EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE C. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 48144/09)
URTEIL
STRASSBURG
15. Januar 2015
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache C. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Vincent A. De Gaetano,
André Potocki,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 2. Dezember 2014
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
DAS VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 48144/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, C. („der Beschwerdeführer“), am 7. September 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in G., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre zwei Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Behrens und Frau Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Ausführungen des Landgerichts in den Gründen seines ihn freisprechenden Urteils einer Schuldfeststellung gleichkämen, wodurch der in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt werde.
4. Am 14. Oktober 2013 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in X.
A. Hintergrund der Rechtssache
6. 1994 wurde A., die Tochter des Beschwerdeführers, geboren. Seit ihrer Trennung im September 1994 führten der Beschwerdeführer und A.s Mutter, Frau J., Auseinandersetzungen über das Sorgerecht für A. und Umgangskontakte mit ihr. Das Kind lebte ursprünglich bei der Mutter. 2004 wurde A. in einer Heimeinrichtung untergebracht.
7. Am 9. November 2006 erstattete Frau J. bei der Polizei Anzeige gegen den Beschwerdeführer und gab an, dass die gemeinsame Tochter seit 1998 von ihm vergewaltigt werde. Da A. beharrlich erklärte, dass sie nicht zu einer Aussage bei der Polizei bereit sei, wurde das Verfahren zunächst eingestellt. Nach einem Besuch von A. bei ihrer Mutter teilte diese der Polizei mit, dass A. nunmehr zu einer Aussage bereit sei. Im Mai 2007 wurde A. zwei Mal polizeilich vernommen. Am 5. November 2007 legte die psychologische Sachverständige K. ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit von A.s Aussage vor.
8. Am 18. Januar 2008 erhob die Staatsanwaltschaft Münster Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen fünfzehnfachen schweren sexuellen Missbrauchs (§ 176a StGB, siehe Rdnr. 19) und sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 StGB, siehe Rdnr. 20), seiner Tochter A., begangen im Zeitraum von Anfang 2002 bis zum Sommer 2004 meist in S. und Umgebung. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, A. nach der Trennung der Eltern bei seinen Wochenendtreffen mit ihr sowie im Urlaub in dreizehn Fällen in seinem Auto und in zwei Fällen in einem Urlaubsappartement vergewaltigt zu haben.
9. Der Beschwerdeführer befand sich vom 14. Februar 2008 bis zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls am 26. Februar 2008 in Untersuchungshaft.
B. Das Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten
1. Das Verfahren vor dem Landgericht
10. Am 17. September 2008 sprach das Landgericht Münster den Beschwerdeführer nach fünf Hauptverhandlungsterminen aufgrund unzureichender Beweislage frei. Es entschied ferner, dass die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers der Staatskasse auferlegt würden und der Beschwerdeführer für die Untersuchungshaft vom 14. bis 26. Februar 2008 zu entschädigen sei.
11. Unter Berücksichtigung der Aussagen mehrerer Zeugen und der (divergierenden) Gutachten der beiden psychologischen Sachverständigen K. und B. zur Glaubhaftigkeit von A.s Aussage befand das Landgericht, dass die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe nicht mit der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Sicherheit belegbar seien. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer die Vorwürfe bestritten habe. Er werde allein durch A.s Aussage belastet. A.s Zeugenaussage in der Hauptverhandlung habe das Landgericht nicht von der vollständigen Richtigkeit der Anklagevorwürfe überzeugen können, insbesondere hinsichtlich einer klaren Bestimmung der Taten und ihrer zeitlichen Einordnung.
12. Unter Berücksichtigung der Zeugenaussagen zweier Erzieherinnen, denen Anzeichen für sexuellen Missbrauch an A.s Verhalten aufgefallen seien, zweier Psychologinnen, die A. behandelt hätten, und einer Freundin von A. sei das Landgericht nicht davon überzeugt, dass A. von Dritten, einschließlich ihrer Mutter, dahingehend beeinflusst worden sei, dass sie ihren Vater belaste.
13. Das Landgericht führte in seinem Urteil sodann aus:
„[…] Zusammengefasst sind Anhaltspunkte einer Suggestion für die Kammer nicht ersichtlich.
So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist. Die Taten ließen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren. Die Inkonstanzen in den Aussagen der Zeugin waren so gravierend, dass konkrete Feststellungen nicht getroffen werden konnten.“
14. Das Landgericht berücksichtigte bei seiner Entscheidungsfindung, dass die Zeugin A. einen authentischen Eindruck gemacht habe. Zwar sei ihre Aussage knapp gewesen und sie habe relativ unbeteiligt gewirkt. Allerdings hätten sieben Zeugen, die A. zum Teil über einen längeren Zeitraum gekannt hätten, bekundet, dass dies ihrem allgemeinen Sprachgebrauch und Verhalten entspreche und sie Probleme nicht in Einzelheiten bespreche.
15. Das Landgericht stellte allerdings fest, dass selbst unter Berücksichtigung dessen die Unstimmigkeiten in A.s Bekundungen in einem Maße überwögen, dass es keine Feststellungen zu konkreten Taten treffen könne. Die Aussage der Zeugin enthalte Unstimmigkeiten in Bezug auf die Anzahl der von ihr beschriebenen Handlungen (zwischen 25 und 50), den Ort ihrer Begehung (insbesondere im Hinblick auf Handlungen in einem Urlaubsappartement, die die Zeugin erst später zur Sprache gebracht habe) und die Tatzeiträume (beginnend im Alter von vier bis acht Jahren und bis zur Unterbringung im Heim oder auch noch während des Heimaufenthalts). Überdies sei A. in der Hauptverhandlung hinsichtlich der genauen Ausführung der von ihr beschriebenen Handlungen in dem Auto unsicher gewesen und habe zu mehreren Punkten keine genauen Erinnerungen gehabt. So habe A. in der Hauptverhandlung erhebliche Unsicherheiten zum Beispiel dahingehend gezeigt, ob der Beschwerdeführer innerhalb des Autos zu ihr auf den Beifahrersitz gekommen, oder zunächst ausgestiegen und um das Auto herumgegangen sei. Außerdem habe A. in der Hauptverhandlung mehrfach angegeben, sie habe keine genaue Erinnerung an die Geschehnisse mehr.
16. Das Urteil wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 11. November 2008 zugestellt und wurde anschließend rechtskräftig.
2. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
17. Am 9. Dezember 2008 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, die Feststellung des Landgerichts, „dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist“, habe sein Grundrecht auf ein faires Verfahren, seine Persönlichkeitsrechte und seine menschliche Würde verletzt.
18. Am 10. März 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2499/08). Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 19. März 2009 zugestellt.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Vorschriften des Strafgesetzbuchs
19. § 176a StGB regelt den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, d. h. Personen unter 14 Jahren. In der vor dem 1. April 2004 geltenden Fassung besagte die Bestimmung insbesondere, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft wird, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Seit 1. April 2004 wird der gleiche Straftatbestand mit Freiheitsstrafe von nicht weniger als zwei Jahren bestraft.
20. § 174 StGB betrifft den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. In der vor dem 1. April 2004 geltenden Fassung sah die Bestimmung insbesondere vor, dass mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft wird, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist, vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen lässt. Seit 1. April 2004 wird der gleiche Straftatbestand mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
B. Bestimmungen der Strafprozessordnung
21. § 203 StPO sieht vor, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint.
22. Nach § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
23. Nach § 261 StPO entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Überzeugung in diesem Sinne bedeutet ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, die zu vernünftigen Zweifeln in einer für den Schuldspruch relevanten Frage keinen Anlass gibt (siehe Bundesgerichtshof, 2 StR 551/87, Urteil vom 8. Januar 1988, Rdnr. 4).
C. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
24. Das Bundesverfassungsgericht weist in seiner ständigen Rechtsprechung wiederholt darauf hin, dass die Unschuldsvermutung eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips sei und damit Verfassungsrang habe. Kraft des Artikels 6 Abs. 2 der Konvention sei sie auch Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland und habe den Rang von Bundesrecht. Sie schütze den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkämen, denen aber kein rechtsstaatliches Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen sei (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, Beschluss vom 29. Mai 1990, Rdnr. 33 mit weiteren Verweisen; 2 BvR 1590/89, Beschluss vom 16. Dezember 1991, Rdnr. 24; 2 BvR 878/05, Beschluss vom 17. November 2005, Rdnr. 18; und 2 BvR 1975/06, Beschluss vom 14. Januar 2008, Rdnr. 9).
25. Das Bundesverfassungsgericht stellte weiterhin fest, dass Schuldfeststellungen in den Gründen eines vor Abschluss der Hauptverhandlung ergangenen Einstellungsbeschlusses zu einer Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung führen könnten. In aller Regel könne sich eine Grundrechtsbeschwer zwar nur aus dem Tenor einer Entscheidung ergeben, weil dieser allein deren Rechtsfolgen verbindlich bestimme. In einzelnen Ausführungen der Gründe könne aber eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegen, wenn durch diese eine strafrechtliche Schuld attestiert werde, obwohl das Verfahren vor Abschluss der Hauptverhandlung eingestellt worden sei. Im Gegensatz dazu könne in den Ausführungen der Entscheidungsgründe keine Verletzung der Unschuldsvermutung liegen, wenn die Hauptverhandlung abgeschlossen und die Sache daher reif für eine Entscheidung des Gerichts über die Schuld des Beschuldigten gewesen sei (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, a. a. O., Rdnrn. 39-40; 2 BvR 2588/93, Beschluss vom 6. Februar 1995, Rdnr. 9).
26. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schließt die Unschuldsvermutung nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen. Allerdings müsse dabei aus den Gründen deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung handele, sondern nur um die Beschreibung einer Verdachtslage. Die Frage, ob das Gericht diese Standards erfüllt hat, sei im Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, a. a. O., Rdnrn. 41-42 und 2 BvR 878/05, a. a. O., Rdnr. 20 [beide im Zusammenhang mit Beschwerden über Strafverfahren, die wegen einer allenfalls geringfügigen Schuld des Beschuldigten eingestellt wurden]; und 2 BvR 1590/89, a. a. O., Rdnr. 25 [im Zusammenhang mit einer Beschwerde über ein Strafverfahren, das wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt wurde]).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 2 DER KONVENTION
27. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Ausführungen des Landgerichts in den Gründen des ihn freisprechenden Urteils einer Schuldfeststellung gleichkämen und sein Recht auf ein faires Verfahren sowie den in Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten.
28. Der Gerichtshof wird die Rüge des Beschwerdeführers allein nach Artikel 6 Abs. 2 prüfen und zwarim Hinblick auf die Tatsache, dass der in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung eines der Merkmale eines fairen Strafverfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 darstellt (siehe u. a. Allenet de Ribemont ./. Frankreich, 10. Februar 1995, Rdnr. 35, Serie A Band 308; Vassilios Stavropoulos ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 35522/04, Rdnr. 35, 27. September 2007; und Virabyan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 40094/05, Rdnr. 185, 2. Oktober 2012), das in ersterer Bestimmung konkret genannt wird. Artikel 6 Abs. 2 lautet wie folgt:
„2. Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
29. Die Regierung bestritt das Vorbringen des Beschwerdeführers.
A. Zulässigkeit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Die Regierung
30. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht auf die Urteilsbegründung eines Tatgerichts anzuwenden sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere auf dessen Beschluss vom 29. Mai 1990, siehe Rdnrn. 24-26) brachte die Regierung vor, dass die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 einen rein formalen Charakter habe. Sei der gegen den Angeklagten bestehende Verdacht nach Abschluss der Hauptverhandlung, in der dieser seine Verteidigungsrechte habe ausüben können, nicht ausgeräumt, könne aber auch nicht gesetzlich bewiesen werden, so ergebe sich ein Anspruch auf eine freisprechende Urteilsformel. Im Gegensatz dazu habe der Angeklagte im Hinblick auf die Urteilsbegründung des innerstaatlichen Gerichts keine weiteren Ansprüche. Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen wie im vorliegenden Fall könne ergehen, auch wenn erhebliche Verdachtsmomente gegen den Angeklagten bestehen blieben. Ein solcher Freispruch sei daher rein prozessual-formaler Natur, und zwar in dem Sinne, dass die prozessualen Voraussetzungen für eine Verurteilung nicht erfüllt waren. Im Gegensatz zu einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld rehabilitiere er den Angeklagten, der kein Recht nach Artikel 6 Abs. 2 habe, von allen Verdachtsmomenten befreit zu werden, nicht auf der ethisch-moralischen Ebene.
(b) Der Beschwerdeführer
31. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge ist das Recht auf Achtung der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention auf die Urteilsgründe anzuwenden. Es schütze den Angeklagten vor Ausführungen eines Strafgerichts, die über die reine Beschreibung verbleibender Zweifel hinausgingen und einen Freispruch relativierten und es anderen staatlichen Stellen und der Öffentlichkeit daher nahelegten, den Angeklagten der ihm zur Last gelegten Taten für schuldig zu halten.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
32. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Unschuldsvermutung verletzt wird, wenn eine Gerichtsentscheidung, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, die Auffassung widerspiegelt, diese sei schuldig, bevor der gesetzliche Beweis ihrer Schuld erbracht worden ist (siehe u. a., Allenet de Ribemont, a. a. O., Rdnr. 35; Rushiti ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 28389/95, Rdnr. 31, 21. März 2000; Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 35; und Tendam ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 25720/05, Rdnr. 35, 13. Juli 2010).
33. Im Hinblick auf die Geltungsdauer der Unschuldsvermutung weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 für „jede Person, die einer Straftat angeklagt ist“, gilt. Wird die Unschuldsvermutung als verfahrensrechtliche Garantie im Zusammenhang mit einem Strafverfahren an sich betrachtet, ergeben sich Anforderungen im Hinblick u. a. auf die Beweislast, gesetzliche Vermutungen zu Sach- und Rechtsfragen, das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit, Öffentlichkeit im Vorfeld des Prozesses („pre-trial publicity“) und vorzeitige Äußerungen zur Schuld des Angeklagten durch das Strafgericht oder andere Amtsträger (siehe Allen ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnr. 93, ECHR 2013, mit zahlreichen Verweisen).
34. In Fällen, in denen ein Strafgericht eine Anklage ablehnte und den Beschuldigten freisprach oder das Verfahren gegen ihn einstellte, haben sowohl der Gerichtshof als auch die Kommission unterstrichen, dass die Gründe einer innerstaatlichen Gerichtsentscheidung mit dem Tenor ein Ganzes bilden und sich nicht von diesem trennen lassen. Daher hatten die Konventionsorgane die Gründe der innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen im Lichte des Grundsatzes der Unschuldsvermutung zu prüfen, auch wenn die Anklage abgelehnt worden war (siehe Adolf ./. Österreich, 26. März 1982, Rdnrn. 38-39, Serie A Band 49, im Hinblick auf die Gründe einer Entscheidung über die Einstellung des Strafverfahrens wegen geringfügiger Schuld des Beschuldigten; und T.H. ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 15260/89, Kommissionsentscheidung vom 29. Juni 1992, im Hinblick auf die Gründe eines den Angeklagten freisprechenden Urteils).
35. Entsprechend der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass das in Artikel 6 Abs. 2 garantierte Recht praktisch und wirksam ist, findet der Grundsatz der Unschuldsvermutung darüber hinaus nicht nur im Zusammenhang mit anhängigen Strafverfahren Anwendung. Er schützt Personen, die von einer strafrechtlichen Anklage freigesprochen wurden oder deren Strafverfahren eingestellt wurden, auch davor, dass sie von Amtsträgern oder staatlichen Stellen behandelt werden, als wären sie der ihnen vorgeworfenen Taten tatsächlich schuldig (siehe Allen, a. a. O., Rdnr. 94). Auch der Ruf der betroffenen Person und die Art ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit stehen nach Abschluss des Strafverfahrens auf dem Spiel. Bis zu einem gewissen Grad kann sich der nach Artikel 6 Abs. 2 in diesem Zusammenhang gewährte Schutz mit dem nach Artikel 8 gewährten Schutz überschneiden (siehe Allen, a. a. O., Rdnr. 94 mit weiteren Verweisen).
36. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass nach einem rechtskräftigen Freispruch (und sei es ein Freispruch, bei dem die Zweifel nach Artikel 6 Abs. 2 zugunsten des Angeklagten gewertet wurden) das Äußern eines Schuldverdachts gegen den Betroffenen – einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen – mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar ist (siehe Rushiti, a. a. O., Rdnr. 31; Vostic ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 38549/97, Rdnr. 19, 17. Oktober 2002; Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 38; und Tendam, a. a. O., Rdnrn. 36, 39). Der Tenor eines freisprechenden Urteils ist von allen staatlichen Stellen, die direkt oder indirekt auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betroffenen Person Bezug nehmen, zu achten (siehe Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 39; und Tendam, a. a. O., Rdnr. 37).
37. Der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung gewährleistete Schutz erlischt, sobald der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Straftat ordnungsgemäß für schuldig erklärt wurde (siehe Phillips ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 41087/98, Rdnr. 35, ECHR 2001‑VII; und Allen, a. a. O., Rdnr. 106). Artikel 6 Abs. 2 kann nicht im Zusammenhang mit Feststellungen über den Charakter und das Verhalten des Angeklagten angewendet werden, solange diese Feststellungen nach ihrer Natur oder ihrem Gewicht nicht zu einer neuen „Anklage“ werden (siehe Phillips, ebenda).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
38. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache eine Rüge betrifft, der zufolge die Gründe, die das innerstaatliche Strafgericht nach Abschluss der gegen den angeklagten Beschwerdeführer geführten Hauptverhandlung wegen Sexualstraftaten in seinem Urteil angeführt hat, in dem der Beschwerdeführer aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 verletzten.
39. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer zu dem Zeitpunkt, als das Tatgericht sein Urteil erließ, „einer Straftat angeklagt“ war, namentlich des schweren sexuellen Missbrauchs und sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, seiner Tochter A., wie es für die Anwendung des Artikels 6 Abs. 2 erforderlich ist. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.
40. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht auf die Gründe anzuwenden sei, die ein Tatgericht in einem den Angeklagten freisprechenden Urteil angeführt habe. Er erkennt an, dass die große Mehrzahl der Individualbeschwerden, mit denen eine Frage nach Artikel 6 Abs. 2 aufgeworfen wird, entweder den Anwendungsbereich des Grundsatzes der Unschuldsvermutung vor der Beurteilung der Schuld des Angeklagten durch das Tatgericht betrifft, oder den durch diese Bestimmung gewährten Schutz nach einem endgültigen Freispruch oder der Einstellung des Verfahrens (siehe Rdnrn. 33 und 35-36).
41. Im Gegensatz dazu betrifft die vorliegende Rechtssache eine mutmaßliche Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch ein innerstaatliches Gericht zu einem Zeitpunkt, als es nach Abschluss der Hauptverhandlung unter Würdigung aller ihm vorliegenden Beweismittel eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld des Beschwerdeführers zu treffen und diese zu begründen hatte. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 36) ergibt sich, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung das Tatgericht in diesem Verfahrensstadium nicht daran hindert, einen verbleibenden Verdacht gegen den Angeklagten zu äußern, wenn es diesen wegen Mangels an Beweisen von den Vorwürfen freispricht. Dies lässt sich aus dem Verbot des Äußerns eines Schuldverdachts gegen den Betroffenen – einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen (Hervorhebung nicht im Original) – nach einem rechtskräftigen Freispruch ableiten (ebenda). Allerdings erlischt der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung gewährleistete Schutz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erst dann, wenn der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Straftat ordnungsgemäß für schuldig erklärt wurde (siehe Rdnr. 37), was bei einem Freispruch niemals der Fall ist. Folglich ist der Grundsatz der Unschuldsvermutung auf die Gründe anzuwenden, die in einem Urteil angeführt werden, in dessen Tenor – von dem sich diese Gründe nicht trennen lassen – der Angeklagte freigesprochen wird (siehe insbesondere T.H. ./. Schweden, a. a. O.; und vgl.Adolf, a. a. O., Rdnrn. 38-39, beide in Rdnr. 34 in Bezug genommen). Er kann verletzt sein, wenn die Gründe die Auffassung widerspiegeln, dass der Angeklagte tatsächlich schuldig ist (siehe Rdnr. 32).
42. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention Anwendung findet. Die diesbezügliche Einwendung der Regierung ist daher zurückzuweisen.
43. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Der Beschwerdeführer
44. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Gründe des landgerichtlichen Urteils hätten den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt. Er betonte, das Landgericht habe in seinem schriftlichen Urteil die Auffassung vertreten, „dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist“. Er war der Auffassung, diese Ausführungen kämen einer Schuldfeststellung gleich, obwohl ihn das Landgericht in seinem Urteil aufgrund unzureichender Beweislage freigesprochen habe.
45. Der Beschwerdeführer erkannte an, dass das Landgericht ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen könne, wenn der gegen ihn bestehende Verdacht nicht vollständig ausgeräumt werden könne. In seinem Fall zeigten die beanstandeten Ausführungen des innerstaatlichen Gerichts jedoch, dass es von seiner Schuld überzeugt gewesen sei, was dem Tenor des ihn freisprechenden Urteils widerspreche und ihn daher willkürlich moralisch verurteile. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (u. a. auf die Rechtssachen Rushiti, a. a. O., und Vostic, a. a. O.) brachte er vor, dass Prognosen zur Schuld eines Angeklagten, die einer Schuldfeststellung gleichkämen, gegen Artikel 6 Abs. 2 verstießen.
46. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, das Landgericht habe in seinem Urteil entgegen seiner Verpflichtungen aus den §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO (siehe Rdnrn. 22-23) nicht alle Faktoren dargelegt, die für die Entscheidung von Bedeutung seien. Das Landgericht habe es insbesondere versäumt, in seinen Entscheidungsgründen anzugeben, dass der psychologische Sachverständige B., den das Gericht auf Initiative des Beschwerdeführers angehört habe, davon ausgegangen sei, dass A.s Aussagen keinen realen Hintergrund hätten, sondern das Ergebnis einer Suggestion durch Dritte seien. Dies sei darüber hinaus von einem anderen Sachverständigen bestätigt worden, der in dem anschließend von ihm gegen den Sachverständigen K. angestrengten zivilrechtlichen Schadenersatzverfahren angehört worden sei. Die Tatsache, dass das Landgericht die beanstandeten Ausführungen gemacht habe, statt sich mit der zentralen Frage der Suggestion zu befassen, zeige, dass es den Grundsatz der Unschuldsvermutung missachtet habe.
47. Der Beschwerdeführer betonte, dass die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts, dem sein langjähriger Kampf um Umgang mit A., seiner einzigen Tochter, bekannt gewesen sei, insofern eine Außenwirkung gehabt hätten (und wohl auch haben sollten), als das Familiengericht in einem späteren Verfahren jeglichen Umgang mit seiner Tochter ausgeschlossen habe. Darüber hinaus habe die Staatsanwaltschaft bei der Einstellung des vom Beschwerdeführer gegen Frau J. angestrengten Strafverfahrens auf die beanstandeten Ausführungen Bezug genommen. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass er als Ergebnis der beanstandeten Ausführungen in der Öffentlichkeit dauerhaft stigmatisiert sei.
(b) Die Regierung
48. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Vermutung der Unschuld bis zum gesetzlichen Beweis der Schuld nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention durch die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts nicht verletzt worden sei. Vielmehr könnten die Entscheidungsgründe des Landgerichts als Beleg dafür herangezogen werden, dass es seine aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung resultierenden Pflichten ernst genommen habe. Trotz der aufgrund beruflicher Erfahrung und unmittelbarer Wahrnehmung des Beschwerdeführers und der Zeugen in der Hauptverhandlung gewonnenen Auffassung, dass die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe im Kern berechtigt seien, hätten die Richter des Landgerichts die Zweifel zugunsten des Beschwerdeführers ausgewertet und die Beweise ohne Vorverurteilung gewürdigt. Angesichts der verbleibenden Zweifel bezüglich Faktoren wie Intensität, Zeit und genaue Umstände der Tathandlungen sowie angesichts der strengen strafprozessualen Beweiswürdigung habe ihn das Landgericht unter Anwendung des aus Artikel 6 Abs. 2 resultierenden Grundsatzes „in dubio pro reo“ freigesprochen. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers habe es daher nicht kundgetan, dass es von der Schuld des Beschwerdeführers überzeugt sei.
49. Dem Vorbringen der Regierung zufolge hat das Landgericht den Beschwerdeführer auch nicht entgegen des Grundsatzes der Unschuldsvermutung vorverurteilt. Es habe seine Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers erst im Urteil, also mit Abschluss der Hauptverhandlung, vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Gericht zur Schuld des Beschwerdeführers äußern müssen.
50. Die Regierung unterstrich, dass die Strafgerichte nach § 244 Abs. 2 und § 261 StPO (siehe Rdnrn. 22-23) verpflichtet seien, die Überlegungen, die für die Urteilsfindung maßgeblich gewesen seien, wiederzugeben, um eine Überprüfung in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu ermöglichen. Im Falle eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen gehörten zu diesen Überlegungen auch Erklärungen dazu, warum der gegen den Angeklagten gerichtete Tatverdacht nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung zwar nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheit habe festgestellt werden können, sich andererseits aber auch nicht habe ausräumen lassen. Belastende Indizien müssten gegen die entlastenden Umstände abgewogen werden.
51. Die Regierung erkannte an, dass staatliche Stellen, die nachfolgend auf Basis des beanstandeten Urteils des Landgerichts Entscheidungen hinsichtlich des Beschwerdeführers zu treffen hätten, sich ausschließlich am Tenor des den Beschwerdeführer freisprechenden Urteils zu orientieren hätten. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung hindere sie daran, die in den Urteilsgründen enthaltenen Ausführungen des Landgerichts zur Schuld des Beschwerdeführers heranzuziehen. Im Gegensatz dazu sei das erkennende Landgericht nicht daran gehindert gewesen, selbst entsprechende Erwägungen in den Gründen festzuhalten (die Regierung verwies zur Stützung seiner Auffassung auf die Rechtssache Tendam, a. a. O., Rdnr. 36). Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, das Familiengericht habe ihm in einem nachfolgenden Verfahren unter Verweis auf die Gründe des Landgerichts das Umgangsrecht mit seiner Tochter verwehrt, habe er jedoch versäumt, gegen diese Entscheidung vorzugehen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
52. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist eine konkrete Ausprägung der Unschuldsvermutung (siehe Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 39; und Tendam, . a. O., Rdnr. 37).
53. In Fällen, in denen es um eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch eine Gerichtsentscheidung geht, die die Auffassung widerspiegelt, dass eine einer Straftat angeklagte Person schuldig sei, ohne dass der gesetzliche Beweis ihrer Schuld erbracht worden ist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine gerichtliche Entscheidung diese Auffassung auch ohne formellen Schuldspruch widerspiegeln darf; es reicht aus, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Gericht den Angeklagten für schuldig hält (siehe Minelli ./. Schweiz, 25. März 1983, Rdnr. 37, Serie A Band 62; Baars ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 44320/98, Rdnr. 26, 28. Oktober 2003; Petyo Petkov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 32130/03, Rdnr. 90, 7. Januar 2010; und Tendam, a. a. O., Rdnr. 35). Eine Schuldfeststellung ohne rechtskräftige Verurteilung ist in diesem Zusammenhang von der Beschreibung einer „Verdachtslage“ zu unterscheiden. Während ersteres den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt, galt letzteres in zahlreichen vom Gerichtshof geprüften Situationen als nicht zu beanstanden (vgl. L. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 62, Serie A Band 123; E. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 39, Serie A Band 123; N. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 39, Serie A Band 123; und Virabyan, a. a. O., Rdnr. 186).
54. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass in Fällen, in denen es um die Einhaltung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung geht, die von der entscheidenden Person verwendete Sprache bei der Beurteilung der Frage, ob die Entscheidung und ihre Gründe mit Artikel 6 Abs. 2 vereinbar sind, von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. Petyo Petkov, a. a. O., Rdnr. 90; und Allen, a. a. O., Rdnr. 126).
55. In dem Zusammenhang sind die Art und der Kontext des betreffenden Verfahrens, in dem die beanstandeten Ausführungen gemacht wurden, zu berücksichtigen. Der Gerichtshof hat den eigentlichen Sinn der beanstandeten Ausführungen zu untersuchen, wobei er die besonderen Umstände, unter denen sie gemacht wurden, zu berücksichtigen hat (vgl. Petyo Petkov, a. a. O., Rdnr. 90). Je nach den Umständen kann demnach auch festgestellt werden, dass selbst ein unglücklicher Sprachgebrauch Artikel 6 Abs. 2 nicht verletzt (vgl. L., a. a. O., Rdnrn. 62 und 64; E., a. a. O., Rdnrn. 39 und 41; N., a. a. O., Rdnrn. 39 und 41; und Allen, a. a. O., Rdnrn. 121 und 126).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
56. Der Gerichtshof hat im Lichte der oben genannten Grundsätze zu entscheiden, ob die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts in dem den Beschwerdeführer freisprechenden Urteil, „dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist“, mit dem Recht des Beschwerdeführers auf Vermutung der Unschuld bis zum gesetzlichen Beweis der Schuld vereinbar waren.
57. Bei der Entscheidung darüber, ob die Ausführungen des Landgerichts als Schuldfeststellung oder lediglich als Beschreibung einer Verdachtslage zu bewerten sind, wobei letzteres in den Gründen eines freisprechenden Urteils erlaubt wäre (siehe Rdnrn. 36 und 41), kommt der Gerichtshof nicht umhin festzustellen, dass die beanstandeten Ausführungen an sich bei isolierter Betrachtung darauf hinzudeuten scheinen, dass das Landgericht den Beschwerdeführer des sexuellen Missbrauchs an A. für schuldig hielt. Bei der Entscheidung darüber, ob die Ausführungen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten, muss der Gerichtshof jedoch die Art des betreffenden Verfahrens, in dem die Ausführungen gemacht wurden, sowie deren wahre Bedeutung in diesem Zusammenhang berücksichtigen.
58. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die beanstandeten Ausführungen in den Gründen eines strafgerichtlichen Urteils gemacht wurden, in dem der Beschwerdeführer von den Vorwürfen des schweren sexuellen Missbrauchs von A. aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Beim Erlass seines Urteils hatte das Landgericht nach dem innerstaatlichen Recht sowohl belastende als auch entlastende Beweismittel zu würdigen. Es hatte zu prüfen, ob nicht nur hinreichende Gründe für den Verdacht vorlagen, dass der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfenen Sexualstraftaten begangen hat, wie es für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlich ist (siehe § 203 StPO, Rdnr. 21), sondern auch, ob es nach Prüfung aller ihm vorliegenden Beweise über jeden vernünftigen Zweifel hinaus davon überzeugt war, dass der Beschwerdeführer die in Rede stehenden Straftaten begangen hat.
59. Der Gerichtshof bemerkt, dass das Landgericht in seinen Gründen für den Freispruch aus Mangel an Beweisen einerseits festgestellt hat, dass die konkreten gegen den Beschwerdeführer erhobenen Tatvorwürfe nicht mit der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Sicherheit belegbar seien. Das Landgericht legte dar, dass A.s Zeugenaussage in der Hauptverhandlung es nicht von der vollständigen Richtigkeit der Anklagevorwürfe habe überzeugen können, insbesondere hinsichtlich einer klaren Bestimmung der Taten und ihrer zeitlichen Einordnung. Aufgrund der Inkonstanzen in A.s Aussagen hätten konkrete Feststellungen nicht getroffen werden können, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Intensität der Handlungen des Beschwerdeführers, wie es für ihre Einstufung als Straftat notwendig wäre, aber auch im Hinblick auf die Anzahl der Handlungen sowie den Ort der Begehung und die Tatzeiträume. Das Landgericht war daher der Auffassung, dass der gesetzliche Beweis der Schuld des Beschwerdeführers in Bezug auf die ihm zur Last gelegten Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuchs nicht erbracht worden sei. Andererseits – und trotz dieser Erkenntnisse – hat das Landgericht, das der Auffassung war, dass A. nicht durch Dritte beeinflusst worden sei, seine beanstandeten Ausführungen gemacht, wonach das vom Opfer geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund habe und es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen sei.
60. Darüber hinaus hat der Gerichtshof bei der Entscheidung über die wahre Bedeutung der beanstandeten Ausführungen den Sprachgebrauch des Landgerichts zu berücksichtigen. Er stellt fest, dass das Landgericht mit „sexuellen Übergriffen“ einen allgemeinen, nicht-juristischen Begriff gewählt hat, der in den Definitionen der Tatbestände des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, derer der Beschwerdeführer angeklagt war, nicht enthalten ist (siehe Rdnrn. 19-20). Es trifft zwar zu, dass dieser Begriff an sich daher keine rechtliche Konkretisierung der strafrechtlichen (im Gegensatz zur moralischen) Bedeutung der Handlungen des Beschwerdeführers beinhaltet.
61. Allerdings ist die Feststellung des Landgerichts, „dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist“, klar und vorbehaltslos formuliert. Wird sie im Zusammenhang mit dem Vorwurf gegen den Beschwerdeführer, seine Tochter vornehmlich in seinem Auto schwer sexuell missbraucht zu haben, gelesen, vermittelt sie dem Leser des Urteils zwangsläufig, dass der Beschwerdeführer des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter tatsächlich schuldig war.
62. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts negative Auswirkungen gehabt hätten, insbesondere da das Familiengericht in einem späteren Verfahren jeglichen Umgang mit seiner Tochter ausgeschlossen habe. Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine oben genannte Rechtsprechung, nach der das Äußern von Verdächtigungen hinsichtlich der Schuld des Betroffenen – einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen – nach einem rechtskräftigen Freispruch mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar ist. Jede staatliche Stelle, die direkt oder indirekt auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Straftaten Bezug nimmt, hat den Tenor des ihn freisprechenden Urteils des Landgerichts zu achten (vgl. Rdnr. 36).
63. Es trifft zwar zu, dass das Verfahren vor dem Familiengericht, zu dem der Beschwerdeführer keine Entscheidungskopien vorgelegt und – wie die Regierung zu Recht angemerkt hat – nicht belegt hat, dass er die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft habe, nicht Gegenstand der vorliegenden Individualbeschwerde ist. Allerdings ist es angesichts der potentiellen Relevanz der Gründe eines strafgerichtlichen Urteils für spätere Gerichtsverfahren von entscheidender Bedeutung, in diesem Urteil Begründungen zu vermeiden, die nahelegen, dass das Gericht den Angeklagten für schuldig hält, obwohl kein formeller Schuldspruch ergangen ist. Nur so wird der durch den in Artikel 6 Abs. 2 verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung garantierte Schutz praktisch und wirksam (vgl. hinsichtlich der einschlägigen Rechtsprechung u. a. Allen ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnr. 92, ECHR 2013 mit weiteren Verweisen).
64. Angesichts dieser Faktoren ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts durch einen unglücklichen Sprachgebrauch über eine reine Beschreibung einer (verbleibenden) Verdachtslage hinausgingen. Unter den gegebenen Umständen muss festgestellt werden, dass die Ausführungen dem Freispruch des Beschwerdeführers widersprachen oder diesen „aufhoben“ (vgl. Orr ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 31283/04, Rdnr. 53, 15. Mai 2008), da sie einer Feststellung gleichkamen, dass der Beschwerdeführer der ihm vorgeworfenen Straftaten schuldig sei.
65. In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt worden ist.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
66. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
67. Der Beschwerdeführer forderte 100.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er machte geltend, dass er als Folge der beanstandeten Ausführungen den gleichen Schaden erlitten habe, den eine unschuldig verurteilte Person erlitten hätte.
68. Die Regierung trug vor, dass es für die Zuerkennung von Schadenersatz keinen Grund gebe, da die Konvention nicht verletzt worden sei.
69. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer infolge der Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch die beanstandeten Ausführungen gelitten haben muss. Der Gerichtshof setzt die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer diesbezüglich 5.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
70. Der Beschwerdeführer forderte außerdem 1.213,80 EUR brutto für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten und Auslagen (zum Nachweis legte er seiner Individualbeschwerde eine Rechnung bei, auf die er später Bezug nahm). Ferner forderte er 9.520 EUR brutto (berechnet auf der Grundlage von 40 Arbeitsstunden bei einem Stundensatz von 200 EUR zzgl. Mehrwertsteuer) für die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen.
71. Die Regierung trat der Berechnung der in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten wegen fehlenden Nachweises entgegen. Ferner hielt sie die im Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten für nicht angemessen.
72. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 5.000 EUR (netto) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten und Auslagen zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
73. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Der Einwand der Regierung, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht anwendbar sei, wird zurückgewiesen;
2. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
3. Artikel 6 Abs. 2 der Konvention ist verletzt worden;
4. (a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
5. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 15. Januar 2015 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
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