Nicolae Virgiliu Tănase gg. Rumänien – 41720/13 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Urteil vom 25.6.2019, Große Kammer

Sachverhalt

Der Bf. war am 3.12.2004 gegen 20:40 Uhr an einem Autounfall beteiligt. Nach seiner Darstellung war ein gewisser D. I. mit seinem Fahrzeug in das Heck des Autos des Bf. gekracht, wodurch dieses auf einen stehenden LKW der Armee geschoben worden sei. Dessen Fahrer war ein gewisser J. C. P. Der Bf. erlitt schwere innere Verletzungen sowie Knochenbrüche. Nach einem ärztlichen Bericht hatten die Verletzungen das Leben des Bf. bedroht und 200 bis 250 Tage medizinische Behandlung erfordert. Zudem hatten sie bestimmte Nachwirkungen, wie eine verminderte Beweglichkeit des rechten Arms.

Noch am selben Tag leitete die Polizei von Ploieşti von Amts wegen strafrechtliche Ermittlungen über den Unfallhergang ein. Dazu wurden zunächst die Spuren an der Unfallstelle gesichert, Blutproben der Lenker genommen und die Beteiligten sowie weitere Zeugen befragt. Am 22.6.2005 schloss sich der Bf. dem Strafverfahren mit einer Schadenersatzforderung als Privatbeteiligter an. Am 6.9.2005 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren in der Sache. Die Oberstaatsanwaltschaft entschied am 5.12.2005, das Strafverfahren gegen D. I. und J. C. P. und die gegen den Bf. geführten Ermittlungen einzustellen. Die Generalprokuratur bestätigte die Einstellung. Gegen diese Entscheidung erhob der Bf. einen Einspruch, woraufhin die Staatsanwaltschaft am BG Ploieşti anordnete, das Verfahren gegen D. I. und J. C. P. erneut zu eröffnen. Nach umfangreichen Ermittlungen und der Einholung mehrerer Gutachten entschied die Staatsanwaltschaft am 21.2.2011 erneut, das Verfahren einzustellen, weil nicht alle Elemente eines strafbaren Tatbestands erfüllt wären. Sie stellte fest, dass J. C. P. seinen LKW korrekt abgestellt hatte. Sowohl der Bf. als auch D. I. wären zu schnell gefahren, es sei aber nicht mit Gewissheit festzustellen gewesen, ob D. I. den Unfall hätte vermeiden können. Nachdem auch diese Entscheidung von der Oberstaatsanwaltschaft bestätigt worden war, wandte sich der Bf. erneut an die Gerichte. Das BG Bukarest, an das der Fall auf Antrag des Bf. übertragen worden war, bestätigte am 30.9.2011 die Einstellung des Verfahrens gegen J. C. P., ordnete aber weitere Ermittlungen gegen D. I. an. Nach Einholung eines weiteren Gutachtens stellte die Oberstaatsanwaltschaft das Verfahren am 30.5.2012 abermals ein. Begründend führte sie aus, es gäbe keinen ausreichenden Beweis für eine kausale Verbindung zwischen den Handlungen von D. I. und den Verletzungen des Bf., da dieser zunächst aus eigenem Verschulden auf den LKW aufgefahren und erst danach von dem von D. I. gelenkten Auto getroffen worden sei und die Verletzungen nicht klar den einzelnen Zusammenstößen zugeordnet werden könnten. Auch diese Entscheidung wurde vom Bf. angefochten. Das BG bestätigte jedoch am 21.12.2012 mit einem rechtskräftigen Urteil die Einstellung des Verfahrens. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel wurde vom Berufungsgericht am 7.3.2013 als unzulässig zurückgewiesen.

Zwischen November 2008 und September 2011 hatte der Bf. zahlreiche Befangenheitsanträge sowie strafund disziplinarrechtliche Beschwerden gegen die Ermittlungsbehörden und Gerichte eingebracht, die mit seinem Fall betraut waren. Sie wurden alle als unbegründet abgewiesen.

Rechtsausführungen

Der Bf. behauptete Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

I. Zum Umfang der Rechtssache und zur Charakterisierung des Beschwerdevorbringens

(80) […] Die vom Bf. formulierten Rügen gehen in zwei Richtungen. Auf der einen Seite betreffen sie die behauptete Dauer und Ineffektivität der strafrechtlichen Untersuchung und die behauptete Unmöglichkeit, eine Entscheidung in der Sache über seine aus dem Verkehrsunfall […] resultierenden zivilrechtlichen Ansprüche zu erhalten. Auf der anderen Seite betreffen sie die Behandlung, die der Bf. aufgrund der Art und Weise erlitten hat, wie die Behörden mit der Untersuchung des Unfallhergangs umgegangen sind.

(81) Die Beschwerdevorbringen müssen daher in zwei gesonderte Kategorien geteilt werden: Erstens die Rügen betreffend die Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen und zweitens jene, die sich auf die Behandlung des Bf. durch die beteiligten Behörden beziehen. […]

(86) […] Die erste Kategorie von Beschwerdevorbringen des Bf. betrifft nach Ansicht des GH seine Verfahrensrechte bzw. die prozessualen Verpflichtungen der staatlichen Behörden im Kontext fahrlässiger Handlungen, die sehr ernste physische oder lebensbedrohende Folgen nach sich ziehen. […] Solche prozessualen Rechte und Verpflichtungen können sich unter Umständen nicht nur aus den vom Bf. geltend gemachten Art. 3, Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK ergeben, sondern auch aus Art. 2 und Art. 8 EMRK. Obwohl sich der Bf. nicht auf diese beiden Bestimmungen berufen hat, erachtet es der GH angesichts der Tatsachengrundlage der Beschwerde als angemessen, den vorliegenden Fall auch aus dem Blickwinkel von Art. 2 und Art. 8 EMRK zu betrachten.

(87) […] Die sich auf die Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen beziehenden Vorbringen sollten daher […] aus dem Blickwinkel der prozessualen Rechte und der entsprechenden Verpflichtungen geprüft werden, die in jeder der oben genannten Bestimmungen verankert sind. Der GH ist auch der Ansicht, dass er die vom vorliegenden Fall gebotene Gelegenheit nutzen sollte, den Umfang der von diesen Bestimmungen verkörperten prozessualen Verpflichtungen in dem betroffenen Bereich zu erläutern.

(88) […] Die zweite Kategorie der Beschwerdevorbringen betrifft die Behauptungen des Bf., durch die an den Ermittlungen beteiligten Behörden einer Erniedrigung und Misshandlung unterworfen worden zu sein.

(89) […] Dieses Vorbringen […] rechtfertigt eine gesonderte Prüfung unter dem substantiellen Aspekt von Art. 3 EMRK.

II. Beschwerden betreffend die Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen

(91) Der Bf. rügte die Dauer und Ineffektivität der strafrechtlichen Ermittlung und die Unmöglichkeit, hinsichtlich seiner zivilrechtlichen Forderungen eine Entscheidung in der Sache […] zu erlangen. […]

1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2, 3 und 8 EMRK

(92) Der Bf. brachte vor, die strafrechtliche Ermittlung hätte unangemessen lang gedauert und wäre ineffektiv gewesen.

a. Zulässigkeit

(103) […] Die Einrede der Regierung betreffend das Versäumnis des Bf., die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, hängt eng mit der Begründetheit seiner Beschwerde betreffend die Durchführung der strafrechtlichen Ermittlung zusammen […].

(104) Der GH entscheidet daher, diese Einrede mit der Entscheidung in der Sache über diese Beschwerdepunkte zu verbinden, vorausgesetzt sie sind nicht aus anderen Gründen unzulässig (einstimmig).

(105) Die Regierung […] brachte vor, Art. 2 EMRK wäre in seinem prozessualen Aspekt nicht anwendbar, weil es weder um einen Todesfall noch um ausreichend schwerwiegende Verletzungen […] gehen würde […]. […] Sie stellte auch die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK […] in Abrede, weil es weder eine Misshandlung gegeben habe noch eine Absicht, den Bf. zu verletzen. Die Regierung verneinte auch, dass die Beschwerde irgendeinen in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallenden Aspekt berühren würde.

i. Bei der Beurteilung zu berücksichtigende Elemente der Situation des Bf.

(111) […] Der Bf. war an einem Autounfall beteiligt, der […] sein Leben gefährdete. […] Er erlitt schwere innere Verletzungen und Knochenbrüche sowie ernste Behandlungskomplikationen […].

(112) Der GH kann das Vorbringen der Regierung nicht akzeptieren, wonach die vom Bf. erlittenen körperlichen Nachwirkungen […] nicht auf den Unfall zurückzuführen waren. […]

(113) […] Der Unfall des Bf. ereignete sich nachts auf einer öffentlichen Straße und es waren zwei weitere Fahrer beteiligt. Von Anfang an war klar, dass die Verkettung von Ereignissen, die schlussendlich zu den unglücklichen Konsequenzen führte, entweder purer Zufall war oder die Folge von Fahrlässigkeit. Der Bf. behauptete nie […], dass die beiden anderen Fahrer mit Absicht gehandelt oder sich ihre Handlungen spezifisch gegen ihn gerichtet hätten. […]

(114) […] Die Behörden scheinen die Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, dass der Bf. selbst für den Unfall mitverantwortlich war, weil er nicht vorausschauend gefahren war. Allerdings wurden diese Fragen […] im Zuge der Ermittlungen nicht geklärt.

ii. Art. 3 EMRK

(116) Bei seiner Prüfung, ob eine Person einer Behandlung unterworfen wurde, die iSv. Art. 3 EMRK unmenschlich oder erniedrigend ist, bestand der allgemeine Zugang des GH darin zu betonen, dass die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung zu fallen. Die Einschätzung dieser Schwelle ist relativ und sie hängt von allen Umständen des Falls ab, darunter grundsätzlich der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in manchen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.

(117) Um zu bestimmen, ob das Mindestmaß an Schwere erreicht wurde, kann der GH auch andere Faktoren berücksichtigen, nämlich insbesondere den Zweck, zu dem die Misshandlung zugefügt wurde, sowie die dahinterliegende Absicht oder Motivation, auch wenn das Fehlen einer Absicht, das Opfer zu demütigen oder herabzuwürdigen, die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht endgültig ausschließen kann; den Kontext, in dem die Misshandlung zugefügt wurde, wie etwa die Atmosphäre oder erhöhte Spannung und Emotionen; und ob sich das Opfer in einer verletzlichen Lage befunden hat.

(118) Eine Misshandlung einer Person, die ein solches Mindestmaß an Schwere erreicht, bringt üblicherweise eine tatsächliche körperliche Verletzung oder ein intensives physisches oder mentales Leiden mit sich. Allerdings kann eine Behandlung selbst beim Fehlen dieser Merkmale als erniedrigend qualifiziert werden und unter das Verbot des Art. 3 EMRK fallen, wenn sie einen Menschen herabwürdigt oder erniedrigt, einen Mangel an Achtung für seine Würde zeigt oder diese herabsetzt oder Gefühle der Angst, Qual oder Minderwertigkeit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen und physischen Widerstand einer Person zu brechen. […]

(119) Im Hinblick auf eine von Privatpersonen zugefügte Behandlung hat der GH wiederholt festgestellt, dass Art. 3 EMRK in Fällen anwendbar ist, die eine absichtliche Misshandlung betreffen, wie Vergewaltigung, sexueller Missbrauch oder Gewalt […], die ein Verhalten umfasst, das geeignet ist, beim Opfer Gefühle der Herabwürdigung und Erniedrigung hervorzurufen.

(120) Ein anderer Ansatz wurde in Kraulaidis/LT gewählt, der [ebenfalls] einen Verkehrsunfall betraf. Der GH stellte zunächst fest, dass »der Bf. bei dem Unfall schwer verletzt wurde und seine Fähigkeit zu gehen verloren hatte.« Daher schloss er, dass »die Situation das Mindestmaß erreichte, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen.« In ähnlicher Weise bemerkte der GH in Mažukna/LT, dass der Bf. in Folge eines Arbeitsunfalls Verletzungen im Gesicht und an der Brust erlitten hatte, die eine Entstellung mit sich brachten […] und ärztlicherseits als irreparabel und als schwere Gesundheitsschädigung beurteilt wurden, weshalb» die Situation das notwendige Mindestmaß erreichte, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen.« Den Begründungen der beiden Urteile ist gemeinsam, dass ihr Fokus einzig auf der Art und Schwere der erlittenen Verletzungen lag. Art. 3 EMRK wurde daher in Situationen für anwendbar erklärt, die keine absichtliche Handlung gegen das Opfer betrafen.

(121) Der GH ist allerdings der Ansicht, dass der oben in Rn. 116-118 beschriebene, durch eine Reihe aufeinanderfolgender Urteile der GK entwickelte Ansatz für die Beurteilung, ob eine Person einer das Mindestmaß an Schwere erreichenden Misshandlung unterworfen wurde, auch im Hinblick auf eine von Privatpersonen zugefügte Misshandlung der korrekte Zugang bleibt. Wie diese Absätze zeigen, umfasst er die Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren, von denen jeder einzelne erhebliches Gewicht haben kann. Alle diese Faktoren setzen voraus, dass die Behandlung, der das Opfer»unterworfen« wurde, aus einer absichtlichen Handlung resultierte.

(122) […] Es steht außer Streit, dass in vielen Fällen, in denen der GH Art. 3 EMRK für anwendbar erklärt hat, die Schwere des einer bestimmten Maßnahme oder einem Ereignis zuzuschreibenden Leidens […] eine wesentliche Überlegung war und dass das Fehlen einer Absicht, eine Person zu schädigen, herabzuwürdigen oder zu demütigen, die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht ausschließt.

(123) Allerdings können dem oben bestätigten Zugang entsprechend nach Ansicht des GH körperliche Verletzungen und physisches sowie seelisches Leiden, die von einer Person nach einem Unfall erlitten werden, der eine bloße Folge eines Zufalls oder eines fahrlässigen Verhaltens ist, nicht als Konsequenz einer »Behandlung« angesehen werden, der eine Person iSv. Art. 3 EMRK »unterworfen« wurde. Tatsächlich ist eine solche Behandlung, wie bereits in den Rn. 116-118 ausgeführt wurde, im Wesentlichen – wenn auch nicht ausschließlich – durch eine Absicht gekennzeichnet, eine Person zu schädigen, herabzuwürdigen oder zu erniedrigen […]. Der Fall des Bf. weist keine solchen Elemente auf.

(124) Folglich ist dieser Teil des Vorbringens unter Art. 3 EMRK betreffend die Durchführung der Untersuchung […] ratione materiae unvereinbar mit der Konvention.

iii. Art. 8 EMRK

(129) […] Ohne Zweifel wurde der Bf. bei dem Verkehrsunfall schwer verletzt. Dies wirft die Frage auf, ob eine solche Verletzung eine Angelegenheit betrifft, die sich auf das Privatleben des Bf. iSv. Art. 8 EMRK bezieht.

(130) Dazu bemerkt der GH erstens, dass die Verletzungen des Bf. aus einer freiwilligen Aktivität – dem Lenken eines Fahrzeugs auf einer öffentlichen Straße – resultierten, die im Wesentlichen in der Öffentlichkeit stattfand. Schon ihrer Art nach brachte diese Aktivität eine Gefahr mit sich, dass es im Fall eines Unfalls zu einem schweren persönlichen Schaden kommen konnte. Allerdings wurde dieses Risiko durch Verkehrsregeln minimiert […], die darauf abzielten, für alle Verkehrsteilnehmer Sicherheit auf der Straße zu gewährleisten. Zweitens ereignete sich der Unfall nicht in Folge einer Gewalthandlung, die darauf abgezielt hätte, die physische oder psychische Integrität des Bf. zu schädigen. Sie kann auch nicht in irgendeine andere Kategorie der Situationen eingefügt werden, in denen der GH bisher eine positive Verpflichtung des Staates, die physische und psychische Integrität zu schützen, angenommen hat.

(131) Vor diesem Hintergrund erkennt der GH keinen besonderen Aspekt einer zwischenmenschlichen Interaktion oder eines Kontakts, der in diesem Fall den Schutz von Art. 8 EMRK auf sich ziehen könnte.

(132) Folglich ist das Vorbringen des Bf. unter Art. 8 EMRK in Bezug auf die Durchführung der Untersuchung […] ratione materiae unvereinbar mit der Konvention.

iv. Art. 2 EMRK

(133) Der GH bemerkt eingangs, dass der vorliegende Fall eine behauptete fahrlässige Handlung im Kontext eines Verkehrsunfalls betrifft, bei dem der Bf. verletzt wurde. Angesichts der Argumente des Bf. ist der GH aufgerufen zu bestimmen, ob der vorliegende Sachverhalt unter den prozessualen Aspekt von Art. 2 EMRK fällt. […]

(134) […] Art. 2 1. Satz EMRK […] verlangt vom Staat nicht nur, von »absichtlichen« Tötungen Abstand zu nehmen, sondern auch, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens jener zu setzen, die sich unter seiner Hoheitsgewalt befinden.

(135) Diese substantielle positive Verpflichtung umfasst eine primäre Pflicht des Staates, einen gesetzlichen und administrativen Rahmen zu schaffen, der für eine wirksame Abschreckung gegen Bedrohungen des Lebens sorgt. Sie gilt im Kontext jeder Aktivität, […] in der das Recht auf Leben auf dem Spiel stehen kann. Sie verlangt vom Staat auch Regeln zu erlassen, die private und öffentliche Institutionen zwingen, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Menschen zu treffen. In diesem Kontext schließt das Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit des Staates für den Tod eines Bf. oder die Gefährdung seines Lebens die Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK nicht aus. Wie der GH betonen möchte, umfassen diese Verpflichtungen der innerstaatlichen Behörden im Kontext des Straßenverkehrs eine Pflicht, angemessene präventive Maßnahmen vorzusehen, die auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und die Minimierung der Zahl von Verkehrsunfällen ausgerichtet sind.

(136) Zweitens gibt es eine weitere substantielle positive Verpflichtung, präventive operative Maßnahmen zu setzen, um eine Person vor einer anderen Person […] zu schützen […].

(137) Drittens erinnert der GH daran, dass die Pflicht des Staates, das Recht auf Leben zu gewährleisten, nicht nur diese substantiellen positiven Verpflichtungen umfasst, sondern im Todesfall auch die prozessuale positive Verpflichtung, über ein effektives, unabhängiges Gerichtssystem zu verfügen. […]

(138) Diese prozessuale Verpflichtung hängt nicht davon ab, ob letztendlich unter dem substantiellen Aspekt die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod festgestellt wird […]. Sie umfasst eine Pflicht, eine effektive amtliche Ermittlung durchzuführen, wenn Personen durch Gewaltanwendung getötet wurden, kann sich aber auch auf Unfälle erstrecken, bei denen eine Person zu Tode kam. Der GH hat Art. 2 EMRK gleichermaßen im Kontext von Unfällen für anwendbar erklärt, insbesondere Verkehrsunfällen, bei denen das unmittelbare Opfer verstorben ist.

(139) Der GH hat die prozessuale Verpflichtung nach Art. 2 EMRK unter bestimmten Umständen in Unfälle betreffenden Fällen für anwendbar erklärt, in denen die Person, deren Recht auf Leben mutmaßlich verletzt wurde, nicht verstorben ist. In solchen Fällen hat es der GH als relevant erachtet, ob das Opfer lebensbedrohende Verletzungen erlitten hat.

(140) […] Wenn das Opfer nicht gestorben ist […] und keine Tötungsabsicht behauptet wird, sind die Kriterien für die Prüfung einer Beschwerde unter diesem Aspekt des Art. 2 EMRK erstens, ob die Person Opfer einer Aktivität wurde […], die schon ihrer Art nach ihr Leben einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr aussetzte, und zweitens, ob sie lebensbedrohend erscheinende Verletzungen erlitten hat. Weitere Faktoren […] können ins Spiel kommen. Die Einschätzung des GH hängt von den Umständen ab. Während es keine allgemeine Regel gibt, scheint es, dass in Fällen, in denen die involvierte Aktivität schon ihrer Art nach gefährlich ist und das Leben einer Person einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr aussetzt, der Grad der erlittenen Verletzungen möglicherweise nicht entscheidend ist und eine Beschwerde auch beim Fehlen von Verletzungen unter Art. 2 EMRK zu prüfen sein kann […].

(142) Wo die tatsächliche und unmittelbare Gefahr, die sich aus der Art der Aktivität ergibt, nicht erwiesen ist, kann der Grad der vom Bf. erlittenen Verletzungen größere Bedeutung erlangen. In solchen Fällen ist eine Beschwerde nur dann unter Art. 2 EMRK zu prüfen, wenn der Grad der Verletzungen so hoch war, dass er das Leben des Opfers in ernste Gefahr brachte.

(143) Bei der Entscheidung […], ob die fraglichen Verletzungen lebensbedrohend waren, hat sich der GH wiederholt auf ihre Schwere und ihre Nachwirkungen bezogen. […]

(144) Auf dieser Grundlage erachtet der GH Art. 2 EMRK im Kontext von Unfällen und behaupteter Fahrlässigkeit als anwendbar, wenn die fragliche Aktivität ihrer Art nach gefährlich war und das Leben des Bf. einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr aussetzte oder wenn die vom Bf. erlittenen Verletzungen ernsthaft lebensbedrohend waren. In solchen Situationen gilt die prozessuale Verpflichtung, eine effektive amtliche Untersuchung durchzuführen. Je weniger die Unmittelbarkeit und Ernsthaftigkeit der aus der Art der Aktivität erwachsenden Gefahr erwiesen sind, desto bedeutender wird die Anforderung an den Grad der vom Bf. erlittenen Verletzungen. Dies gilt insbesondere wenn eine hochriskante private Aktivität von einem detaillierten gesetzlichen und administrativen Rahmen geregelt wird und außer Streit oder außer Zweifel steht, dass dieser für die Reduktion der Lebensgefahr angemessen und ausreichend ist.

(145) Es kann zugegebenermaßen Situationen geben, in denen zum Zeitpunkt des Ereignisses oder Vorfalls unklar ist, ob das Leben des Opfers in unmittelbarer und tatsächlicher Gefahr ist oder ob die Verletzungen ernsthaft lebensbedrohlich sind. In dieser Hinsicht würde es der GH für die Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK als ausreichend erachten, wenn das Risiko real und unmittelbar erscheint oder die Verletzungen lebensbedrohend erscheinen, wenn sie sich ereignen. […] Sobald eine solche Angelegenheit den Behörden bekannt geworden ist, verpflichtet dies den Staat nach Art. 2 EMRK zur Durchführung einer wirksamen Untersuchung. Diese Verpflichtung besteht solange weiter, als nicht festgestellt wurde, dass die Lebensgefahr nicht real und unmittelbar war oder dass die Verletzungen eindeutig nicht ernsthaft lebensbedrohend waren. […]

(146) [Zum vorliegenden Fall] stellt der GH fest, dass der Bf. zur Zeit des Vorfalls an einer Aktivität beteiligt war, die potentiell zu ernsten Bedrohungen des Lebens einer Person führen kann. Er bemerkt auch, dass das Lenken eines Fahrzeugs im Lauf der Jahre zu einer streng reglementierten Aktivität geworden ist und erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu verbessern. […]

(147) Angesichts des Umfangs der geltenden Regulierungen und der Alltäglichkeit dieser Aktivität anerkennt der GH, dass das Autofahren heutzutage als nicht besonders gefährliche Aktivität angesehen werden kann. Allerdings verliert er dabei nicht aus den Augen, dass dies unter anderem von der Qualität der Rechtsdurchsetzung in diesem Bereich abhängen kann. In der Tat ist es trotz der erfolgten Bemühungen nach wie vor Realität, dass Verkehrsunfälle […] geschehen und sie zu schweren Verletzungen und sogar zu Todesfällen führen können.

(149) Im Fall des Bf. resultierte seine Teilnahme an der genannten Aktivität in schweren Verletzungen. Auch wenn diese letztendlich nicht zu seinem Tod führten, wurden sie vom Gerichtsmediziner als ausreichend schwerwiegend angesehen, um sein Leben zu gefährden. Seine Verletzungen erforderten Notfallmaßnahmen und langfristige ärztliche Behandlung sowie wiederholte Krankenhausaufenthalte und sie beließen ihn mit langfristigen psychischen und physischen Nachwirkungen. Der GH sieht […] keinen Grund zu bezweifeln, dass zur Zeit des Unfalls in vertretbarer Weise behauptet werden konnte, dass die Verletzungen ausreichend schwerwiegend waren, um eine ernste Lebensgefahr mit sich zu bringen.

(150) Angesichts dessen und insbesondere der vom Bf. erlittenen lebensbedrohenden Verletzungen gelangt der GH zum Ergebnis, dass Art. 2 EMRK anwendbar ist.

v. Schlussfolgerung

(151) […] Soweit er sich auf Art. 3 und Art. 8 EMRK beruft, ist dieser Teil der Beschwerde […] betreffend die Durchführung der Untersuchung […] ratione materiae unvereinbar mit der Konvention [und daher als unzulässig zurückzuweisen] (mehrheitlich).

(152) […] Die Einrede der Regierung betreffend die Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK auf diesen Teil der Beschwerde ist zu verwerfen (einstimmig).

(153) Der GH wird daher damit fortfahren, diesen Teil der Beschwerde ausschließlich unter dem prozessualen Aspekt von Art. 2 EMRK zu prüfen.

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(154) […] Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).

b. In der Sache

(172) Im Fall lebensbedrohender Verletzungen, die unabsichtlich zugefügt wurden, erfordert […] Art. 2 EMRK nur, dass das Rechtssystem dem Bf. einen Rechtsbehelf vor den Zivilgerichten gewährt, nicht aber, dass eine strafrechtliche Untersuchung des Unfallhergangs eröffnet wird. Dies hindert das innerstaatliche Recht allerdings nicht daran, unter solchen Umständen den Rückgriff auf strafrechtliche Ermittlungen vorzusehen.

(173) Der GH muss daher seinen Blick darauf richten, welche Verfahren dem Bf. zur Verfügung standen, um die persönliche Haftung von D. I. und J. C. P. für seine Verletzungen […] feststellen zu lassen.

(176) Zur Frage, ob der Bf. zur Erfüllung der Voraussetzung der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ein gesondertes Zivilverfahren hätte anstrengen sollen, anstatt sich dem Strafverfahren anzuschließen, stellt der GH zunächst fest, dass diese Entscheidung […] nicht unvernünftig erscheint. Auch die innerstaatlichen Behörden waren nicht dieser Ansicht, gingen sie doch erhebliche Zeit lang vom Vorliegen von Gründen für eine strafrechtliche Untersuchung des Falls aus. Zweitens bot der vom Bf. verfolgte Rechtsweg eine gemeinsame Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der zivilrechtlichen Haftung, die sich aus demselben schuldhaften Verhalten ergaben. Damit erleichterten sie den insgesamt gewährten prozessualen Schutz der auf dem Spiel stehenden Rechte. Die Privatbeteiligung am Strafverfahren kann für den Bf. auch zu bevorzugen gewesen sein, weil die Ermittlungsbehörden verpflichtet waren, Beweise zu sammeln […], selbst wenn er die Beweislast für die Begründetheit seines Anspruchs trug. […] Der GH sieht somit keinen Grund für die Annahme, der Bf. habe unangemessen gehandelt, als er sich entschied, seinen Fall nach dem Strafprozessrecht zu verfolgen.

(177) Angesichts der wiederholten Versuche der innerstaatlichen Behörden, den Unfallhergang zu klären, konnte der Bf. nach Ansicht des GH vernünftigerweise erwarten, dass seine Ansprüche im Strafverfahren behandelt würden. Unter diesen Umständen kann dem Bf. bei der Beurteilung der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe die Tatsache, dass er keine separaten zivilrechtlichen Klagen gegen D. I. und J. C. P. erhob, nicht entgegengehalten werden. […]

(178) Angesichts dieser Überlegungen ist die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung zu verwerfen (einstimmig).

(179) Zur Frage, ob das Strafverfahren unter den konkreten Umständen der Verpflichtung des Staates […] Genüge tat, ein effektives Gerichtssystem zur Verfügung zu stellen, bemerkt der GH, dass ein solches Verfahren, wenn es als effektiv angesehen wird, für sich selbst zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeignet war.

(180) In Bezug darauf stellt der GH fest, dass die Polizei von Ploieşti sofort nach dem Unfall von Amts wegen eine strafrechtliche Untersuchung des Unfallhergangs einleitete und Beweise sammelte […].

(181) Zudem identifizierten und befragten die Ermittlungsbehörden alle beteiligten Fahrzeuglenker […] sowie Zeugen […]. Sobald es sein Gesundheitszustand erlaubte, wurde auch der Bf. aktiv in das Verfahren einbezogen. Er hatte […] Zugang zu den Akten, konnte die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der beteiligten Behörden anfechten und die Aufnahme weiterer Beweise verlangen. Die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft konnten von ihm angefochten werden. […]

(182) […] Der GH sieht keine ausreichenden Gründe für die Schlussfolgerung, die Ermittlungen oder die Beweisaufnahme wären nicht ausreichend gründlich gewesen. Die Entscheidung der innerstaatlichen Behörden, das Verfahren einzustellen, wurde nicht übereilt oder willkürlich getroffen, sondern folgte auf jahrelange Ermittlungsarbeit, die zur Sammlung von umfangreichem Beweismaterial […] geführt hatte.

(184) Das Verfahren über den Unfallhergang dauerte über acht Jahre. Es stimmt, dass es gewisse Verzögerungen im Verfahren gab. Angesichts der Gründe für einige dieser Verzögerungen (die unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu behandeln sind) kann jedoch nicht gesagt werden, dass sie die Effektivität der Ermittlungen beeinträchtigt haben.

(185) Der GH erinnert daran, dass Art. 2 EMRK kein Recht darauf garantiert, die strafrechtliche Verurteilung eines Dritten zu erreichen. Angesichts des Fehlens eines offensichtlichen Mangels an Genauigkeit der Prüfung der Umstände des Unfalls des Bf. durch die Behörden reicht ihre Entscheidung, keine Anklage zu erheben, nicht dafür aus, den belangten Staat unter seiner aus Art. 2 EMRK erwachsenden prozessualen Verpflichtung zur Rechenschaft zu ziehen.

(186) […] Im Ergebnis […] kann nicht gesagt werden, dass es das Rechtssystem, wie es im vorliegenden Fall angewendet wurde, verabsäumt hätte, den Fall des Bf. angemessen zu behandeln. Daher stellt der GH keine Verletzung von Art. 2 EMRK fest (13:4 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Kūris, Richter Grozev und von Richter de Gaetano, gefolgt von Richter Vučinić).

2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

a. Recht auf Zugang zu einem Gericht

(187) Der Bf. brachte vor, es wäre unmöglich gewesen, hinsichtlich seiner aus dem Verkehrsunfall […] resultierenden zivilrechtlichen Ansprüche eine Entscheidung in der Sache zu erlangen.

i. Zulässigkeit

(188) […] Die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt wurde von keiner Partei bestritten […]. […]

(189) […] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

ii. In der Sache

(196) […] Der Bf. machte seine zivilrechtlichen Ansprüche im Kontext eines von den innerstaatlichen Behörden gegen J. C. P. und D. I. […] eingeleiteten Strafverfahrens geltend. Allerdings stellten die Behörden das Strafverfahren […] ein, weil nicht alle Tatbestandselemente erfüllt waren bzw. weil Verjährung eingetreten war. In Folge dessen wurde die dem Strafverfahren angeschlossene zivilrechtliche Klage von keinem Strafgericht geprüft.

(197) Keine der Parteien hat behauptet […], dass die Strafgerichte nach der Einstellung des Verfahrens gegen

D. I. und J. C. P. verpflichtet gewesen wären, […] über die zivilrechtlichen Ansprüche des Bf. zu entscheiden. Angesichts der verfügbaren Beweise erachtet der GH die Entscheidung […], das Strafverfahren […] einzustellen […], auch nicht als willkürlich oder offensichtlich unsachlich.

(199) […] Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Bf. dem Strafverfahren als Privatbeteiligter anschloss, hätte er stattdessen ein gesondertes Zivilverfahren gegen D. I. und J. C. P. anstrengen können. Auch wenn ein solches Verfahren […] möglicherweise bis zum Abschluss des Strafverfahrens ausgesetzt worden wäre, wurden von den Parteien […] keine Beweise dafür vorgelegt, dass der Bf. nicht nach Abschluss des Strafverfahrens eine Entscheidung über seine zivilrechtlichen Ansprüche erlangen hätte können.

(200) Überdies hinderte die Einstellung des Strafverfahrens […] den Bf. nicht daran, eine gesonderte Zivilklage […] vor einem Zivilgericht einzubringen, sobald er von den rechtskräftigen Urteilen erfahren hatte, mit denen die Strafgerichte die Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft bestätigten. Zudem wäre es dem Bf. […] möglich gewesen vorzubringen, dass die Verjährungsfrist für eine Zivilklage während der Anhängigkeit eines Strafverfahrens mit Privatbeteiligung gehemmt war. Daher wäre eine solche Klage nicht unbedingt zum Scheitern verurteilt gewesen.

(201) Angesichts dieser Überlegungen kann nicht gesagt werden, dass dem Bf. für die Entscheidung über seine zivilrechtlichen Ansprüche der Zugang zu einem Gericht verwehrt wurde.

(202) Folglich hat in dieser Hinsicht keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Kūris).

b. Verfahrensdauer

i. Zulässigkeit

(204) […] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

ii. In der Sache

(207) […] Privatbeteiligtenverfahren fallen in den Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Aspekts von Art. 6 Abs. 1 EMRK, solange sie nicht zu rein strafenden Zwecken angestrengt werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist auf das Verfahren, das den Anspruch einer privatbeteiligten Partei umfasst, ab dem Moment anwendbar, zu dem sich das Opfer als Privatbeteiligter angeschlossen hat […]. Im vorliegenden Fall zielte die Privatbeteiligung darauf ab, Schadenersatz für den in Folge einer mutmaßlich von

D. I. und J. C. P. begangenen Straftat erlittenen Schaden zu erlangen. Art. 6 Abs. 1 EMRK war daher unter seinem zivilrechtlichen Aspekt auf das Strafverfahren anwendbar, dem sich der Bf. angeschlossen hatte.

(208) […] Es ist unbestritten, dass sich der Bf. dem […] Strafverfahren am 22.6.2005 als Privatbeteiligter anschloss. […] Dieses Verfahren endete mit dem Urteil des Berufungsgerichts Ploieşti vom 7.3.2013. Die Dauer des umstrittenen Verfahrens betrug somit sieben Jahre, acht Monate und zwölf Tage. Es umfasste drei Durchgänge, jeweils auf zwei gerichtlichen Ebenen.

(210) […] Die strafrechtlichen Ermittlungen […] waren von einiger Komplexität […].

(211) […] Der Bf. war zwar während der Anfangsphase der strafrechtlichen Ermittlungen anwaltlich vertreten, stand den Ermittlern aber wegen seines Gesundheitszustands nicht zur Verfügung. Er stellte die beteiligten Ermittler und Richter wiederholt in Frage, ersuchte um die Übertragung des Falls auf andere Gerichte, beantragte mehrere Experten und technische Gutachten, wobei er deren Schlussfolgerungen bestritt, und erhob ein Rechtsmittel gegen ein rechtskräftiges Urteil. Auch wenn dem Bf. weder sein Gesundheitszustand vorgeworfen werden kann noch die Ausschöpfung bestimmter Rechtsbehelfe, die ihm das innerstaatliche Recht zur Verfügung stellte, können auch die nationalen Behörden nicht für die daraus resultierende Zunahme der Verfahrensdauer verantwortlich gemacht werden.

(212) Der GH bemerkt auch, dass die innerstaatlichen Behörden während des Verfahrens nicht untätig geblieben sind und konstant Schritte setzten, Beweise sam-

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melten und bedeutende Fortschritte bei der Klärung des Sachverhalts machten.

(213) Während die Behörden für gewisse Verfahrensmängel verantwortlich gemacht werden können, die zu Verzögerungen führten, […] kann nicht gesagt werden, dass sie ihre Pflicht verletzt hätten, den Fall zügig zu prüfen. Dies gilt umso mehr, […] als das Verfahren nicht in eine jener Kategorien fiel, die ihrer Art nach besondere Sorgfalt erfordern, wie etwa Verfahren über Sorgerecht, Rechtsfähigkeit oder arbeitsrechtliche Streitigkeiten.

(214) Daher ist es im Hinblick auf das Verfahren insgesamt zu keiner Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Anforderung an eine angemessene Verfahrensdauer gekommen (10:7 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Raimondi, Sicilianos, Vučinić, Harutyunyan und der Richterin Karakaş; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter de Gaetano und Vučinić; abweichendes Sondervotum von Richter Kūris).

3. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK

(219) […] Die Beschwerde wurde unter Art. 2 EMRK für zulässig erklärt. […] Der Bf. hatte daher im Hinblick auf diesen Artikel eine vertretbare Behauptung iSv. Art. 13 EMRK.

(220) Es stellt sich daher die Frage, ob dem Bf. nach innerstaatlichem Recht eine wirksame Beschwerde zur Verfügung stand, um eine Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK garantierten Rechte geltend zu machen. Der GH ist allerdings der Ansicht, dass die Beschwerde unter Art. 13 EMRK keine andere Frage betrifft, als jene nach der Effektivität der strafrechtlichen Ermittlungen. Diese

NLMR 3/2019-EGMR
Angelegenheit hat der GH bereits unter Art. 2 EMRK geprüft. Er erachtet es daher […] nicht als notwendig, die Beschwerde auch unter Art. 13 EMRK zu prüfen (einstimmig).

III. Zur Beschwerde betreffend die Behandlung des Bf. durch die an den Ermittlungen beteiligten Behörden

(221) Der Bf. brachte vor, die Behandlung, der er aufgrund der Art und Weise, wie die Behörden mit den Ermittlungen umgegangen sind, unterworfen worden sei, habe eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dargestellt. Der GH wird […] diesen Beschwerdepunkt unter dem substantiellen Aspekt von Art. 3 EMRK prüfen. […]

(226) Der GH […] hat in einigen früheren Fällen die Art und Weise, wie die nationalen Behörden mit einer Untersuchung umgegangen sind, berücksichtigt um zu prüfen, ob ihr Verhalten eine gegen den substantiellen Aspekt von Art. 3 EMRK verstoßende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellte.

(227) Diese Rechtsprechung scheint sich hauptsächlich in Bezug auf die Angehörigen verschwundener Personen entwickelt zu haben. […]

(229) Der GH […] hat diese Grundsätze […] auch in manchen außergewöhnlichen Situationen außerhalb des Kontexts des Verschwindens angewendet […].

(230) Allerdings bemerkt der GH, dass der Fall des Bf. [unter keine dieser Situationen] fällt.

(231) Der GH […] erkennt daher in der Situation des Bf. keinen Anschein einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und [als unzulässig] zurückgewiesen werden muss (einstimmig).

Zuletzt aktualisiert am November 5, 2020 von eurogesetze

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