidungen über die Haftprüfungsanträge darzulegen. Der Gerichtshof ist aufgefordert, die Frage, ob Artikel 5 Abs. 3 verletzt ist, im Wesentlichen auf der Grundlage der in diesen Entscheidungen aufgeführten Gründe und des wahren Sachverhalts, wie ihn der Beschwerdeführer in seinen Anträgen dargelegt hat, zu entscheiden (siehe W., a.a.O., Rdnr. 30).
56. Das Fortbestehen des begründeten Verdachts, dass die inhaftierte Person eine Straftat begangen hat, ist eine „conditio sine qua non“ fürdie Rechtmäßigkeit der Haftdauer, reicht jedoch nach einer gewissen Zeit nicht mehr aus. In solchen Fällen muss der Gerichtshof feststellen, ob die übrigen von den Justizbehörden vorgebrachten Gründe den Freiheitsentzug weiterhin gerechtfertigt haben. Waren diese Gründe „zutreffend“ und „ausreichend“, muss der Gerichtshof außerdem feststellen, ob die zuständigen nationalen Behörden bei der Durchführung des Verfahrens „besonders zügig“ vorgegangen sind (siehe u. a. Labita, a. a. O., Rdnr. 153, und D. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65745/01, Rdnr. 70, 10. November 2005).
57. Was die Gründe für die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass die zuständigen Justizbehörden drei Hauptgründe für die Nichtaufhebung des Haftbefehls vorgebracht haben, nämlich dass der Beschwerdeführer weiterhin dringend verdächtig sei, die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen zu haben, dass es sich um schwere Straftatenhandele, und dass Fluchtgefahrbestehe.
58. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte entsprechend den Ergebnissen der Beweisaufnahme eine Anpassung der Haftgründe vorgenommen haben. Ab 17. Mai 2010 hat das Oberlandesgericht den Haftbefehl auf die mutmaßliche Anordnung des Anschlagsbeschränkt, bei dem in Istanbul zwei Polizisten getötet wurden. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das Bestehen eines hinreichenden Verdachts voraussetzt, dass Tatsachen oder Informationen vorliegen, die einen objektiven Betrachter davon überzeugen würden, dass die betroffene Person eine Straftat begangen haben könnte (siehe Labita, a.a.O., Rdnr. 155).
59. In der vorliegenden Rechtssache stützten sich die Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer im Wesentlichen auf die Aussagen des Zeugen S. G., der angegeben hatte, ein anderer Zeuge (G. G.) habe ihm mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer den im Jahr 1993 verübten Anschlagangeordnet habe, bei dem zwei Polizisten getötet wurden. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Glaubwürdigkeit des S. G. in Frage gestellt werden könnte, weil dieser ein Zeuge vom Hörensagen sei und wegen seiner Kooperation mit den türkischen Strafverfolgungsbehörden von einer milderen Strafe profitiert habe. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass er in früheren Rechtssachen bereits die Auffassung vertreten hat, dass der manchmal zweideutige Charakter von Aussagen sogenannter „pentiti“ sowie die Gefahr, dass eine Person aufgrund unbestätigter und nicht notwendigerweise uneigennütziger Vorwürfe beschuldigt und festgenommen werden könnte, nicht unterschätzt werden dürfen (vgl. Labita, a.a.O., Rdnr. 157). Zur Rechtfertigung der Fortdauer von Untersuchungshaft müssen solche Aussagen daher durch andere Beweismittel gestützt werden (siehe Labita, a.a.O., Rdnr. 158). In der vorliegenden Rechtssache wurde die von S. G. gemachte Aussage durch schriftliche Beweismittel, nach denen der Beschwerdeführer zum Mitglied des Zentralkomitees der terroristischen VereinigungX. gewählt worden war, sowie durch Aussagen von Zeugen gestützt, die bestätigt hatten, dass der Beschwerdeführer zur fraglichen Zeit in der terroristischen Organisation eine führende Rolle innehatte. Im Gegensatz zur Rechtssache Labita kann daher nicht festgestellt werden, dass sich das Oberlandesgericht ausschließlich auf die Aussagen eines Zeugen stützte, der für seine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden belohnt worden war. Im Lichte dieser Erwägungen räumt der Gerichtshof ein, dass während des gesamten Verfahrens ein begründeter Verdacht gegen den Beschwerdeführer bestand.
60. Der Gerichtshof erkennt weiter an, dass bei dem Beschwerdeführer durchgehend Fluchtgefahr bestand, da er über keinen festen Wohnsitz in Deutschland und über keine hinreichenden sozialen Bindungen zur Sicherstellung seines Erscheinen vor dem Strafgericht verfügte, da ein anderer Senat des Oberlandesgerichts seine Auslieferung an die Türkei genehmigt hatte und da ein Anführer einer terroristischen Organisation nach Geheimdienstinformationen angeordnet hatte, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung unverzüglich außer Landes gebracht werden solle. Folglich gab es für die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers zutreffende und hinreichende Gründe.
61. Es bleibt zu klären, ob die Justizbehörden bei der Durchführung des Verfahrens „besonders zügig“ vorgegangen sind. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die vorliegende Rechtssache schwere Straftaten betrifft, unter anderem zweifachen Mord, begangen im Kontext terroristischer Anschläge in der Türkei. Der Gerichtshof hat bereits in früheren Entscheidungen eingeräumt, dass Staaten, die Straftaten auf internationaler Ebene bekämpfen, mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein können (siehe C., a.a.O., Rdnr. 37; und Tinner, a.a.O., Rdnr. 62). Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Beschwerdeführer nicht bestritt, dass die Gesamtdauer des Strafverfahrens und folglich seiner Untersuchungshaft in erster Linie durch die mit der Beweiserhebung mittels Rechtshilfeersuchen verbundenen Schwierigkeiten verursacht wurde. Darüber hinaus trug der Beschwerdeführer zur Dauer des Verfahrens bei, indem er die Wiedereröffnung der Beweisaufnahme vor dem Oberlandesgericht beantragte. Es stand dem Beschwerdeführer zwar frei, von seinen Verfahrensrechten Gebrauch zu machen, jedoch können sich daraus ergebene Verfahrensverzögerungen nicht dem Staat angelastet werden (siehe K. ./. Deutschland, 28. Juni 1978, Rdnr. 103, Band A Nr. 27). Die Tatsache, dass das erstinstanzliche Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 21. November 2008[1]durch den Bundesgerichtshof aufgehoben wurde, ist nicht Ausdruck mangelnder Sorgfalt, da diese Entscheidung nicht auf einem offensichtlichen Verfahrensfehler des erkennenden Gerichts beruhte, sondern auf einer abweichendenBewertung der Beweise.
62. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Beschwerdeführer dem Vorbringen der Regierung, das Oberlandesgericht habe die Erledigung mehrerer Rechtshilfeersuchen abwarten müssen, bevor es mit der Prüfung der Rechtssache habe fortfahren können, nicht entgegengetreten ist. Daraus folgt, dass die Hauptverhandlungstermine vor dem Oberlandesgericht nicht in kürzeren Zeitabständen stattfinden konnten. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass aufgrund der Schwierigkeiten, die mit dem Sammeln von Beweisen in verschiedenen Ländern verbunden sind, bei Strafverfahren im Rahmen der internationalen Anti-Terror-Gesetzgebung Verzögerungen unvermeidlich sind. Dennoch ist eine aktive Vorgehensweise erforderlich, um das Verfahren so weit wie möglich zu beschleunigen. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht vier Mal in die Türkei gereist ist, um an der Erledigung von Rechtshilfeersuchen mitzuwirken. Daher kann nicht gesagt werden, dass die Gerichte den Grundsatz der besonderen Zügigkeit in diesem Zusammenhang nicht beachtet hätten.
63. In Anbetracht der obigen Erwägungen und auf der Grundlage des gesamten ihm vorliegenden Materials kann der Gerichtshof in dem Verfahren keine Zeiträume der Untätigkeit erkennen, ausgenommen die, die auf die Notwendigkeit zurückzuführen sind, Beweise mittels Rechtshilfeersuchen zu sammeln.
64. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers wiederholt einer Überprüfung unterlag. Bei jeder Entscheidung über die Verlängerung der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers prüften das Oberlandesgericht Düsseldorf und der Bundesgerichtshof im Lichte aller den Gerichten zur Verfügung stehenden Beweismittel die Haftgründe sorgfältig. Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das Oberlandesgericht am 4. Februar 2014 beschloss, den Beschwerdeführer aus der Untersuchungshaft zu entlassen, da es sich nicht in der Lage sah, das Verfahren so zu beschleunigen, wie es in Anbetracht der Gesamtdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers notwendig wäre; hierbei berief es sich ausdrücklich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In dieser Hinsicht lässt sich die vorliegende Individualbeschwerde von anderen Fällen unterscheiden, in denen der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Dauer der Untersuchungshaft sich nicht durch die Komplexität des Verfahrens rechtfertigen ließ (E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 38321/97, Rdnr. 46, ECHR 2001-VII (nur im französischen Original), bzw. in denen die innerstaatlichen Gerichte das Strafverfahren nicht mit besonderer Zügigkeit führten (Č. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 49746/99, Rdnr. 55, 29. Juli 2004), und in denen die Beschwerdeführer nicht vor dem Abschluss des Strafverfahrens aus der Untersuchungshaft entlassen wurden.
65. In Anbetracht dieser Faktoren und insbesondere der gründlichen Prüfung der Haftgründe durch die innerstaatlichen Gerichte stellt der Gerichtshof fest, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers, obwohl beträchtlich, immer noch als angemessen angesehen werden kann.
66. Folglich ist Artikel 5 Abs. 3 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge wegen der Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 5 Abs. 3 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 6. November 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
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[1] Anmerkung: Datum müsste eigentlich lauten: 27. September 2011
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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