EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 546/10
A.
./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 2. Dezember 2014 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern
Bostjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger,
Vincent A. de Gaetano,
sowie Stephen Phillips, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 21. Dezember 2009 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, A., ist nigerianischer Staatsangehöriger und in D. wohnhaft.
A. Die Umstände des Falls
2. Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Der Hintergrund der Rechtssache
3. Im Dezember 2004 ging der Beschwerdeführer eine Beziehung mit Frau C. („die Mutter“) ein, die schwanger wurde.
4. Im April 2005 trat der Beschwerdeführer eine Haftstrafe an. Während er sich in Haft befand, ging die Mutter eine Beziehung mit Herrn O. ein.
5. Am 20. Dezember 2005 brachte die Mutter einen Sohn zur Welt („das Kind“). Der Beschwerdeführer und die Mutter gehen davon aus, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater ist.
6. Am 27. März 2006 erkannte O. mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft für das Kind notariell an. Er lebt in einem Asylbewerberheim und verbringt etwa zwei Wochen im Monat mit der Mutter und dem Kind in Dresden.
2. Das Vaterschaftsverfahren
7. Der Beschwerdeführer reichte beim Amtsgericht Dresden Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft ein. Die Mutter und O. erwiderten, der Beschwerdeführer könne die Vaterschaft nicht anfechten, weil O. mit dem Kind seit längerer Zeit in häuslicher Gemeinschaft lebe und tatsächlich Verantwortung für das Kind trage.
8. Am 18. Juni 2007 wies das Amtsgericht Dresden die Klage des Beschwerdeführers ab.
9. Am 15. Mai 2008 wies das Oberlandesgericht Dresden die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es stellte fest, eine Klage zur Anfechtung von O.s Vaterschaft durch den Beschwerdeführer nach § 1600 BGB (siehe Das Einschlägige innerstaatliche Recht) sei unzulässig, weil in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgelegten Anforderungen eine sozial-familiäre Beziehung zwischen O. und dem Kind bestehe.
10. Das Oberlandesgericht wendete § 1600 Abs. 3 Satz 2 BGB nicht an, weil es feststellte, dass O. mit dem Kind nicht in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebe. O. sei nach dem Zuwanderungsrecht verpflichtet, seinen ständigen Aufenthaltsort in einem Asybewerberheim außerhalb Dresdens zu haben. Dennoch stellte das Oberlandesgericht durch Zeugenvernehmungen und anhand eines Berichts des Jugendamts Dresden fest, dass O., der Mutter und Kind durchschnittlich 14 Tage im Monat besuche, tatsächlich Verantwortung für das Kind von dessen Geburt an übernommen habe. Das Oberlandesgericht gelangte zu dem Schluss, dass zwischen O. und dem Kind eine echte sozial-familiäre Beziehung bestehe.
11. Am 26. November 2008 lehnte es der Bundesgerichtshof ab, dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe für seine Nichtzulassungsbeschwerde zu bewilligen, da diese keine ausreichende Erfolgsaussicht habe. Der Beschwerdeführer war daher nicht, wie durch das innerstaatliche Recht vorgeschrieben, durch einen Rechtsanwalt vertreten.
12. Folglich wies der Bundesgerichtshof am 14. Januar 2009 die Nichtzulassungsbeschwerde wegen mangelnder Begründung zurück.
13. Am 30. Juni 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1063/09) des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 7. Juli 2009 zugestellt.
3. Das Strafverfahren
14. Am 26. Mai 2005 verurteilte das Amtsgericht Dresden den Beschwerdeführer zu drei Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe. Bei seiner Entlassung ordnete das Landgericht Dresden Führungsaufsicht für die Dauer von drei Jahren an.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
15. Eine zusammenfassende Darstellung des einschlägigen innerstaatlichen und vergleichenden Rechts ist insbesondere dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 23338/09, Rdnrn. 32-39, 22. März 2012) zu entnehmen.
16. Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommenen Bestimmungen sehen Folgendes vor: Nach § 1592 BGB ist (rechtlicher) Vater eines Kindes entweder der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1), oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat (Nr. 2), oder dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3). § 1600d Abs. 1 BGB sieht vor, dass die Vaterschaft gerichtlich festzustellen ist, wenn keine Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 und 2 BGB besteht.
17. Nach § 1600 Abs. 1 BGB sind zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt: der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nrn. 1 und 2 besteht, die Mutter, das Kind und der Mann, der an Eides Statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Nach § 1600 Abs. 2 BGB kann der leibliche Vater die Vaterschaft desjenigen Mannes, der nach § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB der rechtliche Vater des Kindes ist, jedoch nur anfechten, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht.Von einer sozial-familiären Beziehung wird ausgegangen, wenn der rechtliche Vater zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat (§ 1600 Abs. 3 Satz 1). Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist in der Regel anzunehmen, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§ 1600 Abs. 3 Satz 2).
RÜGEN
18. Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 8 und 14 der Konvention die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, ihm zu ermöglichen, O.s rechtliche Vaterschaft anzufechten und seine eigene Vaterschaft feststellen zu lassen, wodurch sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt und er diskriminiert worden sei.
19. Des Weiteren rügte er seine Inhaftierung und die von den Strafgerichten angeordnete Führungsaufsicht.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention
20. Der Beschwerdeführer rügt, dass die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, ihm die Anfechtung der Vaterschaft von O. zu ermöglichen, sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention verletze, der wie folgt lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
21. In Anbetracht seiner Rechtsprechung (siehe insbesondere K., a. a. O., Rdnr. 63; und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 45067/09, Rdnr. 60, 22. März 2012) vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass die Entscheidung, den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung seiner Vaterschaft für das Kind zurückzuweisen, einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens darstellte.
22. Bei der Entscheidung darüber, ob dieser Eingriff im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, erinnert der Gerichtshof an Folgendes:
23. Artikel 8 kann dahingehend ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zu prüfen, ob es dem Kindeswohl dient, dem biologischen Vater den Aufbau einer Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, insbesondere durch die Gewährung eines Umgangsrechts (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20578/07, Rdnrn. 67-73, 21. Dezember 2010; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17080/07, Rdnrn. 95-105, 15. September 2011; und K., a. a. O., Rdnr. 76). Dies bedeutet gegebenenfalls die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft in einem Umgangsverfahren, wenn unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgegangen wird, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen leiblichen Vater – angenommen, dass er tatsächlich der biologische Vater des Kindes ist – und dem Kind dem Kindeswohl dienen würde (siehe S., a. a. O., Rdnr. 103; und K., a. a. O., Rdnr. 76).
24. Allerdings hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass sich daraus keine konventionsrechtliche Pflicht ergibt, dem mutmaßlichen leiblichen Vater zu gestatten, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine separate Klage im Hinblick auf die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft zuzulassen (siehe K., a. a. O., Rdnr. 77; und A., a. a. O., Rdnr. 74). Mit Blick insbesondere auf den fehlenden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten und auf den größeren Ermessensspielraum, der den Staaten in Angelegenheiten einzuräumen ist, die die rechtliche Stellung betreffen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidung, ob dem feststehenden oder mutmaßlichen leiblichen Vater die Vaterschaftsanfechtung zu gestatten war, unter den Umständen der Rechtssachen A. und K. in den staatlichen Ermessensspielraum fiel (siehe A. und K., beide a. a. O., Rdnr. 75 bzw. 78; und K. ./. Deutschland [Ausschuss] (Entsch.),Individualbeschwerde Nr. 11858/10, 11. Dezember 2012 und H. ./. Deutschland [Ausschuss] (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 26610/09, 5. November 2013).
25. Der Gerichtshof kann keine Merkmale erkennen, die nahelegen würden, dass sich der vorliegende Fall anders darstellt als die letztgenannten Rechtssachen. Die Tatsache, dass O. nicht dauerhaft mit dem Kind zusammengelebt hat, verlangt keine andere Schlussfolgerung. Die innerstaatlichen Gerichte haben den Fall sorgfältig geprüft und festgestellt, dass O. tatsächlich Verantwortung für das Kind von dessen Geburt an übernommen und die Beziehung durch regelmäßige, längere Besuche aufrechterhalten hat. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist gut begründet und hat mit der Vernehmung mehrerer Zeugen und einem Bericht des Jugendamts, die sämtlich bestätigen, dass sich zwischen O. und dem Kind eine enge Beziehung entwickelt hat, eine Tatsachengrundlage (vgl. und im Gegensatz dazu Różański ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 55539/00, 18. Mai 2006, Rdnr. 79). Der Beschwerdeführer macht weder Mängel bei der Beweisaufnahme geltend, noch rügt er die getroffenen Feststellungen. Die innerstaatlichen Gerichte konnten somit vernünftigerweise annehmen, dass eine sozial-fämiliäre Beziehung bestand.
26. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
B. Behauptete Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention
27. Der Beschwerdeführer beruft sich ferner auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention. Angesichts seiner vorstehenden Feststellungen und seiner Feststellungen in vergleichbaren Rechtssachen (siehe insbesondere K., a. a. O., Rdnrn. 90-92; und A., a. a. O., Rdnrn. 88-90) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung, der bestehenden familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang vor der Beziehung zu dem mutmaßlichen biologischen Vater einzuräumen, in den Ermessensspielraum des Staates fällt, soweit die rechtliche Stellung betroffen ist. Der Beschwerdeführer wurde somit im Vergleich zu Personen in ähnlichen Situationen nicht ohne sachliche und vernünftige Gründe unterschiedlich behandelt.
28. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
C. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers
29. Soweit der Beschwerdeführer seine Inhaftierung und anschließende Führungsaufsicht rügt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer weder gegen das Urteil des Amtsgerichts Revision vor dem Bundesgerichtshof eingelegt, noch die Anordnung der Führungsaufsicht angefochten hat.
30. Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde für unzulässig.
Stephen Phillips Boštjan M. Zupančič
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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