RECHTSSACHE ROOK gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 1586/15) (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE R. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 1586/15)
URTEIL
STRASSBURG
25. Juli 2019

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache R. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Mārtiņš Mits,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Lәtif Hüseynov,
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 2. Juli 2019,

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 1586/15) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, R. („der Beschwerdeführer“), am 2. Januar 2015 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn J., Rechtsanwalt in A., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer behauptet, in dem gegen ihn geführten Strafverfahren sei ihm und seinem Verteidiger keine hinreichende und angemessene Einsicht in die von den Ermittlungsbehörden im Laufe des gesamten Ermittlungsverfahrens sichergestellten Audiodateien, Textnachrichten und elektronischen Dateien (insbesondere E-Mails und sonstige Textdokumente) gewährt worden. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. b der Konvention.

4. Am 16. September 2016 wurde die Beschwerde der Regierung zur Kenntnis gebracht.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in X.. Er war hochrangiger Manager und zuletzt Geschäftsführer bei einer großen Verbraucherelektronik-Handelskette mit Fachmärkten in Deutschland und anderen europäischen Ländern.

A. Das Ermittlungsverfahren

6. Am 7. Februar 2011 leitete die Staatsanwaltschaft A. aufgrund einer Strafanzeige des Arbeitgebers des Beschwerdeführers ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer und acht weitere Beschuldigte wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr ein. Am 9. November 2011 wurde der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft genommen. Er wurde zunächst in einer Justizvollzugsanstalt in Y. inhaftiert und später in die Justizvollzugsanstalt Z. verlegt. Der Beschwerdeführer ließ sich durch drei Rechtsanwälte als Wahlverteidiger vertreten. Einer hatte seinen Kanzleisitz in B. (im Folgenden „der Verteidiger des Beschwerdeführers“), die anderen beiden in C. und D. (im Folgenden „die anderen beiden Verteidiger“).

1. Telekommunikationsüberwachung

7. In dem Ermittlungsverfahren wurden umfangreiche Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen durchgeführt. Dabei wurden insgesamt ca. 44.970 Telefongespräche und ca. 34.000 weitere Datensätze gespeichert. Letztere umfassten u. a. Text- und Multimedianachrichten, Systemdateien oder Reportdateien der Netzbetreiber, die bei der technischen Kommunikation zwischen Endgerät und Netzbetreiber erzeugt werden. Die Datensätze zu den einzelnen Telekommunikationsvorgängen wurden in ein spezielles kriminalpolizeiliches Datenbanksystem beim Landeskriminalamt des betroffenen Bundeslandes in Y. aufgenommen. Sie wurden von der Polizei analysiert. Schließlich wurden von 28 als relevant eingestuften Telefonaten Verschriftungen angefertigt, ausgedruckt und in die Ermittlungsakte (Papierform) aufgenommen.

2. Elektronische Dateien

8. Bei Durchsuchungen der Wohnung des Beschwerdeführers und anderer Objekte, die zwischen dem 13. Juli 2011 und dem 1. Februar 2012 stattfanden, wurden rund 14 Millionen elektronische Dateien (z. B. E-Mails und andere Textdokumente) sichergestellt, die auf verschiedenen Datenträgern, z. B. Festplatten, gespeichert waren. Der Inhalt eines jeden Datenträgers wurde in eine eigene Image-Datei kopiert und die Datenträger dann an die Berechtigten, einschließlich des Beschwerdeführers, zurückgegeben. Jede Image-Datei enthielt einen vollständigen, digitalen „Abdruck“ des jeweiligen Datenträgers, der mit einem kostenlos im Internet verfügbaren Programm lesbar war. Die Image-Dateien wurden anschließend jedoch in ein spezielles Programm zur forensischen Analyse von Daten eingepflegt, und ihr Inhalt konnte danach nur noch über dieses spezielle, für 4.031,72 Euro erhältliche Programm aufgerufen werden. Nachdem die Daten in dieses Programm eingepflegt worden waren, mussten sie, um mit einem kostenlos im Internet verfügbaren Programm gelesen werden zu können, aus dem speziellen Programm zur forensischen Datenanalyse exportiert und in das Image-Format zurückgerechnet werden. Die vorgenannte Verarbeitung der Daten, insbesondere das Einpflegen in das spezielle Programm zur forensischen Datenanalyse, war Ende Februar 2012 abgeschlossen; gespeichert wurden die Daten beim Landeskriminalamt des betroffenen Bundeslandes in Y.

9. Die Daten wurden von der Polizei analysiert; ca. 1.100 dieser elektronischen Dateien, die als verfahrenserheblich eingestuft wurden, wurden ausgedruckt und in die Papierakte aufgenommen.

3. Einsicht während des Ermittlungsverfahrens

10. Am 10. November 2011 wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers Einsicht in die Ermittlungsakte (Papierform) gewährt; die anderen beiden Verteidiger beantragten zu keinem Zeitpunkt Akteneinsicht. Aus der Akte ging hervor, dass es zu Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gekommen war. Von diesem Zeitpunkt an wurden dem Verteidiger des Beschwerdeführers regelmäßig Aktualisierungen der Papierakte übermittelt, z. B. Verschriftungen abgehörter Telefonate (siehe Rdnr. 7) und Ausdrucke der sichergestellten elektronischen Dateien (siehe Rdnr. 9). Die Information, dass – neben seinen eigenen – noch weitere elektronische Dateien abgerufen worden waren, war in der Papierakte vermerkt worden, die spätestens im Februar 2012 in der oben beschriebenen Weise übermittelt wurde.

11. Am 30. November 2011, nachdem der Verteidiger des Beschwerdeführers erfahren hatte, dass die Telekommunikationsüberwachung weit umfangreicher gewesen war als das, was verschriftet und in die Papierakte aufgenommen worden war (siehe Rdnrn. 7 und 10), beantragte er Einsicht in die „Tonaufzeichnungen der Telefonüberwachung“ sowie die Zurverfügungstellung von Kopien der Tondateien auf CD-ROM bzw. DVD“. Am 2. Dezember 2011 gewährte die Staatsanwaltschaft die beantragte Einsicht. Sie teilte dem Verteidiger des Beschwerdeführers telefonisch mit, dass er in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei während der regulären Öffnungszeiten (Montag bis Freitag 9.00 bis 11.00 Uhr und 14.00 bis 16.00 Uhr) und unter der Aufsicht eines Polizeibeamten Einsicht in die Daten nehmen könne. Gleichzeitig lehnte sie den Antrag auf Zurverfügungstellung von Kopien der Tondateien ab.

12. Der Verteidiger des Beschwerdeführers vereinbarte im Anschluss zwei Termine zur Einsichtnahme in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei, die vor Ende des Jahres 2011 stattfinden sollten. Vor den vereinbarten Terminen fragte die Polizei bei dem Verteidiger des Beschwerdeführers nach, welche Tondateien/Textnachrichten er einsehen wolle. Er teilte daraufhin der Polizei die entsprechenden, von ihm selbst festgelegten Eingrenzungskriterien mit. Die Polizei suchte daraufhin die den Kriterien entsprechenden Dateien heraus und überspielte sie auf ein Notebook, das dem Verteidiger anschließend während des Termins zur Verfügung stand.

13. Am 3. Januar 2012 beantragte die Verteidigung bei der Staatsanwaltschaft A. die Bereitstellung von Listen mit den Rohdaten zu den verschiedenen Telefonanschlüssen, dem jeweiligen Gesprächsdatum, der Dauer der Gespräche, der jeweiligen „Identnummer“ und einem „Link zu der jeweiligen MP3-Datei samt Dateinamen“. Die Staatsanwaltschaft teilte dem Verteidiger noch am selben Tag mit, dass sein Anliegen an die zuständige Einheit der Kriminalpolizei weitergegeben worden sei, da die Staatsanwaltschaft nicht wisse, ob die Erstellung solcher Listen technisch möglich sei. Die Staatsanwaltschaft selbst verfüge nicht über die beantragten Übersichten.

B. Anklage und Akteneinsicht

14. Am 22. Februar 2012 erhob die Staatsanwaltschaft A. vor dem Landgericht E. Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in 91 Fällen. Neben dem Beschwerdeführer wurden noch 8 weitere Personen angeklagt.

1. Einsicht in die Daten aus der Telekommunikationsüberwachung

15. Zwischen dem 22. Februar 2012 und dem 6. Juni 2012 hatte der Verteidiger des Beschwerdeführers vier weitere Termine zur Einsichtnahme in die Daten aus der Telekommunikationsüberwachung (siehe Rdnr. 11). Bei einem Termin im April 2012 wurde ihm eine ausgedruckte Tabelle zur Verfügung gestellt, in der die gemäß den ausgewählten Eingrenzungskriterien auf das Notebook überspielten Datensätze aufgeführt waren. Diese Liste enthielt das Datum und die Uhrzeit des Beginns der Gespräche, das Datum und die Uhrzeit der Beendigung der Gespräche, die Telefonnummern des überwachten Anschlusses und des Partneranschlusses, eine Einschätzung, ob die Gespräche „relevant“ oder „nicht relevant“ waren, sowie eine technische Identifikationsnummer, anhand derer sich die MP3-Datei jedes einzelnen Gesprächs finden und aufrufen ließ. Die Liste wies auch die gespeicherten Textnachrichten aus (bzw. bei längeren Nachrichten Teile davon).

16. Am 12. März 2012 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers beim Landgericht E. Einsicht in die Tondateien der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung, und zwar in Form einer nur lesbaren Kopie auf DVD oder CD, die nach Abschluss des Strafverfahrens zurückgegeben würde.

17. Am 22. März 2012 lehnte das Landgericht E. den Antrag ab. Es verwies im Wesentlichen auf den vorangegangenen Vortrag der Staatsanwaltschaft zu dieser Frage, wonach die Dateien selbst Beweismittel seien, auf deren Überlassung die Verteidigung keinen Rechtsanspruch habe. Dies gelte umso mehr, als die Dateien auch Daten enthielten, die den Kernbereich der privaten Lebensführung beträfen; die Staatsanwaltschaft sei zur Löschung dieser Dateien verpflichtet, könnte dieser Verpflichtung aber nicht mehr vollständig nachkommen, wenn sie diese als Kopie an die Verteidigung herausgeben würde. Insgesamt sei in ausreichendem Maße Einsicht gewährt worden.

18. Am 3. Mai 2012 erstrecktedas Landgericht auf die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 23. April 2012 hin die Einsicht auch auf die Telekommunikationsüberwachungsdateien. Es entschied, dass sämtliche Datensätze auf ein Notebook zu überspielen seien, das in der Justizvollzugsanstalt, in der der Beschwerdeführer inhaftiert sei, zu hinterlegen sei, und dass die Verteidigung die Telefonate in der Justizvollzugsanstalt gemeinsam mit dem Beschwerdeführer anhören dürfe, und zwar unter Aufsicht eines Polizeibeamten, um sicherzustellen, dass keine Einsicht in aufgezeichnete Telefonate gewährt würde, die den Kernbereich der privaten Lebensführung Dritter beträfen. Soweit die Beschwerde des Beschwerdeführers über die gewährte Einsicht hinausging, insbesondere, soweit er die Überlassung einer Kopie der Dateien anstrebte, wies das Landgericht die Beschwerde zurück und ordnete ihre Vorlage an das Oberlandesgericht Y. an.

19. Am 9. Mai 2012 stand das Notebook mit den aufgespielten Daten zur Einsichtnahme während der regulären Besuchszeiten (Montag bis Freitag, 8.00 bis 11.00 Uhr und 13.00 bis 16.00 Uhr) in der Justizvollzugsanstalt, in der der Beschwerdeführer inhaftiert war, bereit. Der Verteidiger des Beschwerdeführers machte jedoch zu keinem Zeitpunkt von der Möglichkeit Gebrauch, in der Justizvollzugsanstalt Einsicht in die Dateien zu nehmen, sondern vereinbarte eine Einsichtnahme in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei (siehe Rdnr. 11 f., Rdnrn. 15 und 28).

20. Am 25. Mai 2012 verwarf das Oberlandesgericht Y. die Beschwerde des Beschwerdeführers im Übrigen als unbegründet. Das Gericht nahm auf die entsprechenden Ausführungen der Staatsanwaltschaft und die vorangegangenen Entscheidungen des Landgerichts Bezug und befand, dass keine Veranlassung bestehe, der Verteidigung über die bereits gewährte Einsicht hinaus Kopien sämtlicher im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung gefertigter Aufzeichnungen zu überlassen. Ferner sei es aus Verteidigungssicht zwar nachvollziehbar, dass mithilfe einer Liste mit den Einzelheiten der jeweiligen Gespräche die relevanten Gespräche rascher gefunden und angehört werden könnten, doch bestehe kein Anspruch auf die Anfertigung einer derartigen Liste.

2. Einsicht in die elektronischen Dateien

21. Am 3. April 2012 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers die Überlassung einer Kopie der 14 Millionen elektronischen Dateien (siehe Rdnrn. 8 und 10).

22. Am 18. April 2012 teilte die Staatsanwaltschaft dem Landgericht E. mit, dass eine Überlassung der rund 14 Millionen Dateien aufgrund der beim Landeskriminalamt des betroffenen Bundeslandes erfolgten Aufbereitung des Materials und Einspeisung in das System nicht möglich sein werde (siehe Rdnr. 8). Ebenso wenig könne man dem Verteidiger des Beschwerdeführers Fernzugriff zum polizeilichen Dateienauswertungsprogramm ermöglichen. Er könne sich aber an die Polizei wenden, um eine einvernehmliche Lösung auszuarbeiten. Diese Stellungnahme wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 23. April 2012 übermittelt.

23. Am 30. April 2012 teilte das Landgericht dem Verteidiger des Beschwerdeführers mit, dass seitens des Gerichts grundsätzlich keine Einwände gegen eine Einsicht in die 14 Millionen gesicherten Dateien bestünden. Das Gericht regte an, sich diesbezüglich an den zuständigen Polizeibeamten zu wenden. Ob angesichts der Masse der Daten eine Kopie gefertigt werden könne, könne das Gericht nicht beurteilen.

24. Am 3. Mai 2012 teilte das Landgericht dem Verteidiger des Beschwerdeführers mit, dass nach Rücksprache mit dem zuständigen Polizeibeamten die Möglichkeit bestehe, beim Landeskriminalamt des betroffenen Bundeslandes sämtliche gesicherten E-Mails auf einen externen Datenträger aufzuspielen, was bei Überlassung eines geeigneten Datenträgers veranlasst werden würde.

25. Am 9. Mai 2012 übergab der Verteidiger des Beschwerdeführers der Polizei eine Festplatte. An diesem Tag wurde ihm auch mitgeteilt, dass zum Lesen der Daten ein spezielles Programm zur forensischen Datenanalyse erforderlich sei, da die Daten in ein solches Programm eingepflegt worden seien und nicht mehr im Originalformat vorlägen (siehe Rdnr. 8); außerdem wurden ihm die Kontaktdaten einer Firma genannt, die diese Software vertrieb. Am 18. Mai 2012 stand die Festplatte mit den Dateien bereit und wurde am 22. Mai 2012 durch die Verteidigung abgeholt.

26. Am 22. Mai 2012 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers nach der Erkenntnis, dass das spezielle Programm zur forensischen Datenanalyse 4.031,72 Euro kostete (siehe Rdnr. 8), beim Landgericht E., dass die Strafverfolgungsbehörden entweder die Lizenz für die Software der Firma erwerben und zur Verfügung stellen, oder die Übernahme der Kosten von 4.031,72 Euro für den Ankauf der Software zu Lasten der Staatskasse erklärt wird.

C. Verhandlungen

27. Vom 6. Juni 2012 bis zum 21. Dezember 2012 verhandelte das Landgericht E. an 22 Tagen.

1. Einsicht in die Daten aus der Telekommunikationsüberwachung

28. Bis zum Ende des Verfahrens am 21. Dezember 2012 nahm der Verteidiger des Beschwerdeführers weitere 16 Mal Einsicht in die Tondateien aus der Telekommunikationsüberwachung, wobei keiner dieser Termine nach dem 31. Oktober 2012 stattfand (siehe Rdnr. 11).

29. Am 26. Juni 2012, dem zweiten Verhandlungstag, beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers die Aussetzung des Verfahrens und begründete dies u. a. damit, dass nur so eine hinreichende Einsicht in die Datensätze aus der Telekommunikationsüberwachung möglich sei.

30. Am 28. Juli 2012, einem weiteren Verhandlungstag, informierte der Vorsitzende den Verteidiger des Beschwerdeführers über die Möglichkeit, sich bei der Einsicht in die Daten von Justizangestellten unterstützen zu lassen.

2. Einsicht in die elektronischen Dateien

31. Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens vom 26. Juni 2012 (siehe Rdnr. 29) wurde zusätzlich damit begründet, dass die Gelegenheit gewährleistet werden solle, zumindest Stichproben der rund 14 Millionen elektronischen Dateien mit Anspruch auf Verlässlichkeit einsehen und auswerten zu können.

32. Am 16. Juli 2012 lehnte das Landgericht im Hinblick auf den Antrag vom 22. Mai 2012 (siehe Rdnr. 26) den Erwerb der Softwarelizenz durch die Strafverfolgungsbehörden sowie die Übernahme der Kosten von 4.031,72 Euro durch die Staatskasse ab. Zur Begründung führte es aus, das Programm sei auf dem freien Markt erhältlich und es sei nicht Aufgabe des Gerichts, dem Verteidiger des Beschwerdeführers die technische Ausstattung zur Verfügung zu stellen, um Einsicht in die Akten nehmen oder Beweisstücke besichtigen zu können. Anderes könne nach den Grundsätzen des Rechts auf ein faires Verfahren und dem Prinzip der Waffengleichheit allenfalls gelten, wenn der Verteidiger einen völlig unverhältnismäßigen Aufwand betreiben müsste, die technische Ausstattung nicht beschaffbar sei oder der Angeklagte nicht in Vorleistung treten könne. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Der Beschwerdeführer könne es sich leisten, sich von drei Rechtsanwälten verteidigen zu lassen. Damit könne davon ausgegangen werden, dass er über ausreichende finanzielle Mittel verfüge, um eine Softwarelizenz zu erwerben.

33. Am 19. Juli 2012 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers, ihm die Daten in „unverschlüsselter Form“ zu überlassen. Am 23. Juli 2012 teilte die Staatsanwaltschaft der Verteidigung mit, dass es nun doch möglich sei, die elektronischen Dateien aus dem speziellen Programm für forensische Datenanalyse zu exportieren und in ein Image-Format zurück zu konvertieren, das mit einer kostenlos im Internet verfügbaren Software lesbar sei (siehe Rdnr. 8). Wenn die Verteidigung die Daten in diesem Format wünsche und Festplatten bereitstelle, würden ihr die Daten zur Verfügung gestellt. Am 31. Juli 2012 übergab der Verteidiger des Beschwerdeführers der Polizei zwei Festplatten, die am folgenden Tag an den zuständigen Beamten übersandt wurden. Am 4. September 2012 wurden die beiden Festplatten mit den Daten im Image-Format, die mit einer kostenlos im Internet erhältlichen Software lesbar waren, an den Verteidiger des Beschwerdeführers übergeben.

3. Ablehnung des Antrags auf Aussetzung des Verfahrens

34. Am 14. November 2012, einem weiteren Verhandlungstag, lehnte das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Verfahrens ab (siehe Rdnrn. 29 und 31). Hinsichtlich der Telekommunikationsüberwachung nahm es auf seine vorangegangenen Entscheidungen zum Umfang der Akteneinsicht Bezug, die in hinreichendem Maße gewährt worden sei. Es wies auch darauf hin, dass die Verteidigung kaum von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, sich von Justizangestellten unterstützen zu lassen, dass nur einer der drei Verteidiger überhaupt von seinem Recht auf Akteneinsicht Gebrauch gemacht habe und dass dieser Verteidiger zu mehreren Terminen zur Besichtigung von Beweisstücken nicht erschienen sei und bei Abwesenheit nicht für eine Vertretung gesorgt habe. Hinsichtlich der 14 Millionen elektronischen Dateien habe für den Verteidiger, nachdem er zunächst Einsicht in die Ermittlungsakte beantragt habe (siehe Rdnr. 10), jederzeit die Möglichkeit bestanden, in den Räumlichkeiten der Polizei Einsicht in die Dateien zu nehmen, von der er jedoch keinen Gebrauch gemacht habe. Darüber hinaus seien ihm die Dateien am 22. Mai 2012 in einem Format, das nur mit dem speziellen Programm für forensische Datenanalyse auf Kosten der Verteidigung lesbar gewesen sei (siehe Rdnrn. 8, 25, 26 und 32), und am 4. September 2012 in einem Format, das mit einer kostenlos im Internet verfügbaren Software lesbar gewesen sei (siehe Rdnr. 33), zur Verfügung gestellt worden.

D. Urteil

35. Am 21. Dezember 2012 erließ das Landgericht sein Urteil und sprach den Beschwerdeführer und vier Mitangeklagte schuldig. Der Beschwerdeführer wurde wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in 63 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Im Übrigen wurde er freigesprochen.

E. Rechtsmittelverfahren

36. Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer Revision beim Bundesgerichtshof ein. Er trug u. a. vor, dass seine Verteidigung durch die Ablehnung des Aussetzungsantrags eingeschränkt worden sei, weil er und sein Verteidiger nicht ausreichend Zeit und Gelegenheit gehabt hätten, die Dateien aus der Telekommunikationsüberwachung und die sichergestellten elektronischen Daten zu prüfen.

37. Am 11. Februar 2014 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts in Bezug auf drei Fälle der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr auf, verwarf jedoch die weitergehende Revision als unbegründet.

1. Einsicht in die Daten aus der Telekommunikationsüberwachung

38. Hinsichtlich des Zugangs zu den Daten aus der Telekommunikationsüberwachung wies das Gericht darauf hin, dass die Daten der Verteidigung ab dem 9. Mai 2012 in der Justizvollzugsanstalt zur Verfügung gestanden hätten, und zwar auf einem Notebook mit einer Liste, aus der sich Datum und Uhrzeit der Gespräche sowie der Inhalt der Textnachrichten ergäben hätten (siehe Rdnrn. 15 und 19). Auch habe der Verteidiger des Beschwerdeführers nach dem 31. Oktober 2012 keine weiteren Termine zum Anhören von Tondateien vereinbart (siehe Rdnr. 28). Zudem habe für den Verteidiger die Möglichkeit bestanden, sämtliche im Ermittlungsverfahren erlangten Tondateien in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei anzuhören. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b der Konvention befand das Gericht, es sei daher nicht ersichtlich, dass die Verteidigung nicht ausreichend Zeit hatte, um sich die Tondateien anzuhören. Der Bundesgerichtshof betonte insbesondere, dem Verteidiger des Beschwerdeführers sei weder anzulasten, dass er sich bei der Sichtung der Beweismittel nicht weiterer Hilfspersonen bedient habe, noch könne ihm zum Vorwurf gemacht werden, dass die beiden anderen Verteidiger des Beschwerdeführers nicht von ihrem Recht auf Besichtigung der Beweisstücke Gebrauch gemacht hätten. Das Gericht erklärte ausdrücklich, dass das Recht auf Akteneinsicht in vollem Umfang für jeden der Verteidiger in eigener Person bestehe. Jedoch habe die Verteidigung nicht hinreichend von den ihr eröffneten Möglichkeiten zur Einsicht in die Daten aus der Telekommunikationsüberwachung Gebrauch gemacht.

2. Einsicht in die elektronischen Dateien

39. Hinsichtlich der Einsichtnahme in die im Rahmen von Durchsuchungen sichergestellten Daten führte das Gericht aus, es müsse nicht über die Frage entscheiden, ob der Beschwerdeführer zur Anschaffung einer speziellen Software zum Lesbarmachen der Dateien auf eigene Kosten verpflichtet gewesen sei. Es stellte jedoch klar, dass daran Zweifel bestehen könnten, wenn wie im vorliegenden Fall die von den Ermittlungsbehörden erlangten Daten in einer mit Standardprogrammen lesbaren Form vorgelegen und die Lesbarkeit allein mit einer speziellen Software erst durch anschließende Verschlüsselungsmaßnahmen hervorgerufen worden seien (siehe Rdnr. 8). Insgesamt kam das Gericht zum Schluss, dass die Verteidigung ausreichend Zeit zur Einsichtnahme in die Dateien gehabt habe, da ihr die Daten ab dem 4. September 2012 in einer mit Standardprogrammen lesbaren Form zur Verfügung gestanden hätten (siehe Rdnr. 33). Zu jenem Zeitpunkt seien es noch drei Monate bis zum Erlass des Urteils gewesen.

F. Verfassungsbeschwerde

40. Am 25. Juni 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die von dem Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 726/14).

G. Weitere Entwicklungen

41. Nach dem Ende des Strafverfahrens reichte der ehemalige Arbeitgeber des Beschwerdeführers Zivilklage auf Schadenersatz und Rückerstattung gegen ihn ein, weil er Bestechungsgelder angenommen habe. Am 31. Mai 2017 wies das Landgericht F., nachdem es Beweise erhoben und mehrere Zeugen angehört hatte, die Klage ab, weil es nicht mit hinreichender Gewissheit feststellen könne, dass der Beschwerdeführer tatsächlich an mit Bestechung in Zusammenhang stehenden Geschäften beteiligt gewesen sei oder selbst Bestechungsgelder angenommen habe. Der Unterschied zwischen den Feststellungen des Landgerichts A. und des Landgerichts F. war im Wesentlichen auf eine unterschiedliche Bewertung der Zuverlässigkeit der Aussagen des Hauptbelastungszeugen zurückzuführen, die das Landgericht F. als nicht hinreichend gegeben ansah.

42. Am 26. Februar 2019 wies das Oberlandesgericht G. ein vom Arbeitgeber des Beschwerdeführers eingelegtes Rechtsmittel zurück und bestätigte das Urteil des Landgerichts F.

43. Nach dem Urteil des Landgerichts F. beantragte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Am 27. März 2018 wies das Landgericht H. den Antrag des Beschwerdeführers zurück. Das Gericht befand, dass die unterschiedliche Beweiswürdigung durch das Landgericht F. eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht erforderlich mache, weil das Wiederaufnahmeverfahren kein Rechtsmittel zur Überprüfung vorangegangener Entscheidungen darstelle, sondern neuer Tatsachen oder Beweismittel bedürfe. Da jedoch die im Zivilverfahren erhobenen Beweismittel auch im Strafverfahren erhoben worden seien, lägen keine neuen Beweismittel vor. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer am 11. April 2018 Rechtsmittel ein. Dem Gerichtshof wurden keine Informationen zum weiteren Verlauf dieses Verfahrens vorgelegt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

44. Das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht ist in § 147 Strafprozessordnung geregelt, der wie folgt lautet:

§ 147 Akteneinsichtsrecht, Besichtigungsrecht; Auskunftsrecht des Beschuldigten

„(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen.

(2) Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann. Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen; in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren.

(3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden.

(4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.

(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen auf. Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.

(7) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind auf seinen Antrag Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Absatz 2 Satz 2 erster Halbsatz, Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 UND 3 DER KONVENTION

45. Der Beschwerdeführer rügte, dass in dem gegen ihn geführten Strafverfahren ihm und seinem Verteidiger keine hinreichende und angemessene Einsicht in die von den Ermittlungsbehörden sichergestellten 45.000 Tondateien, 34.000 Textnachrichten und 14 Millionen E-Mail- und Textdateien gewährten worden sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) „Jede Person hat ein Recht darauf, dass … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage … in einem fairen Verfahren, öffentlich… verhandelt wird.

3. Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

[…]

b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; […]“

46. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

47. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

48. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Verteidigung angesichts der gewaltigen Datenmenge nicht ausreichend Gelegenheit gehabt habe, sich durch Anhören bzw. Durchlesen der Dateien mit diesen in ihrer Gesamtheit vertraut zu machen oder zumindest die relevanten Teile zu identifizieren, um die Verteidigung vorzubereiten. Dies gelte umso mehr, als einem Rechtsanwalt nicht zugemutet werden könne, sich ausschließlich und jeden Tag mit einem einzelnen Fall zu befassen, und der Fall des Beschwerdeführers auch noch weitere zeitaufwändige Tätigkeiten erfordert habe, beispielsweise die Teilnahme an 22 Hauptverhandlungstagen.

49. Zudem habe es erhebliche Schwierigkeiten beim Zugang zu den Daten gegeben, insbesondere hätten mit der Polizei Termine in deren Räumlichkeiten vereinbart werden müssen, weil die Daten dort gespeichert gewesen seien, und bei der Prüfung der abgehörten Telefonate sei die Anwesenheit eines Beamten erforderlich gewesen. Dies sei umso schwieriger gewesen, als die Termine auf die regulären Öffnungszeiten beschränkt gewesen seien. Die Möglichkeit, ohne unnötige Beschränkungen Einsicht in die Daten zu nehmen, habe in Bezug auf die Telekommunikationsüberwachung erst ab dem 9. Mai 2012 und in Bezug auf die elektronischen Dateien erst ab dem 4. September 2012 bestanden. Soweit die innerstaatlichen Gerichte und die Regierung den Verteidiger dafür kritisiert hätten, dass er ab Oktober 2012 keine Besuchstermine zur Besichtigung der Telekommunikationsüberwachungsdaten mehr vereinbart habe, sei zu berücksichtigen, dass die Verteidigung zu dieser Zeit damit beschäftigt gewesen sei, die 14 Millionen elektronischen Dateien zu analysieren, die erst im September 2012 zur Verfügung gestellt worden seien. Zudem hätten die Behörden es nach der Bereitstellung der Daten versäumt, dem Beschwerdeführer eine Liste der Daten zur Verfügung zu stellen, die es ermöglicht hätte, die relevanten und nicht relevanten Daten zu identifizieren. Die Arbeit des Verteidigers des Beschwerdeführers wäre erheblich erleichtert worden, wenn die Behörden dem Beschwerdeführer bereits viel früher eine Zugangssoftware für die elektronischen Dateien zur Verfügung gestellt hätten. Es sei nicht hinnehmbar gewesen, dass sie von ihm verlangt hätten, rund 4.000 Euro dafür zu bezahlen.

50. Insgesamt sei nach Auffassung des Beschwerdeführers das Verfahren daher nicht mit dem Grundsatz der Waffengleichheit vereinbar gewesen.

(b) Die Regierung

51. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass der Verteidigung auf ihren Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht hin Einsicht in alle Daten und zu jeder Zeit gewährt worden sei. Die als verfahrensrelevant angesehenen Daten seien nach der Inhaftierung des Beschwerdeführers und später nach deren Aufnahme in die Papierakte im PDF-Format zur Verfügung gestellt worden. Ab dem 2. Dezember 2011 sei es dem Verteidiger des Beschwerdeführers gestattet gewesen, in den Räumlichkeiten der Polizei Einsicht in sämtliche Daten aus der Telekommunikationsüberwachung zu nehmen. Ab Ende Februar 2012 habe dies auch für die inzwischen verarbeiteten 14 Millionen elektronischen Dateien gegolten. Ab dem 9. Mai 2012 (Telekommunikationsüberwachung) und dem 4. September 2012 (elektronische Dateien) habe auch der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt, persönlich Einsicht in sämtliche Daten zu nehmen. Insgesamt sei daher ausreichend Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung gewährt worden.

52. Zu berücksichtigen sei Folgendes: dass die Polizei – obwohl sie dazu nicht verpflichtet gewesen sei – mehrere Listen erstellt habe, um dem Verteidiger des Beschwerdeführers die umfassende Analyse der Daten zu erleichtern; dass es möglich gewesen sei, die Suche nach entsprechenden Kriterien, etwa bestimmte Daten, Zeiträume, Telefonanschlüsse und Telefonverbindungen, einzugrenzen; dass die Verteidiger des Beschwerdeführers keine weiteren Termine vereinbart hätten; dass er keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht habe, die Akten von Justizangestellten durchgehen zu lassen; dass er erst deutlich später, als es ihm möglich gewesen wäre, Einsicht in sämtliche Akten beantragt habe und dass nur einer der drei Verteidiger Gebrauch von der Möglichkeit gemacht habe, Einsicht in die Daten zu nehmen.

53. Es sei darüber hinaus nicht erforderlich gewesen, der Verteidigung zu ermöglichen, jede einzelne Datei anzuhören bzw. zu lesen, vielmehr habe die Möglichkeit ausgereicht, die relevanten und nicht relevanten Dateien auf der Grundlage von Eingrenzungskriterien zu identifizieren, etwa der Telefonanschluss, von dem aus ein Gespräch getätigt wurde, oder ein Telefonanschluss, der innerhalb eines bestimmten Zeitraums angerufen wurde. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer, der an den in dem Prozess untersuchten Vorgängen beteiligt gewesen sei, über das zur Identifizierung etwaiger verteidigungsrelevanter Telefonate notwendige Wissen verfügt habe.

54. Die Regierung war ferner der Auffassung, es habe keinen Konventionsverstoß dargestellt, dass nicht sämtliche Daten aus der Telekommunikationsüberwachung kopiert und dem Verteidiger des Beschwerdeführers überlassen worden seien. Der Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers sei gerechtfertigt gewesen, da er dem Schutz der Rechte der betroffenen Dritten gedient habe. Bei rund 45.000 abgehörten Telefongesprächen sei es sehr wahrscheinlich gewesen, dass sich darunter auch private, selbst intime Gespräche befunden hätten, die keinen Bezug zu den untersuchten Vorgängen aufwiesen. Es habe die gesetzliche Verpflichtung bestanden, diese (Teile der) aufgezeichneten Gespräche nicht anzuhören. Bei der Prüfung der Gespräche durch den Verteidiger und/oder den Beschwerdeführer sei diese Verpflichtung durch die Anwesenheit eines beaufsichtigenden Polizeibeamten umgesetzt worden, die auch der Unterstützung des Verteidigers bei Fragen bezüglich der Datenanalyse gedient habe. Wenn die Daten dem Verteidiger des Beschwerdeführers überlassen worden wären, hätte diese Verpflichtung nicht mehr erfüllt werden können.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

55. Da die Erfordernisse aus Artikel 6 Abs. 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 anzusehen sind, wird der Gerichtshof die Rüge nach diesen beiden Bestimmungen zusammengenommen prüfen. Dabei wird der Gerichtshof jeden der dieser Beschwerde zugrundeliegenden Gründe prüfen, um festzustellen, ob das Verfahren insgesamt fair war (siehe, mit weiteren Nachweisen, Huseyn u. a. ./. Aserbaidschan, Individualbeschwerde Nr. 35485/05 und drei weitere, Rdnr. 158, 26. Juli 2011).

(a) Allgemeine Grundsätze

56. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, was das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren in einer Strafsache bedeutet, nämlich dass sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung Gelegenheit gegeben werden muss, Kenntnis von den Stellungnahmen und Beweismitteln der Gegenseite zu nehmen und sich dazu zu äußern (siehe Brandstetter ./. Österreich, 28. August 1991, Rdnrn. 66 bis 67, Serie A Bd. 211). Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b garantiert der angeklagten Person „ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung“ und impliziert daher, dass ihre Verteidigung in materieller Hinsicht alles umfassen kann, was zur Vorbereitung der Hauptverhandlung „notwendig“ ist. Die angeklagte Person muss Gelegenheit haben, ihre Verteidigung in geeigneter Weise zu organisieren, ohne dass die Möglichkeit eingeschränkt wird, alle relevanten Argumente der Verteidigung vor dem Tatgericht vorzutragen und damit Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens zu nehmen (siehe Can ./. Österreich, 30. September 1985, Auffassung der Kommission, Rdnr. 53, Serie A Nr. 96; Connolly ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 27245/95, Entscheidung der Kommission vom 26. Juni 1996, und Mayzit ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 63378/00, Rdnr. 78, 20. Januar 2005).

57. Zu den Möglichkeiten, die jede einer Straftat angeklagte Person haben sollte, gehört die Gelegenheit, sich zur Vorbereitung ihrer Verteidigung mit den Ergebnissen der während des Verfahrens durchgeführten Ermittlungen vertraut zu machen (siehe C.G.P. ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 29835/96, 15. Januar 1997, und Foucher ./. Frankreich, 18. März 1997, Rdnrn. 31 bis 38, Reports of Judgments and Decisions 1997-II). Der angeklagten Person muss uneingeschränkte Akteneinsicht gewährt werden (Matanović ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 2742/12, Rdnr. 159, 4. April 2017). Die Frage, ob die der angeklagten Person gewährte Zeit und gewährten Möglichkeiten angemessen waren, ist im Lichte der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu bewerten (Khodorkovskiy und Lebedev./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 11082/06 und 13772/05, Rdnr. 579, 25. Juli 2013).

58. Ganz abgesehen von der Gelegenheit, Kenntnis von den Stellungnahmen und Beweismitteln der Gegenseite zu nehmen und sich dazu zu äußern (vgl. Rdnrn. 56 bis 57; vgl. auch Rowe und Davis ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28901/95, Rdnr. 60, ECHR 2000‑II), erfordert das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren in einer Strafsache auch, dass die Strafverfolgungsbehörden der Verteidigung gegenüber sämtliche in ihrem Besitz befindliche maßgebliche Beweismittel („material evidence“), die für oder gegen die beschuldigte Person sprechen, offenlegen (siehe Edwards ./. Vereinigtes Königreich, 16. Dezember 1992, Rdnr. 36, Serie A Bd. 247‑B, und Rowe und Davis, a.a.O., Rdnr. 60). Der Begriff maßgebliche Beweismittel kann nicht eng ausgelegt werden, d. h. er kann nicht auf Beweismittel beschränkt werden, die von der Anklage als relevant angesehen werden. Vielmehr umfasst er das gesamte im Besitz der Behörden befindliche Material, das potentiell relevant ist, auch wenn es überhaupt nicht berücksichtigt oder als nicht relevant angesehen wird (vgl. Edwards, a.a.O., Rdnr. 36; Bendenoun ./. Frankreich, 24. Februar 1994, Rdnr. 52, Serie A Bd. 284; und Rowe und Davis, a.a.O., Rdnr. 60). Würden der Verteidigung gegenüber maßgebliche Beweismittel nicht offengelegt, die Einzelheiten enthalten, aufgrund derer sich die angeklagte Person entlasten oder eine Strafminderung erreichen könnte, würde dies eine Verweigerung der zur Vorbereitung der Verteidigung notwendigen Möglichkeiten darstellen (siehe Natunen ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 21022/04, Rdnr. 43, 31. März 2009; Matanović, a.a.O., Rdnr. 157).

59. Jedoch hindert die Konvention die Mitgliedstaaten nicht daran, von einem Beschwerdeführer zu verlangen, stichhaltige Gründe für die Offenlegung solcher Beweismittel vorzubringen (siehe Matanović, a.a.O., Rdnr. 157; Bendenoun, a.a.O., Rdnr. 52; C.G.P. ./. Niederlande, a.a.O., und Natunen, a.a.O., Rdnrn. 43 bis 50). Der Gerichtshof hat auch die Auffassung vertreten, dass der Anspruch auf eine solche Offenlegung von maßgeblichen Beweismitteln kein absolutes Recht darstellt. In einem Strafverfahren kann es widerstreitende Interessen geben, die gegen die Rechte des Beschuldigten abzuwägen sind. In einigen Fällen kann es notwendig sein, der Verteidigung bestimmte Beweismittel vorzuenthalten, um die Grundrechte Dritter zu schützen oder wichtige öffentliche Interessen zu wahren. Jedoch sind Maßnahmen, die die Rechte der Verteidigung einschränken, nach Artikel 6 Abs. 1 nur zulässig, wenn sie unbedingt erforderlich („strictly necessary“) sind. Um ferner sicherzustellen, dass der Beschuldigte ein faires Verfahren erhält, müssen Schwierigkeiten, die der Verteidigung durch die Einschränkung ihrer Rechte entstanden sind, durch das Vorgehen der Justizbehörden hinreichend ausgeglichen werden (siehe Rowe und Davis, a.a.O., Rdnr. 61, mit weiteren Nachweisen).

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

60. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer rügte, sein Verteidiger habe nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, sich zur Vorbereitung der Verteidigung mit sämtlichen Daten aus der Telekommunikationsüberwachung vertraut zu machen oder zumindest die relevanten Daten und Dateien zu identifizieren, die beide in ganz erheblichem Umfang im Ermittlungsstadium des Verfahrens generiert bzw. erfasst wurden; es geht nicht um die Frage, ob die Erlangung des Materials an sich mit der Konvention vereinbar war. Der Gerichtshof wird sich mit dieser Rüge unter den folgenden gesonderten Rubriken befassen: Einsicht in die Verfahrensakte, Offenlegung der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung und Offenlegung der elektronischen Verfahrensakten.

(i) Einsicht in die Verfahrensakte

61. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Staatsanwaltschaft und die innerstaatlichen Gerichte den Verteidigern des Beschwerdeführers vom Tag seiner Inhaftierung bis zum Ende des Verfahrens Einsicht in die Ermittlungsakte in Papierform gewährten (siehe Rdnr. 10), deren Umfang dem Gerichtshof nicht mitgeteilt wurde. Nach der Verhaftung und dann nochmals nach der Anklageerhebung stellten sie ihm eine umfassende Übersicht über die erhobenen Vorwürfe und die angeführten Beweismittel zur Verfügung. Sie überließen ihm nicht nur eine Kopie der Ermittlungsakte, sondern übersandten ihm fortlaufend Aktualisierungen dieser Akte, einschließlich Kopien der 28 Verschriftungen von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung und ca. 1.100 ausgedruckte elektronische Dateien (siehe Rdnrn. 7, 9 und 10). Der Beschwerdeführer hat weder geltend gemacht, noch gibt es sonstige Hinweise darauf, dass Daten, Dateien oder Dokumente, die Bestandteil dieser Papierakte waren – bzw. hätten sein sollen, weil sie Grundlage der Anklage und Verurteilung waren – nicht frühzeitig genug an den Verteidiger übermittelt wurden, damit er sich vor oder während des Prozesses mit ihnen vertraut machen und eventuell die Verteidigung entsprechend anpassen konnte.

62. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass erstmals im November 2011 Einsicht in die Papierakte gewährt wurde, wohingegen der Prozess im Juni 2012 begann und bis Dezember 2012 dauerte. Innerhalb dieses Zeitrahmens war die Gelegenheit zur Akteneinsicht im Wesentlichen uneingeschränkt gegeben. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers ungeachtet des konkreten Seiten- und sonstigen Umfangs der Ermittlungsakte die Gelegenheit hatte, sich mit dieser vertraut zu machen. Dies gilt umso mehr, als der Beschwerdeführer noch zwei weitere Verteidiger hatte, die den Ausführungen der Parteien zufolge nie Einsicht in die Ermittlungsakte beantragten. Auch die Kontaktmöglichkeiten zwischen dem Verteidiger und dem inhaftierten Beschwerdeführer zur Vorbereitung der Verteidigung waren nicht in unangemessener Weise eingeschränkt. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers ausreichend Gelegenheit hatte, die Ermittlungsakte eingehend mit ihm zu erörtern, um die Verteidigung wirksam vorzubereiten.

63. Darüber hinaus nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die in der Tat enorme Menge an Telekommunikationsüberwachungsdaten und elektronischen Dateien, die im Laufe der Ermittlungen generiert bzw. erfasst wurden, nur zu einem geringen Teil in der Papierakte enthalten waren. Da sie von der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft als für die Vorwürfe nicht relevant angesehen wurden, wurden sie auf Polizeicomputern gespeichert. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof ferner fest, dass auch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte bei der Einarbeitung in den Fall im Wesentlichen auf die Ermittlungsakte und die später in der Hauptverhandlung vorgebrachten Beweismittel beschränkt waren. Sie verwendeten diese weiteren Dateien weder in ihrer Gesamtheit noch einzelne Teile davon und stützten anschließend weder die Anklage gegen den Beschwerdeführer noch seine Verurteilung auf sie. Vor diesem Hintergrund war die Zeit, die der Verteidigung gewährt wurde, um sich mit den verhältnismäßig umfangreichen Ermittlungsergebnissen vertraut zu machen, ausreichend.

64. In Anbetracht dessen befindet der Gerichtshof, dass unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger ausreichend Akteneinsicht gewährt wurde, um die Vorbereitung auf seinen Prozess zu ermöglichen.

(ii) Offenlegung der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung

65. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Staatsanwaltschaft und die innerstaatlichen Gerichte, ohne von dem Beschwerdeführer eine konkrete Begründung für seinen Antrag zu verlangen, bereits wenige Tage nach der Beantragung die Offenlegung sämtlicher Daten aus der Telekommunikationsüberwachung gestatteten (siehe Rdnr. 11). Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass die Behörden dem Verteidiger des Beschwerdeführers anschließend zwar keine Kopie der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung zur Verfügung stellten, ihm aber gestatteten, diese Daten einzusehen, zunächst nach Terminvereinbarung in den Räumlichkeiten der Polizei zu den regulären Öffnungszeiten und in Anwesenheit eines Polizeibeamten und ab dem 9. Mai 2012 dann zusätzlich nach Terminvereinbarung zu den regulären Besuchszeiten auch in der Justizvollzugsanstalt, und zwar gemeinsam mit dem Beschwerdeführer und ebenfalls in Anwesenheit eines Polizeibeamten (siehe Rdnr. 19). Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest – auch wenn er es nicht für erforderlich hält, dass der Beschwerdeführer seine Verteidigungsstrategie erklärt –, dass der Beschwerdeführer weder in dem innerstaatlichen Verfahren noch vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, auf welche Weise genau die vorgebrachten Beschränkungen seine Verteidigungsmöglichkeiten beeinträchtigt haben sollen.

66. Der Beschwerdeführer rügte in diesem Zusammenhang, dass seinem Verteidiger keine Kopie der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung überlassen worden sei und dass die Daten nicht ohne die Anwesenheit eines Polizeibeamten hätten eingesehen werden können. Die Regierung machte geltend, dass diese Maßnahmen gerechtfertigt gewesen seien, um die Rechte derer zu schützen, deren Gespräche möglicherweise aufgezeichnet worden seien. Es bestehe eine gesetzliche Verpflichtung, das Anhören privater oder gar die Intimsphäre betreffender Teile der aufgezeichneten Gespräche zu unterbinden; diese Verpflichtung sei von wesentlicher Bedeutung gewesen, um die Telekommunikationsüberwachung an sich zu legitimieren, und sei daher durch die Anwesenheit eines Polizeibeamten durchzusetzen gewesen. Diese Erläuterungen, denen der Beschwerdeführer im Wesentlichen nicht widersprochen hat, erscheinen dem Gerichtshof vernünftig.

67. Der Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, dass es seinem Verteidiger aufgrund der zeitlichen Beschränkungen und des erheblichen Umfangs der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung nicht möglich gewesen sei, diese in ihrer Gesamtheit anzuhören bzw. zu lesen. Nach Ansicht der Regierung sei es nicht notwendig gewesen, es zu ermöglichen, jede einzelne Aufzeichnung anzuhören und jede einzelne Textnachricht zu lesen. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass es angesichts der Komplexität des in Rede stehenden Strafverfahrens (siehe Gregačević ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 58331/09, Rdnr. 53, 10. Juli 2012) nicht erforderlich war, dem Verteidiger des Beschwerdeführers die Gelegenheit zu geben, jedes einzelne Element der Telekommunikationsüberwachungsdaten anzuhören bzw. zu lesen. Vielmehr war es grundsätzlich ausreichend, dem Verteidiger des Beschwerdeführers eine wirksame Möglichkeit zu eröffnen, die Aufzeichnungen und Textnachrichten zu analysieren, um die von ihm als relevant angesehenen Teile zu identifizieren und diese dann anzuhören bzw. zu lesen. In diesem Zusammenhang ist sich der Gerichtshof der Tatsache bewusst, dass moderne Ermittlungsinstrumente, wie im vorliegenden Fall, in der Tat enorme Mengen an Daten generieren, deren Einbindung in das Strafverfahren keine unnötigen Verfahrensverzögerungen verursachen sollte. Er vertritt daher die Auffassung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Offenlegung nicht mit seinem Recht auf Einsicht in sämtliches von den Behörden als relevant angesehenes Material verwechselt werden darf, das grundsätzlich die Möglichkeit voraussetzt, das Material in seiner Gesamtheit verstehen zu können (siehe als Ausnahme Khodorkovskiy und Lebedev, a.a.O., Rdnrn. 581 bis 85).

68. Soweit der Beschwerdeführer rügte, dass seinem Verteidiger nicht ausreichend Gelegenheit gewährt worden sei, um relevante Aufzeichnungen und Textnachrichten zu identifizieren, stellt der Gerichtshof fest, dass der zuständige Polizeibeamte dem Verteidiger des Beschwerdeführers, der vermutlich nicht mit der Software zur Analyse der Daten aus der Telekommunikationsüberwachung vertraut war, behilflich war. Zunächst stellte die Polizei dem Verteidiger des Beschwerdeführers die Daten zur Verfügung, die aufgrund bestimmter, von ihm selbst ausgewählter Eingrenzungskriterien generiert wurden (siehe Rdnr. 12). Anschließend stellte sie ihm Listen zur Verfügung, die umfangreiche Informationen zu den erlangten Telekommunikationsdaten enthielten (siehe Rdnr. 15). Soweit der Beschwerdeführer behauptete, die Listen hätten nicht dem entsprochen, was er beantragt habe, hat er nicht substantiiert, weshalb die relevanten Daten nicht dadurch hätten identifiziert werden können, dass die Menge der tatsächlich anzuhörenden Daten anhand der Eingrenzungskriterien und der zur Verfügung gestellten Listen erheblich verringert worden wäre. Tatsächlich hat es den Anschein, dass es möglich gewesen wäre, die Suche einzugrenzen, indem nach bestimmten Telefonanschlüssen und Verbindungen zwischen bestimmten Telefonanschlüssen innerhalb eines bestimmten Zeitraums gesucht worden wäre, und so insgesamt eine erhebliche Verringerung der potentiell relevanten Daten zu erreichen. Darüber hinaus erschien der Verteidiger des Beschwerdeführers – von dem zumindest eine gewisse Verlagerung seines Arbeitsschwerpunkts hätte erwartet werden können (siehe M. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 62116/00, ECHR 2005‑VII, mit weiteren Nachweisen), auch wenn die Terminvereinbarung mit der Polizei und der Justizvollzugsanstalt insbesondere aufgrund der beschränkten Öffnungs- bzw. Besuchszeiten (siehe Rdnrn. 11 und 19) schwierig war – innerhalb eines Zeitraums von mehr als einem Jahr lediglich zu 22 Terminen zur Einsichtnahme in die Daten, und dies anscheinend nie gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt und nicht mehr nach dem 31. Oktober 2012. Zugleich machte er weder von der Möglichkeit Gebrauch, sich von einem Justizangestellten vertreten zu lassen, wie vom Gericht vorgeschlagen, noch geht aus dem Vortrag des Beschwerdeführers hervor, dass seine anderen beiden Verteidiger maßgeblich in die Analyse, das Anhören und das Lesen des betreffenden Materials eingebunden gewesen wären. Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Beschwerdeführer als der von den Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen Betroffene am besten gewusst haben dürfte, nach welchen Telekommunikationsüberwachungsdaten zu suchen war. Für den Gerichtshof ist daher nicht ersichtlich, dass die Behörden der Verteidigung nur eine unwirksame Gelegenheit zur Identifizierung der relevanten Dateien gewährten.

69. In Anbetracht dessen befindet der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführer unter den Umständen der Rechtssache ausreichend Zeit hatte, um sich mit den Daten aus der Telekommunikationsüberwachung vertraut zu machen.

(iii) Offenlegung der elektronischen Dateien

70. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers ab Ende Februar 2012, als ihm auch bewusst sein musste, dass neben seinen eigenen noch weitere elektronische Dateien erlangt worden waren, sämtliche elektronischen Dateien in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei hätte einsehen können, was er aber nie tat. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass, nachdem der Beschwerdeführer erst am 3. April 2012 (siehe Rdnr. 21) die Offenlegung sämtlicher elektronischer Dateien beantragt hatte, die Behörden dem nicht grundsätzlich widersprachen, sondern bereit waren, die Einsicht zu gewähren. In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die Behörden dem Beschwerdeführer am 22. Mai 2012 eine Kopie sämtlicher elektronischer Dateien zur Verfügung stellten. Diese Kopie war jedoch nur mit einer kostspieligen Software lesbar, die Rechtsanwälten und Privatpersonen üblicherweise nicht zur Verfügung zu stehen scheint (siehe Rdnrn. 8 und 25). Daher zeigen die Vorgänge nach dem Antrag vom 3. April 2012, insbesondere der Streit über die Frage, ob die Kosten für das kostspielige spezielle Programm zur forensischen Datenanalyse der Staatskasse auferlegt werden sollten (siehe Rdnrn. 26 und 32), dass es angesichts der Verschlüsselung einer enormen Datenmenge praktische Schwierigkeiten gab. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass die Verteidigung im Juli 2012 eine Bitte um Bereitstellung einer Kopie in einem mit kostenlos verfügbarer Software lesbaren Format an die Behörden richtete, der diese kurzfristig zustimmten (siehe Rdnr. 33). Der Verteidiger des Beschwerdeführers stellte Ende Juli 2012 zwei Festplatten zur Verfügung und die Daten wurden am 4. September 2012 bereitgestellt (siehe Rdnr. 33). Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest – auch wenn er es nicht für erforderlich hält, dass der Beschwerdeführer seine Verteidigungsstrategie erklärt –, dass der Beschwerdeführer weder in dem innerstaatlichen Verfahren noch vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, auf welche Weise genau die vorgebrachten Beschränkungen seine Verteidigungsmöglichkeiten beeinträchtigt haben soll.

71. Hinsichtlich der Rüge, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers nicht ausreichend Gelegenheit erhalten habe, sich mit den Akten in ihrer Gesamtheit vertraut zu machen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die gewährte Einsicht aus den oben genannten Gründen (siehe Rdnr. 67) grundsätzlich ausreichend war, um dem Verteidiger des Beschwerdeführers eine wirksame Gelegenheit zu geben, die elektronischen Daten zu analysieren und die von ihm als relevant eingestuften zu identifizieren.

72. Hinsichtlich der Rüge, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers nicht ausreichend Gelegenheit gegeben worden sei, um die relevanten Dateien zu identifizieren, stellt der Gerichtshof fest, dass sich aus den Stellungnahmen der Parteien nicht entnehmen lässt, um welche Art von Dateien es sich bei den 14 Millionen elektronischen Dateien, die aus der Sicherstellung einer Reihe von Speichermedien stammten, genau handelte. Die Art der Dateien muss jedoch eine erste Identifizierung von Dateien, die möglicherweise für das Strafverfahren relevant waren, erlaubt und somit bereits eine erhebliche Verringerung der tatsächlich zu begutachtenden Dateien ermöglicht haben. Zudem müssen die elektronischen Dateien von unterschiedlichen Personen gestammt haben – darunter der Beschwerdeführer, womit er ihren Inhalt am besten gekannt haben dürfte – und aus einem längeren Zeitraum, was eine weitere Verringerung der Eingrenzungskriterien ermöglicht haben müsste. Nach Ansicht des Gerichtshof war es daher ausreichend, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers, von dem zumindest eine gewisse Verlagerung seines Arbeitsschwerpunkts hätte erwartet werden können (M., a.a.O., mit weiteren Nachweisen), mindestens vom 4. September 2012, als ihm eine mit kostenloser Software vollständig lesbare Kopie zur Verfügung gestellt wurde, bis zum Erlass des Urteils am 21. Dezember 2012, also dreieinhalb Monate zur Verfügung standen – und damit ausreichend Zeit –, um die elektronischen Daten zu analysieren und die als relevant angesehenen zu identifizieren.

73. Selbst unter der Annahme, dass sich der Verteidiger des Beschwerdeführers erst ab dem 4. September 2012 mit den Dateien vertraut machen konnte, bedeutet die bloße Tatsache, dass das Gerichtsverfahren bereits begonnen hatte, nicht, dass die Vorbereitungszeit unzureichend war. Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, verlangt Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention nicht, dass die Vorbereitung eines sich über einen gewissen Zeitraum erstreckenden Prozesses bereits vor Beginn des ersten Verhandlungstermins abgeschlossen sein muss. Die Frage ist vielmehr, ob die vor dem Ende der Hauptverhandlung zur Verfügung stehende Zeit ausreichend war (M., a.a.O.).

74. Die vorstehenden Ausführungen reichen aus, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass der Beschwerdeführer unter den Umständen der Rechtssache ausreichend Zeit hatte, um sich mit den elektronischen Dateien vertraut zu machen.

(c) Schlussfolgerung

75. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention nicht verletzt worden. Das Verfahren war insgesamt fair.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 25. Juli 2019 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                   Yonko Grozev
Kanzlerin                                   Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 5, 2020 von eurogesetze

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