KIESER und TRALAU-KLEINERT GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 18748/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 18748/10
K. und T.
./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 2. Dezember 2014 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
André Potocki,
Helena Jäderblom,

sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 1. April 2010 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die 19.. bzw. 19.. geborenen Beschwerdeführer, K. und T., sind deutsche Staatsangehörige und in K. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurden sie von Herrn R., Rechtsanwalt in K., vertreten.

2. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

A. Die Umstände des Falls

3. Die in Köln eingetragene Verlagsgesellschaft D. veröffentlicht Tageszeitungen, darunter X.,Y. und Z. Aufsichtsratsvorsitzender der Verlagsgesellschaft ist Herr A. D., der Sohn von Herrn K. D. und Frau G. D., die 1968 bzw. 1978 verstarben.

4. Im Februar 2006 veröffentlichten die Beschwerdeführer, die als Journalisten für das Online-Magazin Neue Rheinische Zeitung tätig sind, einen Artikel über die sogenannten „Arisierungsprofite“, die von Deutschen während der Nazi-Herrschaft gemacht wurden, und die Rolle, die die Familie D. dabei spielte. Der etwa sechs Seiten sowie Fotos umfassende Artikel mit dem Titel „Enthüllungen über die Verlegerfamilie D. in der Nazi-Zeit: Kein „Widerstand“, sondern Arisierungs-Profite“ enthielt u. a. folgende Passagen:

„Die Verlegerfamilie D., die sich seit Jahren immer mal wieder […] als Nazi-Verfolgte und Widerstandskämpfer darstellen lässt, profitierte von Arisierungen […].“

„In der Kölner Volkshochschule fand am vergangenen Freitag ein Kongress zum Thema „Arisierung“ statt. Dort säte der Journalist und Historiker N. Zweifel. N., der keinen Zugang zu Finanzamtsakten hatte, zitierte in seinem Vortrag aus der Entnazifierungsakte von K. D., Herausgeber der „K.“ in der Nazi-Zeit und Vater des jetzigen Herausgebers A. D.. Darin bekennt der damalige Verleger die Aneignung eines Grundstücks im Jahre 1941, das sich in jüdischem Eigentum befunden hatte […].“

„Tatsächlich ist die Familie D. 1941 auch in den Besitz von drei Häusern in der Breite Straße gelangt […]. Bis 1941 gehörten die drei Häuser respektive die Grundstücke noch dem jüdischen Wäschereibesitzer F. B. und seiner Frau S.. Sie waren 1939 aus Deutschland geflohen, ihr Vermögen beschlagnahmte der NS-Staat. Als Zwischenkäufer der drei Immobilien trat der G.-Konzern auf, für 6 Wochen. Dann kaufte G. D., Gattin von K. D., die Häuser. Für welchen Betrag, ist nicht bekannt. […]“

„Bereits im Januar 1938 hatte sich der Verlag über seine Versorgungskasse – so N. Recherchen weiter – ein Haus des Kaufmanns L. an der Luxemburger Straße gegriffen. L. war von den Nazis der „Rassenschande“ verdächtigt worden und wenig später gestorben.

In den 50er Jahren einigte sich das Verlagshaus D. mit der Witwe B. außergerichtlich auf eine Entschädigung. Dadurch blieb die Höhe des Betrages bislang unbekannt. Das gleiche gilt für die Töchter von L..“

5. Diese Teile des Artikels beziehen sich auf die folgenden drei Grundstückskäufe:

6. 1938 erwarb eine in Köln ansässige Versicherungsgesellschaft, die als Versorgungskasse des Unternehmens D. fungierte, ein Grundstück in der Luxemburger Straße 301 in Köln, und zwar von Herrn L., einem deutschen Juden, der verfolgt wurde und kurze Zeit später verstarb. 1951 verzichteten die Rechtsnachfolger von Herrn L. auf sämtliche Rückübertragungsansprüche, nachdem sie zunächst solche Ansprüche geltend gemacht hatten.

7. Der Entnazifizierungsakte von Herrn K. D. zufolge erwarb Frau G. D. 1941 ein Grundstück in der Leyboldstraße in Köln, das Herrn O. gehörte. Herr O. war ein deutscher Jude, der 1937 emigriert war. Daher wurde sein Eigentum von einem Verwalter liquidiert. 1949 erzielten Frau D. und Herr O. (inzwischen O.) eine Einigung bezüglich des strukturellen Zustands des Grundstücks im Jahre 1941 (Preis, Größe, Wert und Bebauung) sowie bezüglich etwaiger Rückübertragungsansprüche. In dieser Einigung wurde erklärt, dass das Grundstück im Wesentlichen bis auf die Kellerwände und Betonfundamente unerschlossen sei.

8. Darüber hinaus erwarb Frau G. D. 1941 Grundstücke in der Breite Straße in Köln zu einem Preis von 255.000 Reichsmark. Verkäufer war der G.-Konzern, der die Grundstücke drei Jahre zuvor für 46.000 Reichsmark ersteigert hatte. Früherer Eigentümer der Grundstücke war ein Unternehmen, das einem jüdischen Ehepaar gehörte, das 1939 aus Deutschland geflohen war.

9. Nach der Veröffentlichung des Artikels klagte der Aufsichtsratsvorsitzende des Verlagshauses, Herr A. D., vor dem Landgericht Köln und stellte einen Antrag auf Erlass einer Unterlassungsverfügung[1], in dem er die Teile des Artikels, die er als unwahr erachtete, genau bezeichnete.

10. Das Landgericht Köln[2] und im Anschluss das Oberlandesgericht Köln[3] erließen eine einstweilige Verfügung und ordneten an, dass die Beschwerdeführer die Verbreitung bestimmter Teile des Artikels zu unterlassen hätten.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Das Urteil des Landgerichts Köln

11. Am 19. September 2007 verbot das Landgericht Köln[4] insbesondere die weitere Verbreitung der folgenden Passagen des veröffentlichen Artikels unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000 € für jeden Fall der Zuwiderhandlung (strafbewehrte Unterlassungserklärung) nach § 1004 Abs. 1 und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 186 StGB im Lichte des Schutzes des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (siehe Rdnrn. 23 f.):

Es wurde ihnen untersagt, den Eindruck zu erwecken, die Familie des Verfügungsklägers habe sich in der Nazi-Zeit unrechtmäßig an fremdem Vermögen bereichert, insbesondere durch Äußerungen wie beispielsweise, die Familie D. habe beim Erwerb der Grundstücke in der Leyboldstr. 19, Breite Straße 82, 86, 88 und Luxemburger Straße 301 „Arisierungsprofite“ gemacht.

12. Nach Auffassung des Landgerichts stellten die betreffenden Passagen des in Rede stehenden Artikels einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Herrn D. auf den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte dar. Die angegriffenen Äußerungen seien als Tatsachenbehauptungen einzustufen. Von einer Tatsachenbehauptung sei auszugehen, wenn eine Passage eines Artikels oder der gesamte Artikel den Leser dazu veranlassten, daraus eine zwingende Schlussfolgerung zu ziehen. Nach Ansicht des Landgerichts enthalte der in Rede stehende Artikel in erster Linie Tatsachenbehauptungen, denn der im Zusammenhang mit dem Erwerb von Grundstücken verwendete Begriff „Arisierungsprofite“ lasse den Eindruck entstehen, die Familie D. habe sich in der Nazi-Zeit unrechtmäßig an fremdem Vermögen bereichert, indem sie die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung ausgenutzt habe. Der Wahrheitsgehalt dieser Äußerung könne bewiesen werden. Das Landgericht Köln stellte fest, dass angesichts der Tatsache, dass es sich bei der angegriffenen Äußerung um eine Tatsachenbehauptung und nicht um ein Werturteil handele, die Beweislast hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Äußerung bei den Beschwerdeführern liege. Jedoch hätten die Beschwerdeführer den Wahrheitsgehalt der Behauptungen nicht bewiesen.

13. Insbesondere was das Grundstück in der Leyboldstraße angehe, sei die bloße Behauptung, dass der Kaufpreis unterhalb des Verkehrswerts gelegen habe, unzureichend, denn dies sei eine allgemeine Annahme aufgrund der zu jener Zeit herrschenden politischen Situation in Deutschland und aufgrund der Tatsache, dass deutsche Juden verfolgt und enteignet worden seien. Die Äußerung der Beschwerdeführer, dass es sich bei dem Grundstück um ein bebautes Gelände gehandelt habe, stehe im Widerspruch zu den Äußerungen des Klägers, Herrn D., und den von ihm beigebrachten Beweisen. Seinen Ausführungen zufolge sei ein altes Gebäude 1937 abgerissen worden und in einer späteren Vereinbarung zwischen Frau D. und Herrn O. sei ausdrücklich erklärt worden, dass das Grundstück 1941, abgesehen von einem Betonfundament und Kellerwänden, nicht erschlossen gewesen sei. Folglich sei der Verweis der Beschwerdeführer auf ein Kölner Adressbuch („Grevens Adressbuch“) als Beweis unpräzise und daher unzureichend.

14. Hinsichtlich der Grundstücke in der Breite Straße in Köln stellte das Landgericht Köln fest, die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, dass die Familie D. die Zwangslage der Juden ausgenutzt hätten, und zwar erstens, weil die Familie D. das Grundstück etwa drei Jahre, nachdem der G.-Konzern es für 46.000 Reichsmark ersteigert hatte, erworben habe und zweitens, weil der von der Familie D. bezahlte Preis den Versteigerungspreis um 209.000 Reichsmark überstiegen habe. Da dieser Erwerb nicht auf eine eindeutige Ausnutzung der Zwangslage der Juden hindeute, seien die Äußerungen als unrichtig einzustufen. Soweit die Beschwerdeführer zum Beweis dieser Behauptung eine eidesstattliche Erklärung des Historikers N. vorlegten, bestehe angesichts dieser Feststellung keine Notwendigkeit, die von den Beschwerdeführern beigebrachten Beweismittel weiter zu verfolgen.

15. Hinsichtlich des Grundstücks in der Luxemburger Straße stellte das Landgericht Köln fest, die Familie D. habe keinen Profit erzielt, denn das Grundstück sei nicht von der Familie D. erworben worden, sondern von einer rechtlich selbständigen Versicherungsgesellschaft, die in Köln ansässig gewesen sei und als Versorgungskasse des Unternehmens D. fungiert habe. Darüber hinaus seien etwa zur gleichen Zeit andere, mit dem in der Luxemburger Straße vergleichbare Grundstücke zu ähnlichen Preisen verkauft worden.

16. Das Landgericht Köln gelangte daher zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführer den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen nicht bewiesen hätten, weil entweder die Familie keine Profite erzielt habe oder die von den Beschwerdeführern beigebrachten Beweismittel nicht ausreichend gewesen seien. Soweit die Beschwerdeführer argumentierten, der Begriff „Arisierung“ sei als Werturteil einzustufen, war das Gericht der Auffassung, dass selbst wenn der Begriff als Werturteil eingestuft werde, er dennoch mehrdeutig sei. Die Zulässigkeit mehrdeutiger Begriffe müsse auf der Grundlage der Interpretation geprüft werden, die den schwerwiegendsten Eingriff zur Folge habe. Vor diesem Hintergrund seien die Äußerungen als unwahr anzusehen und fielen somit nicht unter den Schutz der freien Meinungsäußerung. Darüber hinaus habe kein berechtigtes Interesse an der Veröffentlichung der Äußerungen bestanden. Zwar könne auch die Veröffentlichung unwahrer Tatsachenbehauptungen gerechtfertigt sein. Dies sei allerdings nur der Fall, wenn der Verbreiter sich vor der Veröffentlichung hinreichend um eine Sachverhaltsaufklärung bemüht habe und etwa offen bleibende Ungewissheiten hinsichtlich des tatsächlichen Geschehens deutlich erkennen lasse. In der vorliegenden Rechtssache hätten die Beschwerdeführer die Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung nicht einmal ansatzweise erschöpft und der Artikel sei von einer ausgewogenen Berichterstattung, die auch etwaige Zweifel an der Richtigkeit der Äußerungen erkennen ließe, weit entfernt.

17. Soweit der Kläger ein Verbot anderer Teile des Artikels begehrte, ließ das Landgericht Köln einen Teil der Klage zu. In Bezug auf andere Teile gaben die Beschwerdeführer eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab.

2. Das Urteil des Oberlandesgerichts Köln

18. Am 21. September 2008 wies das Oberlandesgericht Köln[5] die Berufung der Beschwerdeführer gegen das Urteil zurück und ließ die Revision nicht zu. Es schloss sich der Begründung des Landgerichts an. Es bestätigte ausdrücklich die Feststellung des Landgerichts, dass die Äußerungen als Tatsachenbehauptungen einzustufen seien, da sie objektiv überprüfbar und nachweisbar seien. Selbst wenn die Äußerungen zum Teil Werturteile enthielten, gründeten sich diese auf dokumentierte Ereignisse wie die Entnazifizierungsakte von Herrn K. D., Adressbücher oder Akten der zuständigen Steuerbehörde. Da vor allem mit diesen Dokumenten die Schlussfolgerung bewiesen werden sollte, dass die Familie D. an Arisierungsprofiten beteiligt gewesen sei, habe der Schwerpunkt der Äußerungen nicht auf einer Meinungsäußerung, sondern auf einer Tatsachenbehauptung gelegen.

3. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs

19. Am 3. Februar 2009 wies der Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin ohne weitere Begründung zurück.

4. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

20. Am 4. März 2009 erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Die Beschwerdeführer machten eine Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung geltend, soweit ihnen das Landgericht Köln und das Oberlandesgericht Köln untersagt hatte,
den Eindruck zu erwecken, die Familie des Klägers habe sich in der Nazi-Zeit an fremdem Eigentum bereichert, insbesondere durch Äußerungen wie „die Familie des Verfügungsklägers habe im Zusammenhang mit
dem Erwerb der Grundstücke Leyboldstraße 19, Breite Straße 82, 86, 88
sowie Luxemburger Straße 301 „Arisierungsprofite gemacht bzw. von
„Arisierungen profitiert“. Die Beschwerdeführer behaupteten, das Landgericht Köln und das Oberlandesgericht Köln hätten nicht klargestellt, ob diese Passagen des in Rede stehenden Artikels als Tatsachenbehauptungen oder als Werturteile einzuordnen seien. Die Einordnung als „mehrdeutige Äußerungen“ sei eine Vereinfachung, die im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht stehe.

21. Am 24. September 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen.

C. Das einschlägige innerstaatliche Recht

22. Der der einstweiligen Verfügung zugrunde liegende Anspruch gründete sich auf eine analoge Anwendung von § 823 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 1004 Abs. 1 BGB i. V. m. § 186 StGB. Nach der ständigen Rechtsprechung der deutschen Gerichte kann eine Person, deren Persönlichkeitsrechte durch eine andere Person gefährdet sind, aus diesen Vorschriften unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen einen Anspruch gegen diese Person geltend machen.

RÜGE

23. Die Beschwerdeführer rügten unter Berufung auf Artikel 10 Abs. 1 der Konvention, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, mit denen ihnen untersagt wurde, Äußerungen zu veröffentlichen, wonach sich die Familie D. in der Nazi-Zeit an fremdem Eigentum bereichert habe, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt hätten.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

24. Die Beschwerdeführer behaupteten, die innerstaatlichen Gerichte hätten, indem sie ihnen untersagten, den Eindruck zu erwecken, die Familie D. habe sich in der Nazi-Zeit unrechtmäßig an fremdem Vermögen bereichert, indem sie die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung ausgenutzt hätten, Artikel 10 der Konvention verletzt, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe […] zu empfangen und weiterzugeben.

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind … zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, …“

A. Die Argumente der Beschwerdeführer

25. Die Beschwerdeführer betonten die wichtige Rolle der Presse in einer demokratischen Gesellschaft. Sie hoben hervor, dass der Artikel hauptsächlich Werturteile enthalte und insbesondere der Begriff „Arisierungsprofite“ als Werturteil einzuordnen sei. Die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Einordnung ihrer Äußerungen zu den Grundstückskäufen der Familie D. und zur Rolle der Familie D. in der Nazi-Zeit als Tatsachenbehauptungen verletzte ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Ferner habe die Verlagsgesellschaft D. eine Art Monopolstellung in Köln inne und müsse daher ein gewisses Maß an öffentlicher Kritik ertragen.

B. Würdigung durch den Gerichtshof

26. Der Gerichtshof stellt fest, dass die in der vorliegenden Rechtssache ergangenen Gerichtsentscheidungen einen Eingriff in das nach Artikel 10 der Konvention garantierte Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung darstellen.

27. Ein solcher Eingriff verletzt die Konvention, wenn er nicht die Erfordernisse aus Artikel 10 Abs. 2 erfüllt. Daher ist noch darüber zu entscheiden, ob der Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ war, ein oder mehrere Ziele verfolgte, die nach Artikel 10 Abs. 2 rechtmäßig sind, und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, um das oder die genannten Ziele zu erreichen.

28. Der Gerichtshof weist eingangs darauf hin, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung gesetzlich vorgesehen war, und zwar nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 186 StGB, und dass er in Übereinstimmung mit § 1004 Abs. 1 BGB das legitime Ziel verfolgte, den guten Ruf oder die Rechte anderer zu schützen, nämlich die Persönlichkeitsrechte von Herrn A. D..

29. Der Gerichtshof muss ferner darüber entscheiden, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, was die Beschwerdeführer bestritten.

1. Allgemeine Grundsätze

30. Der Gerichtshof hat wiederholt die wichtige Rolle der Presse in einer demokratischen Gesellschaft betont. Zwar darf die Presse bestimmte Grenzen nicht überschreiten, insbesondere was den Schutz des Rufes und der Rechte anderer angeht, dennoch hat sie die Aufgabe, in Übereinstimmung mit ihrer Pflichten und Verantwortlichkeiten Informationen und Ideen zu allen Fragen öffentlichen Interesses weiterzugeben (Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 71, ECHR 2004‑XI).

31. Nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention ist die Meinungsfreiheit jedoch mit „Pflichten und Verantwortung“ verbunden, die auch für die Medien gelten, selbst in Bezug auf Fragen von hohem öffentlichen Belang. Diesen Pflichten und dieser Verantwortung kommt dann Bedeutung zu, wenn es darum geht, dass der Ruf einer namentlich bezeichneten Person angegriffen wird und die „Rechte anderer“ verletzt werden. Deshalb müssen besondere Gründe vorliegen, um die Medien von ihrer allgemeinen Verpflichtung, Tatsachenbehauptungen zu prüfen, mit denen Privatpersonen beleidigt werden, entbinden zu können (siehe Pedersen und Baadsgaard, a. a. O., § 78; S. AG ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 82, 7. Februar 2012).

32. Bei der Prüfung, ob eine angegriffene Äußerung gerechtfertigt ist, ist zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen zu unterscheiden. Zwar kann das Vorliegen von Tatsachen nachgewiesen werden, ein Werturteil ist jedoch keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Das Erfordernis, die Wahrheit eines Werturteils zu beweisen, ist unmöglich zu erfüllen und verletzt daher selbst die Meinungsfreiheit, die ein grundlegender Teil des durch Artikel 10 geschützten Rechts ist (siehe Pedersen und Baadsgaard, a. a. O., Rdnr. 76). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass selbst im Falle einer Äußerung, die einem Werturteil gleichkommt, die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs davon abhängen kann, ob eine hinreichende Tatsachengrundlage für die angegriffene Äußerung vorliegt, da auch ein Werturteil als überzogen angesehen werden kann, wenn es von keinerlei Tatsachen gestützt wird (siehe Jerusalem ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 43, ECHR 2001-II). Daher liegt Unterschied zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem Werturteil darin, wie hoch die Anforderungen an den zu erbringenden Tatsachenbeweis sein müssen (siehe Europapress Holding D.O.O. ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 25333/06, Rdnr. 54, 22. Oktober 2009) Bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit von Tatsachenbehauptungen ist es grundsätzlich nicht mit Artikel 10 unvereinbar, einem Beklagten in einstweiligen Verfügungsverfahren die Pflicht aufzuerlegen, den Wahrheitsgehalt der diffamierenden Äußerungen den zivilrechtlichen Anforderungen entsprechend nachzuweisen (vgl. McVicar ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 46311/99, Rdnr. 87, ECHR 2002-III, und, im Hinblick auf Verfahren wegen Beleidigung, Alithia Publishing Company Ltd und Constantinides ./. Zypern, Individualbeschwerde Nr. 17550/03, Rdnr. 68, 22. Mai 2008).

33. Auch die Art und Weise, wie Informationen erlangt wurden, und ihr Wahrheitsgehalt sind wichtige Faktoren. Ist eine Tatsachenbehauptung unwahr, muss der Gerichtshof überprüfen, ob die Nachforschungen der Journalisten vor der Veröffentlichung der unwahren Äußerung nach Treu und Glauben erfolgten und der allgemeinen journalistischen Verpflichtung entsprachen, Tatsachenbehauptungen ordnungsgemäß zu prüfen (siehe beispielsweise, Bergens Tidende u. a. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 26132/95, § 53, ECHR 2000‑IV; Selistö ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 56767/00, Rdnr. 54, 16. November 2004; Europapress Holding D.O.O., a. a. O., Rdnr. 66). Je ernster die Behauptung, desto solider sollte die Tatsachengrundlage sein (siehe Pedersen und Baadsgaard, a. a. O., Rdnr. 78 in fine, und Europapress Holding D.O.O., a. a. O., Rdnr. 66). Weitere Faktoren, die bei der Prüfung der angegriffenen Äußerungen zu berücksichtigen sind, sind die Autorität der Quelle, die Frage, ob die Zeitung vor der Veröffentlichung in angemessenem Umfang recherchiert hat, und die Frage, ob sie den diffamierten Personen Gelegenheit zur Verteidigung gegeben hat (E. S. AG ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 38059/07, 4. Mai 2010).

34. Schließlich sind bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung auch die Art und Schwere der verhängten Sanktionen zu berücksichtigen (siehe Pedersen und Baadsgaard., a. a. O., Rdnr. 93).

2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

35. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass er damit einverstanden ist, wie die innerstaatlichen Gericht die relevanten Teile des in Rede stehenden Artikels aufgefasst haben, nämlich, dass in den angegriffenen Passagen ausgesagt wurde, die Familie D. habe privates Eigentum in der Breite Straße, Luxemburger Straße und Leyboldstraßeerlangt, indem sie die Zwangslage der deutschen Juden ausgenutzt habe, und dass sie sich daher in der Nazi-Zeit unrechtmäßig bereichert habe.

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Äußerungen hauptsächlich Tatsachenbehauptungen enthielten, die dem Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Soweit diese Äußerungen auch Elemente eines Werturteils enthielten (beispielsweise durch die Wortwahl „gegriffen“ und „in den Besitz gelangt“, siehe Rdnr. 4), waren diese auf die oben genannten Tatsachenbehauptungen gestützt. Der Gerichtshof ist mit dem Ergebnis der von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommenen Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen einverstanden, weil sich sämtliche Annahmen der Beschwerdeführer auf Dokumente wie der Entnazifizierungsakte von Herrn K. D. und ein Adressbuch stützten.

37. Der Gerichtshof kann sich der Sicht der Beschwerdeführer nicht anschließen, dass der Begriff „Arisierungsprofite“ als ein auf tatsächlichen Gründen basierendes Werturteil einzuordnen sei. Die Behauptungen in der vorliegenden Rechtssache waren sehr schwerwiegend und wurden als Tatsachenbehauptungen und nicht als Werturteile dargestellt. Die Beschwerdeführer brachten nicht nur eine persönliche Meinung zum Ausdruck und kommentierten vergangene Ereignisse, sondern sie erweckten den Eindruck, sie würden der Öffentlichkeit unbekannte Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Rolle der Familie D. in der Nazi-Zeit aufdecken. Sie unterstellten eine unrechtmäßige Bereicherung und beriefen sich zum Beweis auf die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Studien des Historikers N.. Der Begriff „Arisierungsprofite“ war daher im Kern eine Tatsachenbehauptung und nicht, wie die Beschwerdeführer behaupten, ein Werturteil.

38. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die in Rede stehenden Äußerungen als unwahr betrachtete, weil die Beschwerdeführer keine hinreichenden Beweise vorgelegt hätten.

39. Hinsichtlich des Grundstücks in der Leyboldstraße führten die Gerichte aus, die alleinige Behauptung der Beschwerdefüher, dass der Kaufpreis unterhalb des Verkehrswerts gelegen habe, sei unzureichend. Der Gerichtshof nimmt die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, dies sei eine allgemeine Annahme aufgrund der zu jener Zeit herrschenden politischen Situation in Deutschland und aufgrund der Tatsache, dass deutsche Juden verfolgt und enteignet worden seien. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer insoweit keine verlässlichen Informationen vorgelegt haben. Folglich haben die Beschwerdeführer ihre Äußerungen weder zu irgendeinem Zeitpunkt verifiziert, noch haben sie geltend gemacht, dass ihre Nachforschungen nach Treu und Glauben erfolgt seien.

40. Hinsichtlich der Grundstücke in der Breite Straße ist der Gerichtshof mit der Feststellung der innerstaatlichen Gerichte einverstanden, die Beschwerdeführer hätten nicht hinreichend bewiesen, dass die Familie D. einen „Profit“ gemacht habe. Angesichts des Zeitraums, der zwischen dem Kauf der Grundstücke durch den G.-Konzern und dem Kauf durch Frau D. lag, und des Umstands, dass der von Frau D. gezahlte Kaufpreis den vom G.-Konzern gezahlten Preis um 206.000 Reichsmark überstieg, war in der Tat eine angemessene Rechtfertigung der Behauptung erforderlich, die die Beschwerdeführer nicht lieferten.

41. Hinsichtlich des Grundstücks in der Luxemburger Straße nimmt der Gerichtshof die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, die Beschwerdeführer seien vor der Veröffentlichung ihren journalistischen Pflichten nicht nachgekommen. Das Grundstück in dieser Straße war nicht von der Familie D. selbst erworben worden, sondern von der rechtlich selbständigen Versicherungsgesellschaft, die als Versorgungskasse des Unternehmens D. fungierte. Darüber hinaus waren etwa zur gleichen Zeit andere, mit dem in der Luxemburger Straße vergleichbare Grundstücke zu ähnlichen Preisen verkauft worden.

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass den Beschwerdeführern Gelegenheit gegeben wurde, den Wahrheitsgehalt der veröffentlichen Informationen zu beweisen. Durch den von den innerstaatlichen Gerichten in diesem Verfahren angewendeten Beweisstandard wurde diese Aufgabe unter den gegebenen Umständen nicht unangemessen oder unmöglich (siehe im Gegensatz dazu B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 5709/09, Rdnr. 48, 17. April 2014). Daher ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte auf der nachvollziehbaren Bewertung der erheblichen Tatsachen beruhten. Die belastenden Passagen der Veröffentlichung der Beschwerdeführer entsprach somit der Verbreitung unrichtiger Informationen.

43. Die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte zeigen darüber hinaus, dass sie sorgfältig geprüft hatten, ob die Beschwerdeführer ihrer journalistischen Verpflichtung nachgekommen waren, ihre Tatsachenbehauptungen vor deren Verbreitung ordnungsgemäß zu überprüfen. Sie gelangten zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführer in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe und der Tatsache, dass es um ein politisch sensibles Thema gehe, ihre Äußerungen nicht hinreichend bewiesen hätten.

44. Im Hinblick auf die Frage, ob Gründe für eine Befreiung der Beschwerdeführer von ihrer allgemeinen Verpflichtung, die in Rede stehenden Äußerungen zu überprüfen, vorgelegen haben, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die in dem Artikel erhobenen Vorwürfe schwerwiegend waren. Der Gerichtshof betont, dass die Beschwerdeführer nicht nur die Verlässlichkeit ihrer Quelle nicht überprüft haben, was den Historiker N. angeht, sondern ihre Geschichte auch nicht in einer hinreichend ausgewogenen Art und Weise dargestellt haben. Darüber hinaus scheinen sie der Familie D. keine Gelegenheit gegeben zu haben, sich im Vorfeld zu verteidigen. Folglich lagen keine Gründe dafür vor, die Beschwerdeführer von ihren journalistischen Pflichten zu entbinden. Die angebliche führende Stellung des Unternehmens D. im Pressebereich ändert nichts an dieser Schlussfolgerung.

45. Schließlich stellt der Gerichtshof im Hinblick auf die Frage, ob die Maßnahmen, die auf innerstaatlicher Ebene gegen die Beschwerdeführer erlassen wurden, in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel standen, fest, dass die Beschwerdeführer nicht strafrechtlich verfolgt wurden und auch keinen Schadensersatz zu leisten hatten. In dem von Herrn D. angestrengten Zivilverfahren verboten die innerstaatlichen Gerichte den Beschwerdeführern unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000 € für jeden Fall der Zuwiderhandlung lediglich, einen Eindruck wie in dem veröffentlichten Artikel zu erwecken – eine angemessene Maßnahme in einem Fall, in dem der Ruf einer Person durch veröffentlichte Informationen beschädigt wurde.

3. Schlussfolgerung

46. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte angeführten Gründe im Sinne seiner Spruchpraxis „zutreffend und ausreichend“ waren und dass die Entscheidungen, mit denen angeordnet wurde, dass die Beschwerdeführer die Verbreitung der in Rede stehenden Äußerungen zu unterlassen hätten, in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel nicht unverhältnismäßig war. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer war somit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“. Die Individualbeschwerde lässt keine Anzeichen für eine Verletzung von Artikel 10 der Konvention erkennen. Daraus folgt, dass die Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof mit Stimmenmehrheit:

Die Individualbeschwerde wird für unzulässig erklärt.

Claudia Westerdiek                                      Mark Villiger
Kanzlerin                                                       Präsident

_____________

[1] Anmerkung der Übersetzerin: Einstweilige Verfügung LG Köln vom 24.02.2006 (28 O 102/06)
[2] Anmerkung der Übersetzerin: Urteil LG Köln (Bestätigung der einstweiligen Verfügung) vom 17.05.2006 (28 O 102/06)
[3] Anmerkung der Übersetzerin: Urteil OLG Köln (Rückweisung der Berufung und teilweise Abänderung des Textes des einstweiligen Verfügung) vom 21.11.2006 (10 U 100/06)
[4] Anmerkung der Übersetzerin: Urteil LG Köln (weitere Klage) vom 19.09.2007 (28 O 175/07)
[5] Anmerkung der Übersetzerin: Urteil OLG Köln vom 21.09.2008 (15 U 184/07)

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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