RECHTSSACHE SCHOLER GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 14212/10

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 14212/10)
URTEIL
STRASSBURG
18. Dezember 2014

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache S. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin

nach nicht öffentlicher Beratung am 18. November 2014

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 14212/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, S. („der Beschwerdeführer“), am 4. März 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in S., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre zwei Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Behrens und Frau Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung von Artikel 6 der Konvention geltend und rügte, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren unfair gewesen sei, weil er wegen Betäubungsmitteldelikten schuldig gesprochen worden sei, zu deren Begehung er von der Polizei verleitet worden sei, und weil er zu keiner Zeit während des Verfahrens die Möglichkeit gehabt habe, den Hauptbelastungszeugen zu befragen.

4. Am 12. November 2013 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt S. inhaftiert.

A. Das Ermittlungsverfahren

6. Im Juli 2007 erhielt die Staatsanwaltschaft Zweibrücken von einer Person, der sie Vertraulichkeit zugesichert hatte und deren Identität während des Verfahrens unbekannt blieb, Informationen, wonach der Beschwerdeführer Amphetamin in größeren Mengen verkaufe.

7. Um diese Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, setzte die Trierer Polizei daher eine weitere Vertrauensperson, X., ein, der von der Staatsanwaltschaft Zweibrücken ebenfalls Vertraulichkeit zugesichert wurde und die von dem Polizeibeamten K. geführt wurde. X. suchte den Beschwerdeführer am 18. Juli 2007 in dessen Motorradwerkstatt auf und gab vor, am Ankauf eines Motorrads interessiert zu sein. Am 14. August 2007 suchte er den Beschwerdeführer zum zweiten Mal in dessen Werkstatt auf. Bei dieser Gelegenheit erklärte der Beschwerdeführer gegenüber X., ein ehemaliges Mitglied seines Motorradclubs „Bandidos“ habe den Club hintergangen, und bot X. 1.000 Euro, wenn er diese Person zusammenschlagen würde. Als der Beschwerdeführer X., der zu erkennen gegeben hatte, dass er mit Waffen vertraut war, seine Waffen zeigte und ihn fragte, ob er ihm Waffen besorgen könne, fragte X. den Beschwerdeführer, ob er ihm Amphetamin verkaufen könne. Der Beschwerdeführer fragte zurück, welche Menge X. benötige und welchen Preis er zu zahlen bereit sei. X. bot 4.000 Euro pro Kilogramm Amphetamin guter Qualität an. Der Beschwerdeführer erklärte sich damit einverstanden und übergab X. eine Probe Amphetamin, die er in einer Schublade seiner Werkstatt aufbewahrt hatte. Am 24. August 2007 suchte X. den Beschwerdeführer erneut auf und bot ihm auf Anweisung seines polizeilichen Führungsbeamten an, 500 Gramm Amphetamin anzukaufen. Der Beschwerdeführer erklärte sich damit einverstanden, diese Menge Betäubungsmittel zu einem Preis von 2.000 Euro zu verkaufen. Bei sämtlichen Treffen mit X. führte er einen geladenen Revolver bei sich, mit dem er X. einmal bedrohte und ihn als Verräter bezichtigte.

8. Am 27. August 2007 genehmigte das Amtsgericht Trier die Beteiligung des von dem Polizeibeamten L. geführten verdeckten Ermittlers C. an dem Einsatz.

9. Am 28. August 2007 kaufte X. 500 Gramm Amphetamin zu einem Preis von 2.000 Euro von dem Beschwerdeführer, der während des gesamten Geschehens einen geladenen Revolver bei sich führte, übergab die Betäubungsmittel an C., der an einem anderen Ort auf ihn wartete, und überbrachte dem Beschwerdeführer das Geld, das ihm von C. ausgehändigt worden war.

10. Am 20. September suchte X. den Beschwerdeführer erneut in seiner Werkstatt auf und teilte ihm mit, dass er weitere Betäubungsmittel von ihm kaufen wolle. Der Beschwerdeführer fragte daraufhin X., ob er ein Kilogramm oder mehr brauchen würde. Auf Anweisung des Polizeibeamten K. bestellte X. 500 Gramm Amphetamin und kündigte an, künftig einen höheren Bedarf an Betäubungsmitteln zu haben. Der Beschwerdeführer erklärte sich damit einverstanden.

11. Am 4. Oktober 2007 kaufte X. im Beisein von C. erneut 500 Gramm Amphetamin für 2.000 Euro von dem Beschwerdeführer, der während der Geschäftsabwicklung einen geladenen Revolver bei sich führte. Auf Anweisung des Polizeibeamten K. bat X. den Beschwerdeführer sodann um die Lieferung einer größeren Betäubungsmittelmenge. Der Beschwerdeführer erklärte, er könne so viel liefern, wie X. wolle, fünf oder zehn Kilogramm. Daraufhin bestellte X. 6,5 Kilogramm Amphetamin, wofür er 26.000 Euro zahlen sollte.

12. Am 16. Oktober 2007 kauften X. und C. die bei dem Beschwerdeführer bestellte Menge Amphetamin; der Lieferant der Betäubungsmittel war B. Der Beschwerdeführer wurde festgenommen, als er das Geld von C. in Empfang nahm, nachdem er die Betäubungsmittel an X. übergeben hatte. Die Polizei stellte ferner 10 Gramm Amphetamin in der Wohnung des Beschwerdeführers und zahlreiche Waffen in seiner Werkstatt sicher.

13. B., der über sein Schweigerecht belehrt worden war, räumte nach seiner Festnahme gegenüber der Polizei und später bei seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung ein, an dem Betäubungsmittelgeschäft am 16. Oktober 2007 beteiligt und der Lieferant des an jenem Tag sichergestellten Amphetamins gewesen zu sein.

B. Das Verfahren vor dem Landgericht Trier

14. Am 31. Juli 2008 sprach das Landgericht Trier den Beschwerdeführer des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen sowie des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe.

15. Das Landgericht stellte den oben zusammengefassten Sachverhalt fest (siehe Rdnrn. 6-13). Ferner stellte es fest, dass der Beschwerdeführer, ein Vollmitglied des Motorradclubs „MG Bandidos Chapter Kaiserslautern“, vorbestraft sei; insbesondere habe ihn das Landgericht Trier am 9. Februar 1989 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Amphetamin) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt.

16. Das Landgericht stellte fest, dass sich der Beschwerdeführer und sein Mitangeklagter B. in der Hauptverhandlung nicht zu den Betäubungsmittelvorwürfen eingelassen hätten. Seine Feststellungen beruhten auf den glaubhaften Bekundungen des X. gegenüber seinem Führungsbeamten K. sowie hinsichtlich der letzten Tat auf dem Geständnis des Mitangeklagten B. im Ermittlungsverfahren.

17. In der Verhandlung habe das Landgericht, nachdem es dem Widerspruch des Beschwerdeführers gegen die Anhörung des Polizeibeamten K. als Zeugen nicht stattgegeben habe, K. als Zeugen vom Hörensagen zu den Wahrnehmungen der Vertrauensperson X. vernommen. Eine Vorladung und Vernehmung des X. selbst sei nicht möglich gewesen, da eine vom rheinland-pfälzischen Innenministerium abgegebene Sperrerklärung vom 10. April 2008, ergänzt am 21. Juli 2008, nachdem die Kammer alternative Vernehmungsmethoden angeregt hatte, der Offenlegung seiner Identität entgegengestanden habe. Diese zwölf bzw. vier Seiten umfassenden Erklärungen seien in der Hauptverhandlung verlesen worden.

18. Das Ministerium habe in diesen Erklärungen vorgetragen, dass es erforderlich gewesen sei, die Identität der Vertrauensperson X. und auch des verdecken Ermittlers C. zum Schutz von Leib und Leben dieser Zeugen und ihrer Angehörigen geheim zu halten. Es bestehe eine erhebliche Gefahr, dass der Beschwerdeführer gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen gegen sie veranlassen würde. Er sei Mitglied des Motorradclubs „MC Banditos, Chapter Kaiserlautern“, der weltweit gut organisiert und für sein gewalttätiges und rücksichtsloses Vorgehen gegen Personen, die als Verräter betrachtet würden, bekannt sei. Gegen Mitglieder des Motorradclubs bestehe derzeit der Verdacht der Verstrickung in Tötungsdelikte. Der Beschwerdeführer, auf dessen Anwesen ein beachtliches Waffenarsenal gefunden worden sei, habe X. selbst 1.000 Euro für einen tätlichen Angriff auf ein ehemaliges MC-Mitglied geboten, welches verdächtigt werde, den Club im Rahmen von Geschäften hintergangen zu haben. Weitere an dem Betäubungsmittelgeschäft beteiligte Täter besäßen möglicherweise ebenfalls Waffen und seien noch nicht festgenommen worden. Die Preisgabe der Identität der Vertrauensperson und des gut ausgebildeten verdeckten Ermittlers würde ferner die Fähigkeit der Polizei kompromittieren, künftig mit deren Hilfe oder mit der Hilfe anderer Vertrauenspersonen in Bezug auf schwere Straftaten zu ermitteln.

19. Das Ministerium führte weiter aus, das Land habe keine anderen Mittel als die Nichtpreisgabe der Identität der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers, um deren körperliche Unversehrtheit zu schützen. Insbesondere seien die Nichtangabe ihrer Namen und Wohnorte bzw. der Ausschluss der Öffentlichkeit und des Beschwerdeführers während ihrer gerichtlichen Vernehmung für ihren Schutz nicht ausreichend, und zwar aufgrund
der Anwesenheit der Rechtsanwälte des Beschwerdeführers und möglicherweise von Kontaktpersonen des Beschwerdeführers, die das Gerichtsgebäude am Verhandlungstag beobachten könnten. Das Ministerium lehnte auch die vom Landgericht beantragte Befragung des X. durch einen beauftragten Richter außerhalb der Hauptverhandlung ab, da bei einer solchen Vernehmung die Anwälte des Beschwerdeführers zugegen sein würden und dem Beschwerdeführer möglicherweise Informationen weitergeben würden, anhand derer er X. identifizieren könnte. Ebenso könne durch die ebenfalls vom Landgericht vorgeschlagene akustische und optische Abschirmung ihm Rahmen einer Videokonferenz eine Identifizierung von X. und C. anhand ihrer Statur, Gestik und Sprache oder durch die Offenlegung von Einzelheiten bei der Befragung durch die Verteidigung, die Rückschlüsse auf ihre Identität ermöglichten, nicht ausgeschlossen werden.

20. Nach Auffassung des Landgerichts seien die in den Erklärungen des Ministeriums angeführten Gründe für die Geheimhaltung der Identitäten von X. und C. weder willkürlich noch offensichtlich rechtsfehlerhaft.

21. Das Landgericht stellte fest, der Polizeibeamte K. habe X. am 26. Oktober 2007 vernommen und in der Hauptverhandlung über die von X. gemachten Aussagen Bericht erstattet. Es habe der Verteidigung dann Gelegenheit gegeben, schriftlich Fragen an X. zu richten. K. habe X. am 25. Juni 2008 zu den Fragen des Gerichts und des Verteidigers des B. erneut vernommen und dem Gericht wiederum über die von X. gemachten Aussagen Bericht erstattet. Die detaillierten und widerspruchsfreien Bekundungen sowohl des Polizeibeamten K. als auch des X. seien glaubhaft, auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie nur als Aussagen vom Hörensagen vorliegen würden. Das Landgericht stellte insbesondere fest, dass der Beschwerdeführer bestritten habe, bei den ersten beiden Geschäften einen geladenen Revolver bei sich geführt zu haben, und dass er behauptet habe, bei dem Gegenstand in seiner Hosentasche habe es sich um
ein Multi-Tool-Werkzeug gehandelt. Es stellte fest, dass X. bereits am 26. Oktober 2007 erwähnt habe, dass der Beschwerdeführer eine Waffe bei sich geführt habe. Als er auf Anordnung des Gerichts am 25. Juni 2008 erneut durch den Polizeibeamten K. vernommen worden sei, habe X. detaillierte Angaben zu dem Revolver gemacht und überzeugend dargelegt, wann und wie er gesehen habe, dass er geladen war, was den Wahrheitsgehalt seiner Angaben belege.

22. Das Landgericht befand, dass die Aussagen der Vertrauensperson verwertbar seien. Die Zulässigkeit des Einsatzes von Vertrauenspersonen zur Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität, zu der auch der Rauschgifthandel gehöre, entspreche der ständigen Rechtsprechung des BGH (das Landgericht verwies auf BGH 1 StR 221/99, Urteil vom 18. November 1999, BGHSt 45, S. 321 ff., siehe Rdnr. 34). Es sei in diesem Zusammenhang unerheblich, ob der Beschwerdeführer von einer Vertrauensperson zu einer Straftat verleitet worden sei, denn dies würde jedenfalls nicht zum Ausschluss von Beweismitteln führen. In diesem Fall wäre es lediglich erforderlich, in den Urteilsgründen einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Konvention festzustellen und folglich strafmildernd zu berücksichtigen.

23. Die Schilderungen des X. würden durch zahlreiche
weitere Indiztatsachen belegt, so das Landgericht. Insbesondere die Art und Menge der gehandelten Betäubungsmittel sei belegt, da X. die fraglichen Betäubungsmittel unmittelbar nach der Abwicklung der entsprechenden Geschäfte an die Polizei übergeben habe. Im Hinblick auf die letzte Tat seien darüber hinaus der Beschwerdeführer und B. auf frischer Tat betroffen und am Tatort festgenommen worden. Zudem habe B. im Ermittlungsverfahren zunächst die (dritte) Tat gestanden und über seine Aussagen sei von dem Polizeibeamten und der Ermittlungsrichterin, die ihn damals vernommen hätten, in der Hauptverhandlung Bericht erstattet worden.

24. Schließlich würden das Geständnis von B. und die Schilderungen des X. bezüglich der zweiten Tat durch die Angaben des verdeckten Ermittlers C. gegenüber seinem Führungsbeamten L. gestützt. L. sei in der Hauptverhandlung als Zeuge vom Hörensagen vernommen worden, nachdem das Gericht einem dagegen gerichteten Widerspruch des Beschwerdeführers nicht stattgegeben habe. Die Identität des C. sei unbekannt geblieben, da für ihn ebenfalls eine Sperrerklärung des Ministeriums vorgelegen habe. Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers sei nach § 110a und § 110b Abs. 2 der Strafprozessordnung (siehe Rdnrn. 31-32) zulässig gewesen, da er von der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht genehmigt worden und für die weiteren Ermittlungen zu den mutmaßlichen Betäubungsmittelgeschäften des Beschwerdeführers unbedingt erforderlich gewesen sei.

25. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Landgericht als strafschärfende Faktoren sowohl die Tathäufigkeit als auch die frühere Verurteilung wegen Betäubungsmittelhandels. Strafmildernd wurde anerkannt, dass die Betäubungsmittelgeschäfte von Beginn an unter Polizeiüberwachung stattgefunden hätten und die Betäubungsmittel daher nicht in den Verkehr hätten gelangen können. Überdies habe der Beschwerdeführer lediglich mit so genannten weichen Drogen durchschnittlicher Qualität gehandelt. Ferner sei er zu 70 Prozent schwerbehindert und damit besonders haftempfindlich.

26. Nach Ansicht des Landgerichts sei der Beschwerdeführer jedoch nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von der Vertrauensperson X. durch eine unzulässige Tatprovokation zur Begehung der fraglichen Straftaten verleitet worden (das Landgericht verwies erneut auf das o.g. BGH-Urteil vom 18. November 1999, BGHSt 45, S. 321 ff.). Der Beschwerdeführer sei bereits vor dem Treffen mit der Vertrauensperson im Betäubungsmittelgeschäft aktiv und zum Handel mit denselben entschlossen gewesen. Dies werde insbesondere durch die Tatsache belegt, dass er X. bereits beim ersten Anbahnungsgespräch für die Betäubungsmittelgeschäfte eine Amphetaminprobe übergeben habe. Darüber hinaus habe er bei dieser Gelegenheit zu verstehen gegeben, dass er X. größere Betäubungsmittelmengen liefern könne. In diesem Zusammenhang stellte das Landgericht fest, dass der dem Beschwerdeführer von X. angebotene Preis (4.000 Euro) der regional übliche Durchschnittspreis für ein Kilogramm Amphetamin durchschnittlicher Qualität sei. Überdies sei der Beschwerdeführer bereits wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vorbestraft. Da seine Taten demnach nicht das Ergebnis einer unzulässigen Tatprovokation durch die Polizei gewesen seien, bestehe kein Anlass zu einer entsprechenden Strafmilderung.

C . Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof

27. Am 1. August 2008 legte der Beschwerdeführer Revision beim Bundesgerichtshof ein. Er machte insbesondere geltend, dass sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 1 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention verletzt worden sei, weil er die Vertrauensperson X. und den verdeckten Ermittler C., auf deren Aussagen seine Verurteilung im Wesentlichen gestützt worden sei, nicht habe selbst befragen können. Überdies habe X. ihn in unzulässiger Weise zum Verkauf von Betäubungsmitteln verleitet. Die durch die Tatprovokation erlangten Beweismittel hätten daher in seinem Verfahren nicht verwertet werden dürfen.

28. Am 12. Dezember 2008 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts als unbegründet.

D. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

29. Am 19. Januar 2009 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte insbesondere, dass er durch das vom Bundesgerichtshof bestätigte Urteil des Landgerichts in seinem Recht auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz verletzt worden sei. Er sei durch die Strafverfolgungsbehörden in unzulässiger Weise dazu verleitet worden, die Taten zu begehen, für die er später verurteilt worden sei. Die durch die polizeiliche Tatprovokation erlangten Beweismittel hätten daher in seinem Verfahren nicht verwertet werden dürfen (er verwies auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Pyrgiotakis ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 15100/06, 21. Februar 2008, um seine Auffassung zu stützen). Ferner habe er während des gesamten Verfahrens keine Möglichkeit gehabt, die Vertrauensperson und den verdeckten Ermittler zu befragen.

30. Am 3. September 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde (2 BvR 164/09) des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 10. September 2009 zugestellt.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Bestimmungen zu verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen

31. Nach § 110a Abs. 1 Nr. 1 StPO dürfen verdeckte Ermittler zur Aufklärung von Straftaten eingesetzt werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittelverkehrs begangen worden ist. Der Einsatz ist nur zulässig, soweit die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Nach § 110a Abs. 2 StPO sind verdeckte Ermittler Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (sogenannte Legende) ermitteln.

32. Gemäß § 110b Abs. 2 Nr. 1 StPO bedürfen Einsätze mit verdeckten Ermittlern, die sich gegen einen bestimmten Beschuldigten richten oder bei denen der verdeckte Ermittler eine Wohnung betritt, die nicht allgemein zugänglich ist, der Zustimmung des Gerichts. Nach § 110b Abs. 3 StPO kann die Identität des verdeckten Ermittlers auch nach Beendigung des Einsatzes geheimgehalten werden. In einem Strafverfahren ist die Geheimhaltung der Identität nach Maßgabe des § 96 zulässig, insbesondere dann, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass die Offenbarung Leben, Leib oder Freiheit des verdeckten Ermittlers oder einer anderen Person oder die Möglichkeit der weiteren Verwendung des verdeckten Ermittlers gefährden würde. § 96 StPO sieht vor, dass die Vorlegung von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Behörden nicht gefordert werden darf, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt, dass das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde.

33. Der Einsatz von Vertrauenspersonen ist in der Strafprozessordnung nicht eigens geregelt, fällt aber unter die allgemeinen Bestimmungen der §§ 161 und 163 StPO, wonach die Polizei und die Staatsanwaltschaft befugt sind, Straftaten zu erforschen.

B. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

34. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Einsatz
von Vertrauenspersonen und verdeckten Ermittlern grundsätzlich zulässig zur Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität, zu der auch der Rauschgifthandel gehört (siehe insbesondere BGH 1 StR 221/99, Urteil vom 18. November 1999, BGHSt 45, S. 321 ff., Rdnr. 10 (der Internet-Version) mit weiteren Verweisen). Das Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist jedoch verletzt, wenn der Angeklagte zu den abgeurteilten Straftaten durch eine unzulässige, dem Staat zuzurechnende Tatprovokation verleitet worden ist (siehe insbesondere BHG 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnr. 8). Was die Folgen einer festgestellten Tatprovokation durch die Polizei angeht, stellt diese nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst dann, wenn sie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt, kein Verfahrenshindernis dar. Ihr ist lediglich im Rahmen der Strafzumessung als wesentlicher Strafmilderungsgrund Rechnung zu tragen (sogenannte Strafzumessungslösung; siehe u. a. BGH 1 StR 221/99, a. a. O., Rdnrn. 13 und 18, mit weiteren Verweisen).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION WEGEN DER FEHLENDEN MÖGLICHKEIT, ZWEI BELASTUNGSZEUGEN ZU BEFRAGEN

35. Der Beschwerdeführer rügte, dass er zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit gehabt habe, die Vertrauensperson und den verdeckten Ermittler konfrontativ zu befragen, obwohl seine Verurteilung allein auf deren Aussagen beruhe. Er berief sich auf Artikel 6 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

[…]

d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; …“

36. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

37. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

38. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d der Konvention verletzt habe. Sein Recht auf konfrontative Befragung der Belastungszeugen, d. h. der Vertrauensperson X. und des verdeckten Ermittlers C., sei insbesondere deshalb verletzt worden, weil keine sonstigen Beweise gegen ihn vorgelegen hätten. Eine konfrontative Befragung der Vertrauensperson wäre unbedingt erforderlich gewesen, weil diese in ihrer ersten Vernehmung durch das Landgericht (die über den Polizeibeamten K. erfolgte) die Unwahrheit gesagt habe. In dieser Vernehmung habe die Vertrauensperson entscheidende belastende Aspekte nicht erwähnt, etwa die Behauptung, dass der Beschwerdeführer die Vertrauensperson mit einer geladenen Waffe bedroht habe; auf diesen Punkt sei die Vertrauensperson erstmals in einer zweiten Vernehmung am 25. Juni 2008 eingegangen. Unter diesen Umständen wäre es unbedingt erforderlich gewesen, dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur direkten Befragung der Vertrauensperson zu geben, um seine Verteidigungsrechte zu wahren.

b) Die Regierung

39. Nach Auffassung der Regierung wurde gegen den Beschwerdeführer auch in Anbetracht der Tatsache, dass er die Vertrauensperson und den verdeckten Ermittler nicht konfrontativ befragen konnte, ein faires Verfahren geführt, das den Anforderungen von Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention genügte.

40. Unter Bezugnahme auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien bezüglich der fehlenden Möglichkeit, Belastungszeugen konfrontativ zu befragen (insbesondere Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnrn. 118 ff., ECHR 2011) führte die Regierung aus, es hätte triftige Gründe dafür gegeben, die Befragung der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers durch den Beschwerdeführer vor Gericht nicht zuzulassen, und es hätten hinreichende Faktoren vorgelegen, die die fehlende Befragungsmöglichkeit kompensierten.

41. Hinsichtlich der Gründe, aus denen dem Beschwerdeführer die Möglichkeit verwehrt wurde, die Vertrauensperson und den verdeckten Ermittler direkt zu befragen, brachte die Regierung vor, dass andernfalls eine Gefahr für deren Leib und Leben bestanden hätte. Das Ausmaß der Gefährdung der Zeugen sei in der Sperrerklärung des rheinland-pfälzischen Innenministeriums, die vom Landgericht Trier geprüft und für nicht willkürlich befunden worden sei, ausführlich und nachvollziehbar dargelegt sowie mit Tatsachen belegt worden. Inhaltliche Mängel der Erklärung seien nicht ersichtlich und der Beschwerdeführer habe dementsprechend auch keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, die Rechtmäßigkeit der Erklärung verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Die staatlichen Behörden seien unter diesen Umständen verpflichtet gewesen, Leib und Leben der Zeugen zu schützen. Ihr Schutzinteresse überwiege das Interesse des Beschwerdeführers an ihrer direkten konfrontativen Befragung, auch weil die Gründe für ihre Gefährdung aus der Sphäre des Beschwerdeführers selbst stammten.

42. Die Regierung hob hervor, dass neben den Aussagen der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers, die mittelbar über die Führungsbeamten in das Verfahren eingeführt worden seien, weitere Beweise dafür vorhanden gewesen seien, das sich der Beschwerdeführer des Betäubungsmittelhandels in drei Fällen schuldig gemacht habe. Hinsichtlich der dritten Tat habe das Landgericht seine Feststellungen auch auf das Geständnis, das der mit dem Beschwerdeführer gemeinsam angeklagte B. vor der Untersuchungsrichterin abgelegt habe und über das diese in der Hauptverhandlung Bericht erstattet habe, sowie auf das Ergebnis der Wohnungsdurchsuchung des B. stützen können. Hinsichtlich aller drei abgeurteilten Taten habe das Landgericht zudem auf Beweise zurückgreifen können, die es ihm ermöglichten, die Angaben der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers zu verifizieren. So seien im Anschluss an die Taten die gehandelten Betäubungsmittel jeweils sichergestellt worden. Ferner sei das Ergebnis der Durchsuchung der Werkstatt und der Wohnung des Beschwerdeführers berücksichtigt worden.

43. Schließlich sei selbst unter der Annahme, dass die Aussagen der beiden Belastungszeugen zumindest hinsichtlich der ersten beiden Taten die entscheidenden Beweismittel darstellten, die Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers, die er dadurch erfahren habe, dass ihm eine Möglichkeit zur Befragung dieser Zeugen nicht gewährt worden sei, kompensiert worden. Das Landgericht habe alles ihm Mögliche getan, um die Zeugen in der Verhandlung direkt zu hören. Dem Beschwerdeführer sei es ferner ermöglicht worden, schriftlich Fragen an die Zeugen zu richten. Er habe somit die Möglichkeit gehabt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen anzuzweifeln. Das Landgericht habe ferner die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Zeugen vom Hörensagen mit besonderer Vorsicht gewürdigt. Insbesondere habe es zur Kenntnis genommen, dass die Vertrauensperson X. in einer zweiten Vernehmung zusätzliche Angaben zu den Waffen gemacht habe, die der Beschwerdeführer bei der Abwicklung der Geschäfte bei sich geführt habe. Anders als der Beschwerdeführer habe es jedoch die Schlussfolgerung gezogen, gerade die Tatsache, dass X. sich auf weiteres Nachfragen detaillierter habe äußern können, verdeutliche, dass er von einem wahren Sachverhalt berichte.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Einschlägige Grundsätze

44. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Garantien in Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d besondere Aspekte des in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren sind, die bei jeder Einschätzung der Fairness eines Verfahrens in Betracht zu ziehen sind. Die Zulässigkeit von Beweisen ist durch innerstaatliches Recht zu regeln und Sache der nationalen Gerichte, und die Aufgabe des Gerichtshofs nach Artikel 6 Abs. 1 besteht darin, zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt fair geführt wurde (siehe u. a. G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnrn. 162-163, 30. Juni 2008). Dabei betrachtet der Gerichtshof das Verfahren in seiner Gesamtheit und berücksichtigt dabei die Rechte der Verteidigung, aber auch die Interessen der Allgemeinheit und der Opfer an einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung (siehe G. ./. Deutschland [GK], a. a. O., Rdnr. 175) und gegebenenfalls die Rechte der Zeugen (siehe u. v. a. Doorson ./. Niederlande, 26. März 1996, Rdnr. 70, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996‑II; Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011; und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 29881/07, Rdnr. 58, 19. Juli 2012).

45. Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d enthält den Grundsatz, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten im Regelfall alle gegen ihn vorliegenden Beweise in seiner Anwesenheit in öffentlicher Verhandlung erhoben werden müssen, um eine kontradiktorische Auseinandersetzung zu ermöglichen. Ausnahmen hiervon sind möglich, dürfen aber die Rechte der Verteidigung nicht verletzen; diese Rechte erfordern in der Regel, dass dem Angeklagten in angemessener und hinreichender Weise Gelegenheit gegeben wird, einen Belastungszeugen entweder während dessen Zeugenaussage oder zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt zu konfrontieren und zu befragen (siehe Lucà ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Rdnr. 39, ECHR 2001‑II; und Solakov ./. die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Individualbeschwerde Nr. 47023/99, Rdnr. 57, ECHR 2001‑X; Vronchenko ./. Estland, Individualbeschwerde Nr. 59632/09, Rdnr. 55, 18. Juli 2013; und Rosin ./. Estland, Individualbeschwerde Nr. 26540/08, Rdnr. 52, 19. Dezember 2013).

46. Der Gerichtshof hat jüngst in seinem Urteil in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery (a. a. O.) klargestellt, dass die folgenden drei Kriterien geprüft werden müssen, wenn ein Belastungszeuge in der Hauptverhandlung abwesend ist. Zunächst muss ein guter Grund für die Abwesenheit eines Zeugen vorliegen (ebda.,Rdnr. 119). Wenn Angst der Grund für die Abwesenheit eines Zeugen ist, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass es, soweit die Angst des Zeugen auf Drohungen oder sonstige Handlungen des Angeklagten oder der für ihn handelnden Personen zurückzuführen ist, angemessen ist, die Aussagen dieses Zeugen in das Verfahren einzuführen, ohne dass er direkt aussagen oder durch den Angeklagten oder seine Vertreter befragt werden muss. Bei einem Angeklagten, der in dieser Weise gehandelt hat, muss davon ausgegangen werden, dass er auf seine Rechte auf Befragung dieser Zeugen nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d verzichtet hat (ebda.,Rdnrn. 122-123). Ist die Angst des Zeugen auszusagen nicht unmittelbar auf Drohungen des Angeklagten oder seiner Vertreter zurückzuführen, sondern darauf, dass diese Personen für derartiges Verhalten berüchtigt sind, muss das Tatgericht entsprechende Nachforschungen anstellen, um erstens festzustellen, ob es objektive Gründe für diese Angst gibt, und zweitens, ob diese objektiven Gründe durch Beweise untermauert werden (ebda., Rdnrn. 122 und 124, mit weiteren Verweisen). Schließlich ist in Fällen, in denen ein Zeuge zu keinem Zeitpunkt vor dem Verfahren vernommen wurde, die Zulassung der Verlesung seiner Aussage anstelle einer Aussage in der Hauptverhandlung nur als letztes Mittel zulässig. Bevor ein Zeuge wegen seiner Angst von der Aussage befreit werden kann, muss sich das Tatgericht vergewissern, dass alle verfügbaren Alternativen, etwa die Anonymität des Zeugen oder sonstige besondere Maßnahmen, unzureichend oder undurchführbar wären (ebda.,Rdnr. 125).

47. Kann ein Zeuge deshalb nicht befragt werden oder befragt werden lassen, weil er abgängig ist, müssen die Behörden angemessene Anstrengungen unternehmen, um seine Anwesenheit sicherzustellen. Jedoch macht die Nichtverfügbarkeit von Zeugen es für sich allein genommen nicht erforderlich, die Strafverfolgung einzustellen, sofern den Behörden nicht vorgeworfen werden kann, dass sie sich nicht sorgfältig bemüht hätten, dem Angeklagten die Möglichkeit zu ihrer Befragung einzuräumen (siehe insbesondere Scheper ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39209/02, 5. April 2005; Mayali ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 69116/01, Rdnr. 32, 14. Juni 2005; und H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73047/01, 17. November 2005; und Mirilashvili ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 6293/04, Rdnr. 163, 11. Dezember 2008).

48. Der Gerichtshof wird als Zweites der Frage nachgehen, ob die Aussagen des abwesenden Zeugen, den der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch in der Hauptverhandlung befragen oder befragen lassen konnte, das alleinige oder entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten ist (es also von einer solchen Bedeutung oder Wichtigkeit ist, dass es wahrscheinlich ausschlaggebend für den Verfahrensausgang ist) (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnrn. 131 und 147).

49. Selbst wenn dies der Fall ist, ergibt sich aus der Zulassung der Aussage eines abwesenden Zeugen als Beweismittel nicht automatisch eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1. Der Gerichtshof muss dann jedoch das Verfahren mit größtmöglicher Gründlichkeit prüfen. Angesichts der Gefahren, die die Zulassung solcher Beweismittel birgt, würde diese im Rahmen der gebotenen Abwägung einen sehr gewichtigen Faktor darstellen, der hinreichende ausgleichende Faktoren, einschließlich starker Verfahrensgarantien, erfordern würde. Der Gerichtshof muss deshalb als Drittes prüfen, ob hinreichende kompensierende Faktoren vorliegen, einschließlich Maßnahmen, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Aussagen ermöglichen (Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnr. 147).

50. Die Probleme, die sich im Zusammenhang mit abwesenden und anonymen Zeugen stellen, unterscheiden sich nicht grundsätzlich (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnr. 127; Ellis, Simms und Martin./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 46099/06 und 46699/06, Rdnr. 74, 10. April 2012; und Pesukic ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 25088/07, Rdnr. 45, 6. Dezember 2012). Wenn die Verteidigung die Identität der Person, die sie befragen will, nicht kennt, kann es der Fall sein, dass ihr eben jene Angaben fehlen, die ihr den Nachweis ermöglichen würden, dass die betreffende Person voreingenommen, feindselig oder unzuverlässig ist (siehe Pesukic, a. a. O., Rdnr. 45), und dass sie, wie im Falle eines abwesenden Zeugen, Schwierigkeiten hat, die Zuverlässigkeit der Aussagen dieses Zeugen anzuzweifeln (vgl. Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnr. 127).

51. Dementsprechend muss der Gerichtshof – in Übereinstimmung mit den Kriterien, die er in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery (a. a. O.) in Bezug auf abwesende Zeugen klargestellt hat – bei der Beurteilung, ob ein Verfahren mit anonymen Zeugen fair war, zunächst prüfen, ob triftige Gründe für die Geheimhaltung der Identität des Zeugen vorliegen. Zweitens muss der Gerichtshof prüfen, ob die Verurteilung allein oder entscheidend auf die Aussagen des anonymen Zeugen gestützt wurde. Drittens muss der Gerichtshof in Fällen, in denen die Aussage eines anonymen Zeugen die alleinige oder entscheidende Grundlage für eine Verurteilung darstellt, überzeugt sein, dass hinreichende ausgleichende Faktoren, einschließlich starker Verfahrensgarantien, vorliegen, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Aussagen ermöglichen (siehe Ellis, Simms und Martin, a. a. O., Rdnrn. 76-78; Pesukic, a. a. O., Rdnr. 45; vgl. auch Gani ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 61800/08, Rdnrn. 40-41, 19. Februar 2013; siehe zuvor beispielsweise H., a. a. O., mit weiteren Verweisen).

b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

52. Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger die Vertrauensperson X. und den verdeckten Ermittler C. in der Hauptverhandlung oder zumindest im Ermittlungsverfahren persönlich konfrontativ befragen konnten. Das Tatgericht konnte diese Zeugen nicht laden, weil das rheinland-pfälzische Innenministerium die Offenlegung ihrer Identitäten mit der Begründung gesperrt hatte, es bestehe eine erhebliche Gefahr, dass der Beschwerdeführer gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen gegen sie veranlassen würde. Die Zeugen waren daher in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers nicht anwesend und in dem Sinne anonym, dass der Verteidigung ihre wahre Identität nicht bekannt war, da der Beschwerdeführer sie unter ihrer falschen Identität kennen gelernt hatte.

53. Bei der Entscheidung darüber, ob unter diesen Umständen das gegen den Beschwerdeführer geführte Verfahren mit seinen Rechten aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention vereinbar war, muss der Gerichtshof zunächst im Lichte der vorgenannten Grundsätze feststellen, ob es einen triftigen Grund sowohl für die Geheimhaltung der Identität der Zeugen als auch für ihre Abwesenheit in der Hauptverhandlung gab. Er stellt fest, dass der Hauptgrund für die Abwesenheit der Zeugen in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers darin bestand, dass das Tatgericht sie nicht laden konnte, weil das rheinland-pfälzische Innenministerium ihre wahren Identitäten und Kontaktdaten nicht offengelegt hatte. Das Tatgericht unternahm zwar vernünftige, aber erfolglose Anstrengungen, um die Anwesenheit der Zeugen oder zumindest ihre Befragung anhand alternativer Methoden zu gewährleisten, indem es dem Ministerium insbesondere vorschlug, die Zeugen im Rahmen einer Videokonferenz oder durch einen beauftragten Richter persönlich zu befragen. Da es sich also um eine innerstaatliche Behörde des beschwerdegegnerischen Staates – das besagte Ministerium – handelte, die für die Anonymität der Zeugen und deren Abwesenheit in der Hauptverhandlung verantwortlich war, hält es der Gerichtshof für erforderlich, auch die von dieser Behörde gegebene und vom Tatgericht akzeptierte Begründung unmittelbar im Hinblick darauf zu prüfen, ob sie mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Kriterien übereinstimmt.

54. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass das Ministerium die Anonymität der Zeugen und ihre Abwesenheit in der Hauptverhandlung mit der Notwendigkeit des Schutzes von Leib und Leben dieser Zeugen und ihrer Angehörigen begründete. Bei der Entscheidung darüber, ob die sich auf Angst gründende Abwesenheit der Zeugen auf Drohungen oder sonstige Handlungen des Angeklagten oder der für ihn handelnden Personen zurückzuführen war, stellt der Gerichtshofhof fest, dass es nicht so gewesen zu sein scheint, als hätten der Beschwerdeführer oder seine Vertreter X. im Hinblick auf eine anstehende Zeugenaussage vor dem Tatgericht direkt bedroht. Allerdings hatte der Beschwerdeführer X. bereits während der Abwicklung eines der Betäubungsmittelgeschäfte mit einem geladenen Revolver bedroht und ihn als Verräter bezichtigt. Auch hatte er sich bereit gezeigt, gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen gegen Personen zu veranlassen, die als Verräter betrachtet werden, indem er selbst dem Beschwerdeführer[1] Geld bot, um eine Person zusammen zu schlagen, die seinen Motorradclub hintergangen haben soll.

55. Selbst unter der Annahme, dass diese von dem Beschwerdeführer gegenüber X. geäußerten Drohungen nicht als hinreichend direkte Drohungen gegen X. für dem Fall, dass er im Prozess gegen den Beschwerdeführer aussagen würde, zu werten sind, und dass der Beschwerdeführer daher auf sein Recht, X. zu befragen, nicht verzichtet hat, stellt der Gerichtshof Folgendes fest. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Notwendigkeit, die Vertrauensperson X. und den verdeckten Ermittler C. zu schützen, nicht unmittelbar auf entsprechende Drohungen des Beschwerdeführers oder seiner Vertreter zurückzuführen ist, sondern darauf, dass diese Personen für derartiges Verhalten berüchtigt sind, muss das Tatgericht entsprechende Nachforschungen angestellt haben, um festzustellen, ob es objektive Gründe für diese Angst gab, die durch Beweise untermauert wurden.

56. Der Gerichtshof nimmt insoweit zur Kenntnis, dass das Tatgericht die Begründung des rheinland-pfälzischen Innenministeriums bestätigte, dass es zum Schutz von Leib und Leben der Zeugen und ihrer Angehörigen notwendig gewesen sei, ihre Identität geheim zu halten und ihre Anwesenheit in der Hauptverhandlung nicht zu gestatten. Es bestehe eine erhebliche Gefahr, dass der Beschwerdeführer gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen gegen sie veranlassen würde. Er sei Vollmitglied des Motorradclubs „Bandidos“, der gut organisiert und für sein gewalttätiges und rücksichtsloses Vorgehen gegen Personen, die als Verräter betrachtet würden, bekannt sei; ferner bestehe gegen Mitglieder des Clubs der Verdacht der Verstrickung in Tötungsdelikte. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer X. Geld dafür geboten hatte, eine Person zusammen zu schlagen, die den Club angeblich hintergangen hatte, und er bereits selbst X. mit einer geladenen Waffe bedroht hatte. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass das Gericht angesichts dieser Merkmale und der insoweit erfolgten Beweisaufnahme durch das Tatgericht vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass die Notwendigkeit, X. und C. zu schützen, sachlich gerechtfertigt war. Er nimmt in diesem Zusammenhang ferner zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer die Feststellung der Regierung, er habe von der Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Erklärung des Ministeriums verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen, keinen Gebrauch gemacht, nicht angegriffen hat.

57. Der Gerichtshof muss weiterhin prüfen, ob es sich bei der Entscheidung, die Zeugen von der Aussage in der Hauptverhandlung zu befreien, um sie zu schützen und ihre Anonymität aufrecht zu erhalten, um ein letztes Mittel handelte, wie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich (siehe Rdnr. 46). Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Tatgericht alternative Maßnahmen, die eine persönliche Vernehmung der Zeugen ermöglicht hätten, geprüft hat, insbesondere eine Befragung durch einen beauftragten Richter außerhalb der Hauptverhandlung in Anwesenheit der Rechtsanwälte des Beschwerdeführers oder im Rahmen einer Videokonferenz mit akustischer und optischer Abschirmung. Es gelangte zu der Auffassung, es bestehe nicht nur die Gefahr der Identifizierung der Zeugen anhand ihrer Statur, Gestik und Sprache – die dem Beschwerdeführer bekannt waren, nicht aber den in seinem Namen anwesenden Personen –, sondern auch die Gefahr, dass durch die Offenlegung von Einzelheiten bei der Befragung durch die Verteidigung Rückschlüsse auf ihre Identität gezogen werden könnten. Der Gerichtshof lässt gelten, dass das Tatgericht diese Alternativen als unzureichend ansehen konnte, um die Zeugen unter den gegebenen Umständen zu schützen. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es vor allem bei der Verfolgung der organisierten Kriminalität ein wesentliches Instrument darstellt, insbesondere Vertrauenspersonen zu gestatten, anonym Informationen zu liefern (siehe Donohoe ./. Irland, Individualbeschwerde Nr. 19165/08, Rdnr. 80, 12. Dezember 2013, mit weiteren Verweisen). Es gab folglich einen triftigen Grund sowohl für die Geheimhaltung der Identität der Zeugen als auch für ihre Abwesenheit in der Hauptverhandlung.

58. Der Gerichtshof muss zweitens prüfen, ob die Aussagen der abwesenden und anonymen Zeugen das alleinige oder entscheidende Beweismittel gegen den Beschwerdeführer waren. Er nimmt zur Kenntnis, dass das Landgericht nach eigener Darstellung seine Feststellungen insbesondere auf die Bekundungen des X., die von seinem Führungsbeamten K. in der Hauptverhandlung vorgetragen worden waren, sowie hinsichtlich der letzten Tat auf das Geständnis des Mitangeklagten B. im Ermittlungsverfahren, über das die Untersuchungsrichterin in der Hauptverhandlung Bericht erstattet hatte, stützte. Diese Aussagen wurden durch weitere bestätigende Beweismittel gestützt, etwa die Betäubungsmittel, die unmittelbar nach jedem Geschäft an die Polizei übergeben wurden, die Tatsache, dass der Beschwerdeführer und sein Mitangeklagter B. bei der dritten Tat auf frischer Tat betroffen wurden, und die Tatsache, dass eine, wenn auch geringe Menge Amphetamin in der Wohnung des Beschwerdeführers gefunden wurde. Die Aussagen des X. stimmten mit denen des verdeckten Ermittlers C. überein, die von dessen Führungsbeamten L. in der Hauptverhandlung vorgetragen wurden.

59. In Anbetracht dieser Merkmale ist der Gerichtshof der Ansicht, dass – selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die beim ersten und zweiten Geschäft sichergestellten Betäubungsmittel wichtige Beweismittel darstellten – die Verurteilung bezüglich der ersten und zweiten Tat entscheidend auf die Zeugenaussage der Vertrauensperson X. gestützt wurde. Hinsichtlich der dritten Tat hingegen scheinen die Aussagen des X. von erheblicher, aber nicht entscheidender Bedeutung als Beweismittel gegen den Beschwerdeführer gewesen zu sein, da das Tatgericht seine Feststellungen auf das Geständnis des Mitangeklagten B. – auch wenn dieses durch die Untersuchungsrichterin in den Prozess eingeführt wurde und somit eine Aussage vom Hörensagen darstellte – und auf die Beweismittel, die dadurch erlangt wurden, dass der Beschwerdeführer von der Polizei auf frischer Tat betroffen wurde, stützen konnte und dies auch tat.

60. Der Gerichtshof muss daher als Drittes feststellen, ob es hinreichende kompensierende Faktoren gab, einschließlich starker Verfahrensgarantien, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit der angegriffenen Zeugenaussagen ermöglichten. Er stellt fest, dass der wichtigste kompensierende Faktor für die Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers darin bestand, dass er, ebenso wie das Gericht, die Staatsanwaltschaft und der Mitangeklagte, die Gelegenheit bekam, schriftlich Fragen an die Vertrauensperson X. zu richten, die von dieser auch beantwortet wurde, wobei die Antworten wiederum von seinem Führungsbeamten K. in der Hauptverhandlung vorgetragen wurden.

61. Das Landgericht hat ferner die Aussagen der Zeugen vom Hörensagen mit besonderer Sorgfalt gewürdigt. Es prüfte die Verlässlichkeit dieser Aussagen im Lichte der ihm vorliegenden bestätigenden Beweismittel. Insbesondere die zusätzlichen Beweismittel, die in Bezug auf die dritte und schwerwiegendste Tat erlangt wurden, dienten zur Bestätigung der Aussagen vom Hörensagen bezüglich des ersten und zweiten Betäubungsmittelgeschäfts zwischen denselben Personen, nämlich dem Beschwerdeführer, X. und C. Die vorsichtige Würdigung der Beweismittel durch das Tatgericht zeigt sich ferner anhand seiner Prüfung der Behauptung des Beschwerdeführers, dass die Vertrauensperson X. widersprüchliche und falsche Angaben zu der Waffe gemacht habe, die er bei den Treffen mit X. bei sich geführt habe, und dass er lediglich ein Multi-Tool-Werkzeug mitgeführt habe. Das Landgericht stellte insoweit fest, dass die Vertrauensperson bei ihrer ersten und zweiten Vernehmung, über die K. Bericht erstattete, keine widersprüchlichen Angaben gemacht habe, sondern auf Anordnung des Gerichts lediglich detailliertere Angaben zu der vom Beschwerdeführer bei sich geführten Waffe sowie dazu gemacht habe, wie er beim zweiten Treffen gesehen habe, dass diese geladen war.

62. In Anbetracht dieser Merkmale kommt der Gerichtshof zu der Auffassung, dass es hinreichende kompensierende Faktoren gab, die dem Tatgericht eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit der angegriffenen Zeugenaussagen ermöglichten.

63. Angesichts der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass das gegen den Beschwerdeführer geführte Verfahren insgesamt nicht deshalb unfair war, weil er die Belastungszeugen X. und C. nicht persönlich befragen oder befragen lassen konnte. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 DER KONVENTION AUFGRUND EINER TATPROVOKATION DURCH DIE POLIZEI

64. Der Beschwerdeführer rügte ferner, das gegen ihn geführte Strafverfahren sei deshalb unfair gewesen, weil er von als Lockspitzel agierenden Ermittlungsbehörden in unzulässiger Weise zur Begehung der Betäubungsmitteldelikte verleitet worden sei, für die er später verurteilt worden sei. Er berief sich erneut auf Artikel 6 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“

65. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

66. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

67. Der Beschwerdeführer trug vor, er sei unter Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention von der Vertrauensperson und dem verdeckten Ermittler in unzulässiger Weise dazu verleitet worden, die fraglichen Betäubungsmitteldelikte zu begehen.

68. Der Beschwerdeführer brachte vor, er sei der Begehung von Betäubungsmitteldelikten nicht zugeneigt gewesen. Die Tatsache, dass in seiner Wohnung Betäubungsmittelrückstände gefunden worden seien oder dass er geringe Betäubungsmittelmengen besessen habe, habe dies nicht bewiesen. Ein Betäubungsmittelgeschäft habe er erst durchgeführt, nachdem er von X. gefragt worden sei, ob er ihm Betäubungsmittel verkaufen könne. Er sei weder in die organisierte Betäubungsmittelkriminalität verwickelt gewesen, noch habe er mit Betäubungsmitteln gehandelt, bevor die Vertrauensperson Kontakt mit ihm aufgenommen habe. Vor Gericht sei nicht bewiesen worden, dass er weitere Betäubungsmittellieferanten oder -käufer gehabt habe. Ohne den Einsatz des X. und des C. hätte er keine Straftat begangen.

69. Dem Beschwerdeführer zufolge haben sich die Vertrauensperson und der verdeckte Ermittler im Zuge der Betäubungsmittelgeschäfte nicht weitgehend passiv verhalten. Die Vertrauensperson sei zu ihm geschickt worden, um ihn dazu zu verleiten, Betäubungsmittel zu verkaufen, und habe ihn dementsprechend gefragt, ob er hierzu bereit sei. Darüber hinaus habe ihn die Vertrauensperson auch dadurch zum Handel mit Betäubungsmitteln verleitet, dass sie ihm einen außergewöhnlich hohen Preis geboten habe, der an der oberen Grenze dessen gelegen habe, was üblich sei (4.000 Euro für ein Kilogramm Amphetamin). Zudem hätten die Ermittler die Menge der von ihm zu liefernden Betäubungsmittel bei den nachfolgenden Geschäften erhöht. Ferner habe ihn X. ihn auch dadurch zum Abschluss von Betäubungsmittelgeschäften verleitet, dass er die Möglichkeit weiterer Geschäfte ins Gespräch gebracht habe, nämlich den Kauf eines Motorrads.

70. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshof (er verwies auf Pyrgiotakis, a. a. O.) brachte der Beschwerdeführer vor, die aufgrund dieser unzulässigen List erlangten Beweismittel hätten in seinem Verfahren nicht verwertet werden dürfen.

b) Die Regierung

71. Die Regierung trug vor, dass das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei. Der Einsatz einer Vertrauensperson und eines verdeckten Ermittlers, um dem gegen den Beschwerdeführer bestehenden Verdacht des Betäubungsmittelhandels nachzugehen, und die Verwertung der durch diese Maßnahme erlangten Beweismittel in dem gegen ihn geführten Strafverfahren hätten sein Recht auf ein faires Verfahren nicht verletzt.

72. Die Regierung brachte vor, dass der Beschwerdeführer, wie das Landgericht Trier festgestellt habe, nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Frage des unzulässigen Lockspitzeleinsatzes von der Vertrauensperson und dem verdeckten Ermittler zur Begehung der Betäubungsmitteldelikte verleitet worden sei, für die er später verurteilt worden sei. Er hätte diese Straftaten auch ohne Eingriff der Behörden begangen.

73. Unter Bezugnahme auf die Kriterien für die Prüfung, ob eine unzulässige Tatprovokation durch die Polizei im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgelegen hat (materiell-rechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [substantivetest of incitement]; siehe Bannikova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 18757/06, Rdnr. 37 ff., 4. November 2010), trug die Regierung vor, der Beschwerdeführer sei in Bezug auf die fraglichen Betäubungsmitteldelikte tatgeneigt gewesen. Nicht nur sei er bereits 1989 wegen Betäubungsmittelhandels (Amphetamin) verurteilt worden. Auch deuteten mehrere weitere tatsächliche Merkmale darauf hin, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem Auftreten der Vertrauensperson in den Betäubungsmittelhandel verwickelt gewesen sei. Insbesondere habe der Beschwerdeführer in seiner Werkstatt und in seiner Wohnung unabhängig von seinem Zusammentreffen mit X. Amphetamin vorrätig gehalten, und er habe X. bereits bei ihrem zweiten Zusammentreffen, als das erste Mal das Gespräch auf einen möglichen Betäubungsmittelkauf gekommen sei, eine Probe davon überreicht. Auf die Frage des X. nach einschlägigen Geschäftsmöglichkeiten habe der Beschwerdeführer sofort mehrere Betäubungsmittelgeschäfte eingeleitet. Der zügige Abschluss der Geschäfte, die Vertrautheit des Beschwerdeführers mit Preisen für Amphetamin und seine Fähigkeit, innerhalb kurzer Zeit auch größere Mengen Betäubungsmittel zu beschaffen, sprächen dafür, dass der Beschwerdeführer bereits in die organisierte Betäubungsmittelkriminalität eingebunden gewesen sei.

74. Die Vertrauensperson und der verdeckte Ermittler hätten sich im Zuge der Geschäfte weitgehend passiv verhalten. Als X. den Beschwerdeführer bei seinem zweiten Besuch am 14. August 2007 gefragt habe, ob ein Handel mit Amphetamin möglich sei, habe er sich lediglich so verhalten, wie es zur Durchführung verdeckter Ermittlungsmaßnahmen erforderlich sei. Der Beschwerdeführer habe sich sofort mit dem Betäubungsmittelhandel einverstanden erklärt, ungefragt eine Probe Amphetamin überreicht und die Modalitäten für die Betäubungsmittelgeschäfte festgelegt. Es sei der Beschwerdeführer gewesen, der die Mengen der verkauften Betäubungsmittel bei jedem Treffen erhöht habe. Ferner habe der von X. für die fraglichen Betäubungsmittel gebotene Preis nicht über dem Marktpreis gelegen, wie das Landgericht Trier bestätigt habe. Auch habe X. den Beschwerdeführer nicht zur Weiterführung des Betäubungsmittelhandels verleitet, indem er den Betäubungsmittelkauf mit dem Kauf eines Motorrads in Zusammenhang gebracht habe.

75. Die Regierung brachte darüber hinaus vor, dass der Einsatz der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht erfolgt sei. Der Einsatz des verdeckten Ermittlers C. bei der Maßnahme habe im Einklang mit § 110a ff. StPO (siehe Rdnrn. 31-32) gestanden. Insbesondere sei er vom Amtsgericht Trier am 27. August 2007 genehmigt worden. Ebenso habe der Einsatz der Vertrauensperson X. den §§ 161 und 163 StPO (siehe Rdnr. 33) in der Auslegung der innerstaatlichen Gerichte entsprochen. Sowohl C. als auch X. seien überwacht worden.

76. Schließlich brachte die Regierung vor, das Landgericht Trier habe den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Vorwurf der Tatprovokation gründlich geprüft und sei nachvollziehbar zu dem Schluss gekommen, dass er unbegründet sei.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Einschlägige Grundsätze

77. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Konvention nicht ausschließt, sich im Ermittlungsstadium eines Strafverfahrens und wenn die Art der Straftat dies rechtfertigt auf Quellen wie anonyme Vertrauenspersonen zu stützen. Die anschließende Verwertung ihrer Aussagen durch das Tatgericht, um einen Schuldspruch zu begründen, ist jedoch etwas anderes. Der Einsatz von verdeckten Ermittlern muss beschränkt sein und es muss Schutzvorkehrungen geben, auch wenn es um die Bekämpfung des Betäubungsmittelhandels geht. In Anbetracht der Erfordernisse eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 kann das öffentliche Interesse an der Bekämpfung von Straftaten nicht den Gebrauch von Beweismitteln rechtfertigen, die als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation gewonnen wurden (siehe Teixeira de Castro ./. Portugal, 9. Juni 1998, Rdnrn. 35-36, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998‑IV; und Vanyan ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 53203/99, Rdnr. 46, 15. Dezember 2005).

78. Wird der Gerichtshof mit dem Vorwurf der polizeilichen Tatprovokation oder List befasst, so versucht er festzustellen, ob eine derartige Provokation oder List vorgelegen hat (materiell-rechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [substantivetest of incitement]; siehe Bannikova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 18757/06, Rdnr. 37, 4. November 2010). Eine polizeiliche Tatprovokation liegt dann vor, wenn sich die beteiligten Polizeibeamten oder die auf ihre Anweisungen handelnden Personen nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken, sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass diese zur Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie andernfalls nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck – durch Beweiserbringung und Einleitung einer Strafverfolgung – die Feststellung einer Straftat zu ermöglichen (siehe Ramanauskas ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, Rdnr. 55, ECHR 2008, mit weiteren Verweisen; und Bannikova, a. a. O., Rdnr. 37; vgl. auch Pyrgiotakis ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 15100/06, Rdnr. 20, 21. Februar 2008). Der Grund für das Verbot der polizeilichen Tatprovokation besteht darin, dass es die Aufgabe der Polizei ist, Straftaten zu verhindern und zu untersuchen und nicht, sie zu provozieren.

79. Für die Differenzierung zwischen polizeilicher Tatprovokation oder List unter Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und dem Einsatz rechtmäßiger verdeckter Ermittlungsmethoden hat der Gerichtshof die folgenden Kriterien entwickelt.

80. Bei seiner Entscheidung darüber, ob die Ermittlungen „weitgehend passiv“ waren, prüft der Gerichtshof die Gründe, auf denen die verdeckte Maßnahme beruhte, sowie das Verhalten der Behörden, die die Maßnahme durchführten. Der Gerichtshof wird sich darauf stützen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Beschwerdeführer an kriminellen Tätigkeiten beteiligt oder tatgeneigt war (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnr. 38).

81. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang insbesondere festgestellt, dass die innerstaatlichen Behörden keinen Grund hatten, eine Person der Beteiligung am Betäubungsmittelhandel zu verdächtigen, wenn diese nicht vorbestraft war, kein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war und nichts darauf hindeutete, dass sie der Beteiligung am Betäubungsmittelhandel schon zugeneigt war, bevor sie von der Polizei kontaktiert wurde (siehe Teixeira de Castro, a. a. O., Rdnr. 38; bestätigt in Edwards und Lewis ./. Vereinigtes Königreich [GK],Individualbeschwerden Nrn. 39647/98 und 40461/98, Rdnrn. 46 und 48, ECHR 2004‑X; Khudobin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 59696/00, Rdnr. 129, ECHR 2006‑XII (Auszüge); Ramanauskas, a. a. O., Rdnr. 56; und Bannikova, a. a. O., Rdnr. 39; siehe auch Pyrgiotakis, a. a. O., Rdnr. 21). Darüber hinaus können, je nach den Umständen eines konkreten Falls, auch die folgenden Kriterien als Hinweis auf bestehende kriminelle Tätigkeit oder Tatgeneigtheit verstanden werden: die erwiesene Vertrautheit des Beschwerdeführers mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln und seine Fähigkeit zu deren kurzfristiger Beschaffung (vgl.Shannon ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 67537/01, ECHR 2004‑IV) sowie seine Gewinnbeteiligung (siehe Khudobin, a. a. O., Rdnr. 134; und Bannikova, a. a. O., Rdnr. 42).

82. Bei der Differenzierung zwischen der rechtmäßigen Infiltrierung durch einen verdeckten Ermittler und der Provokation einer Straftat befasst sich der Gerichtshof ferner mit der Frage, ob auf den Beschwerdeführer Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. In Betäubungsmittelfällen hat er festgestellt, dass sich die Ermittler unter anderem dann nicht mehr passiv verhalten, wenn sie von sich aus Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnehmen, wenn sie ihr Angebot trotz einer anfänglichen Ablehnung seitens des Beschwerdeführers erneuern oder darauf beharren, wenn sie den Durchschnittspreis überbieten oder wenn sie durch Vorspiegelung von Entzugserscheinungen das Mitleid des Beschwerdeführers erregen (siehe u. a. Bannikova, a. a. O., Rdnr. 47; und Veselov u. a. ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 23200/10, 24009/07 und 556/10, § 92, 2. Oktober 2012).

83. Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien erlegt der Gerichtshof den Behörden die Beweislast auf. Soweit der vom Angeklagten erhobene Vorwurf nicht völlig unplausibel ist, hat die Staatsanwaltschaft zu beweisen, dass keine Tatprovokation stattgefunden hat. In der Praxis könnten die Behörden an der Erfüllung dieser Beweispflicht gehindert sein, wenn die verdeckte Maßnahme nicht förmlich genehmigt und überwacht wurde (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnr. 48). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines eindeutigen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen sowie deren ordnungsgemäßer Überwachung unterstrichen. Bei verdeckten Maßnahmen hielt er die gerichtliche Überwachung für das am besten geeignete Mittel (siehe Bannikova, a. a. O., Rdnrn. 49-50; vgl. auch Edwards und Lewis, a. a. O., Rdnrn. 46 und 48).

b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

84. Der Gerichtshof hat zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Betäubungsmitteldelikte, derer er schuldig gesprochen wurde, infolge einer gegen Artikel 6 Abs. 1 verstoßenden polizeilichen Tatprovokation begangen hat (materiell-rechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [substantivetest of incitement]). Dies war dann der Fall, wenn davon auszugehen ist, dass die Polizei sich nicht auf eine weitgehend passive Untersuchung der Tätigkeiten des Beschwerdeführers beschränkte, sondern insofern Einfluss auf ihn nahm, als sie ihn zur Begehung einer Straftat verleitete, die er andernfalls nicht begangen hätte.

85. Im Hinblick auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien für die Differenzierung zwischen polizeilicher Tatprovokation und rechtmäßigen verdeckten Ermittlungsmethoden stellt der Gerichtshof fest, dass die folgenden Faktoren zu dem Verdacht der Behörden führten, dass der Beschwerdeführer dem Betäubungsmittelhandel zugeneigt sei. Die Polizei arrangierte erst dann mit der Hilfe der Vertrauensperson X. drei Probekäufe, nachdem die Staatsanwaltschaft von einer anderen anonymen Vertrauensperson Informationen erhalten hatte, wonach der Beschwerdeführer mutmaßlich Amphetamin in größeren Mengen verkaufe. Überdies war der Beschwerdeführer wegen Handeltreibens mit Amphetamin vorbestraft. Zwar stammt diese Verurteilung aus dem Jahr 1989 und erfolgte somit 18 Jahre vor den polizeilichen Ermittlungen im Jahr 2007, sie beweist aber dennoch, das der Beschwerdeführer bereits in ähnliche Straftaten verwickelt war wie die, derer er dann verdächtigt wurde.

86. Ferner gab es weitere Merkmale, die vermuten lassen, dass der Beschwerdeführer in den Handel von Betäubungsmitteln verwickelt war. Als die Vertrauensperson den Beschwerdeführer zum ersten Mal fragte, ob er ihr Amphetamin beschaffen könne, erklärte er sich sofort mit dem von der Vertrauensperson vorgeschlagenen Preis einverstanden und zeigte sich mit dem Marktpreis für dieses Betäubungsmittel vertraut. Beachtenswert ist darüber hinaus, dass er eine Probe des Betäubungsmittels in seiner Werkstattvorhielt, die er der Vertrauensperson aus eigenem Antrieb übergab, als das erste Mal das Gespräch auf einen Betäubungsmittelkauf kam, d. h. er hielt diese Probe offensichtlich unabhängig von den Erkundigungen der Vertrauensperson, ob der Beschwerdeführer ihr Betäubungsmittel verkaufen könne, vorrätig. Insbesondere zeigte der Beschwerdeführer ferner im Zuge des dritten Betäubungsmittelgeschäfts, dass er kurzfristig größere Mengen an Betäubungsmitteln beschaffen konnte.

87. In Anbetracht dieser Merkmale ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Behörden hinreichend triftige Gründe für den Verdacht hatten, dass der Beschwerdeführer in den Betäubungshandel verwickelt oder zumindest tatgeneigt war.

88. Was die Art und Weise angeht, auf die die Polizei in Bezug auf die Aktivitäten des Beschwerdeführers ermittelte, stellt der Gerichtshof fest, dass es die Polizei war, die über ihre Vertrauensperson X. Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnahm, um sich nach der Möglichkeit zu erkundigen, ein Betäubungsmittelgeschäft abzuschließen. Es ist jedoch nicht dargelegt worden, dass die Vertrauensperson X., die von dem Polizeibeamten K. geführt wurde und später mit C., einem ausgebildeten und nach einem entsprechenden Gerichtsbeschluss an der Maßnahme beteiligten verdeckten Ermittler, zusammenarbeitete, während der Ermittlungen über das Verhalten eines „normalen“ Kunden eines Drogenhändlers hinausgegangen wäre. Die Vertrauensperson übte keinen unangemessenen Druck auf den Beschwerdeführer aus, die Betäubungsmittelgeschäfte abzuschließen.

89. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass nicht dargelegt worden ist, dass die Vertrauensperson, die den Beschwerdeführer lediglich nach seiner Bereitschaft, Betäubungsmittel zu verkaufen, gefragt hatte, den Beschwerdeführer veranlasst hat, ihr tatsächlich Betäubungsmittel zu verkaufen. Der Beschwerdeführer erklärte sich seinerseits auf die Frage der Vertrauensperson hin sofort mit dem Abschluss von Betäubungsmittelgeschäften einverstanden. Hinsichtlich des Vortrags des Beschwerdeführers, er sei dadurch zum Verkauf von Betäubungsmitteln verleitet worden, dass ihm ein außergewöhnlich hoher Kaufpreis an der Obergrenze des Üblichen angeboten worden sei, nimmt der Gerichtshof ferner zur Kenntnis, dass nach den Feststellungen des Landgerichts Trier (siehe Rdnr. 26), die der Beschwerdeführer nicht grundlegend angegriffen hat, der von der Vertrauensperson gebotene Preis der regional übliche Durchschnittspreis für Amphetamin in dieser Menge und Qualität gewesen sei. Auch überzeugt das Vorbringen des Beschwerdeführers den Gerichtshof nicht, dass er zum Abschluss eines Betäubungsmittelgeschäfts verleitet worden sei, um den Weg für den Verkauf eines Motorrads zu ebnen. Es ist nicht dargelegt worden, dass die Vertrauensperson die Betäubungsmittelgeschäfte in irgendeiner Weise mit dem möglichen Kauf eines Motorrads von dem Beschwerdeführer in Zusammenhang gebracht hätte. Was den Vortrag des Beschwerdeführers angeht, die polizeilichen Ermittler hätten die Menge der bestellten Betäubungsmittel erhöht und ihn so dazu verleitet, mit größeren Mengen an Betäubungsmitteln zu handeln, stellt der Gerichtshof fest, dass die Vertrauensperson den Beschwerdeführer tatsächlich vor dem dritten Betäubungsmittelgeschäft gefragt hat, ob er ihr größere Mengen beschaffen könne. Die genaue Menge der bestellten Betäubungsmittel wurde von der Vertrauensperson jedoch erst dann mit 6,5 Kilogramm beziffert, nachdem der Beschwerdeführer erklärt hatte, er könne ihr so viele Betäubungsmittel beschaffen, wie sie wolle, fünf oder zehn Kilogramm (siehe Rdnr. 11). Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass die auf Anweisung der Polizei handelnde Vertrauensperson keinen unangemessenen Druck auf den Beschwerdeführer ausübte, die Betäubungsmitteldelikte, derer er später schuldig gesprochen wurde, zu begehen.

90. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Polizei in Bezug auf die Aktivitäten des Beschwerdeführers weitgehend passiv ermittelte und ihn nicht zur Begehung von Betäubungsmitteldelikten verleitete, die er nicht begangen hätte, wenn statt der Polizei ein „normaler“ Kunde an ihn herangetreten wäre. Die verdeckte Maßnahme stellte folglich keine polizeiliche Tatprovokation dar, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 1 der Konvention definiert ist. Die spätere Verwertung der durch die verdeckte Maßnahme erlangten Beweismittel in dem gegen ihn geführten Strafverfahren wirft daher keine Frage nach Artikel 6 Abs. 1 auf.

91. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht wegen einer Tatprovokation durch die Polizei verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Die Individualbeschwerde wird in Bezug auf die Rüge der fehlenden Möglichkeit, zwei Belastungszeugen zu befragen, mit Stimmenmehrheit für zulässig erklärt;

2. Die Individualbeschwerde wird in Bezug auf die Rüge wegen einer Tatprovokation durch die Polizei einstimmig für zulässig erklärt;

3. Er erkennt mit vier zu drei Stimmen, dass ein Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention wegen der fehlenden Möglichkeit, zwei Belastungszeugen zu befragen, nicht vorliegt;

4. Er erkennt einstimmig, dass ein Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 der Konvention wegen einer Tatprovokation durch die Polizei nicht vorliegt.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 18. Dezember 2014 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                 Mark Villiger
Kanzlerin                                                   Präsident

____________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung der Richter Zupančič, Yudkivska und De Gaetano beigefügt.

M.V.
C.W.

GEMEINSAME TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTER ZUPANČIČ, YUDKIVSKA UND DE GAETANO

1. Wir bedauern, dass wir uns der Mehrheitsmeinung in dieser Rechtssache, dass kein Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention vorliegt, nicht anschließen können.

2. Zunächst ist es angebracht, daran zu erinnern, dass das Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich[GK],Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, ECHR 2011), auf das sich die Mehrheit in hohem Maße stützt, im Kontext spezifischer Bestimmungen des englischen Rechts und auch im Kontext der von englischen Gerichten geäußerten Kritik an der „soleordecisiverule“ verfasst wurde, die der Gerichtshof in Bezug auf Beweismittel anwendet, die ein Angeklagter vor Gericht nicht, wie in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d vorgesehen, durch eine konfrontative Befragung prüfen kann. Auch wenn das Al-Khawaja und Tahery-Urteil in der Tat als erfolgreiches Beispiel für den „Dialog zwischen den Gerichten“ betrachtet werden kann, so bleibt es doch ein sehr „länderspezifisches“ Urteil, und dieser Gerichtshof sollte äußerst vorsichtig damit sein, auch nur „allgemeine Grundsätze“ von diesem Fall auf andere Fälle zu übertragen.

3. Zweitens handelt es sich bei den in Artikel 6 Abs. 3 verankerten Rechten per definitionem um „Mindestrechte“. Dieser Terminus würde es mithin nahe legen, dass, wenn bei diesen Rechten Ausnahmen gemacht werden sollen, diese Ausnahmen sehr eng ausgelegt werden müssen.

4. Was den vorliegenden Fall anbelangt, so akzeptiert die Mehrheit, dass ungeachtet sonstiger Beweismittel die Aussagen der Vertrauensperson X. für den Verfahrensausgang in Bezug auf die erste und zweite Straftat, die dem Beschwerdeführer zur Last gelegt wurden, entscheidend waren (siehe Rdnr. 59). Die Aussagen der Vertrauensperson X. und des verdeckten Ermittlers C. wurden nie unter Eid bestätigt – in diesem Sinne ist es vielleicht etwas irreführend, von „Zeugenaussagen“ zu sprechen. Die Identität des X. und des C. wurde gegenüber dem Tatgericht nie offen gelegt. Die Entscheidung, ihre Identität nicht offen zu legen – und damit faktisch Beweismittel unbekannter Herkunft in das Verfahren einzuführen – wurde nicht von einer Justizbehörde, sondern vom rheinland-pfälzischen Innenministerium getroffen (Rdnr. 17), wobei die Zuständigkeit des Landgerichts Triers darauf beschränkt war festzustellen, ob die Begründung für die Entscheidung des Ministeriums willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig war (Rdnr. 20). In Rdnr. 56 wird argumentiert, der Beschwerdeführer hätte die „Rechtmäßigkeit“ der Erklärung des Ministeriums verwaltungsgerichtlich anfechten können. Abgesehen davon, dass „Rechtmäßigkeit“ ein sehr eng gefasster Grund für eine gerichtliche Überprüfung ist, ist es bedeutsam, dass die beschwerdegegnerische Regierung die Frage der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe gar nicht aufgeworfen hat, was an sich bereits darauf hindeutet, dass eine solche gerichtliche Überprüfung kein angemessener Rechtsbehelf in Bezug auf die Rügen des Beschwerdeführers gewesen wäre.

5. Selbst wenn man die in Al-Khawaja und Tahery aufgestellten Kriterien aufs Genaueste anwendet, hält die vorliegende Rechtssache dieser Prüfung in zweierlei Hinsicht nicht stand.

6. In Rdnr. 125 des Al-Khawaja und Tahery-Urteils steht Folgendes:

„Angesichts des Ausmaßes der negativen Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte durch die Abwesenheit eines Zeugen möchte der Gerichtshof schließlich hervorheben, dass in Fällen, in denen ein Zeuge zu keinem Zeitpunkt vor dem Verfahren vernommen wurde, die Zulassung der Verlesung einer Aussage anstelle einer Aussage in der Hauptverhandlung nur als letzter Ausweg zulässig ist. Bevor ein Zeuge wegen seiner Angst von der Aussage befreit werden kann, muss sich das Tatgericht vergewissern, dass alle verfügbaren Alternativen – wie Anonymität des Zeugen oder andere besondere Maßnahmen – unzureichend oder undurchführbar wären.“

7. Das Landgericht Trier hat, was ihm zugute gehalten werden muss, versucht, es einzurichten, dass X. und C. im Rahmen einer Videokonferenz aussagen und konfrontativ befragt werden können, wobei eine akustische und optische Abschirmung erfolgt wäre (siehe Rdnr. 19). Selbst dieses Verfahren wurde von dem Ministerium wirksam blockiert, wobei als Begründung vorgegeben wurde, ein solches Verfahren könne eine Identifizierung von X. und C. anhand ihrer Statur, Gestik und Sprache oder durch die Offenlegung von Einzelheiten bei der Befragung durch die Verteidigung, die Rückschlüsse auf ihre Identität ermöglichten, nicht ausschließen. Bemerkenswerterweise scheint das Landgericht Trier diese Begründung akzeptiert zu haben. Abgesehen davon, dass es hätte sicherstellen können, dass die Verteidigung den „akustisch und optisch abgeschirmten“ Zeugen keine darauf abzielenden Fragen stellt, ihnen Informationen über ihre wahre Identität zu entlocken, ist nicht nachvollziehbar, warum diese Methode der konfrontativen Befragung ebenfalls verworfen wurde. X. und C. waren dem Beschwerdeführer nicht unbekannt, er kannte lediglich ihre wahre Identität nicht. Es kann daher nicht davon gesprochen werden, dass alle verfügbaren Alternativen (Rdnr. 46) erschöpft wurden. Darüber hinaus ist keinesfalls klar, warum nicht ein beauftragter Richter (in Rdnr. 19 erwähnt) oder eine andere Justizbehörde in Abwesenheit der Anwälte des Beschwerdeführers Zugang zu X. haben konnte (während der Führungsbeamte K. dies konnte, siehe Rdnr. 8).

8. Ein zweiter und noch entscheidender Punkt ist, dass als „hauptsächlicher kompensierender Faktor für die Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers“ (Rdnr. 60) angeführt wird, dass der Beschwerdeführer die Gelegenheit gehabt hätte, schriftlich Fragen an X. zu richten. Diese Fragen wären dann über den Führungsbeamten des X., K. (selbst ein Belastungszeuge) weitergegeben worden, der dann wiederum dem Gericht Bericht erstattet hätte. K. ist Polizeibeamter, er gehört zur „Anklageseite“ und hat darüber hinaus die gesamte verdeckte Operation gesteuert; er war die Person mit dem größten Interesse daran, in diesem Fall eine Verurteilung sicherzustellen. X. ist ein Belastungszeuge. Wir finden es bemerkenswert, dass das Landgericht Trier – das tatsächlich die „Dienste“ des K. in Anspruch nahm – ein solches Verfahren nach dem Motto „alles bleibt in der Familie“ als sicher betrachten konnte. Es überrascht nicht, dass der Beschwerdeführer es ablehnte, auf ein derartiges Verfahren zurückzugreifen.

9. Aus diesen Gründen sind wir der Ansicht, dass in der vorliegenden Rechtssache ein Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention vorliegt.

________

[1] Anm. d. ÜB.: „Beschwerdeführer“ entspricht dem engl. Originaltext; es müsste wohl „Vertrauensperson“ heißen.

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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