MAXIMUM INDUSTRIE- UND GEWERBEHOLDING GMBH AND MERLIN UNTERNEHMENSVERWALTUNG GMBH gegen Germany (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 42609/08 und 32996/11

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 42609/08 und 32996/11
M. GMBH und
M. GMBH
gegen Germany

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 24. März 2015 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Helena Jäderblom,
und Aleš Pejchal,

sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 2. September 2008 bzw. 16. Mai 2011 eingereicht wurden,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Bei den Beschwerdeführerinnen, der M. GmbH (das erste beschwerdeführendeUnternehmen ) und der M. GmbH (das zweite beschwerdeführende Unternehmen), handelt es sich um deutsche Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit Sitz in K. bzw. P.. Vor dem Gerichtshof werden sie von Frau W., Rechtsanwältin in L., und – seit Dezember 2011 – von Herrn K., Rechtsprofessor an der Universität K., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

2. Der von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

3. Im Jahr 1993 erwarb das erste beschwerdeführende Unternehmen von einer in P. ansässigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung Grund- und sonstiges Vermögen. Alleinige Gesellschafterin der Verkäuferin war eine Bundestreuhandanstalt, die Treuhandanstalt, die den Auftrag hatte, das ehemalige Staatsvermögen der Deutschen Demokratischen Republik zu verwalten und, wenn möglich, zu privatisieren.

4. Am 27. April 1993 wurde der notarielle Kaufvertrag geschlossen. Der Kaufpreis betrug etwa 22 Millionen Deutsche Mark (DM) für das Grundvermögen und 500.000 DM (plus Mehrwertsteuer) für anderes Unternehmensvermögen. In dem Vertrag angeführt waren „Maschinen, Werkzeuge, Anlagen und Teile gemäß dem beigefügten Inventarverzeichnis vom 31. Dezember 1991, aktualisiert am 31. März 1993, Anlage 5“ und „alle Rohmaterialien gemäß dem beigefügten Inventarverzeichnis vom 31. Dezember 1992, aktualisiert am 31. März Dezember 1992, aktualisiert am 31. März 1993, Anlage 6.“ Weiterhin stand im Vertrag, „dass die Anlagen laut verlesen wurden“. Anlage 5 bestand aus acht Seiten, Anlage 6 aus sieben Seiten. Beide nehmen auf die detaillierteren, 226 bzw. 119 Seiten umfassenden Inventarverzeichnisse Bezug, die den Notarnebenakten hinzugefügt wurden, jedoch nicht dem Vertrag beigefügt waren und nicht, wie ursprünglich geplant, laut verlesen wurden. Stattdessen entschieden sich die Vertragsparteien für eine Zusammenfassung der Inventarverzeichnisse und der Notar erstellte die Anlagen 5 und 6. Ob diese (kürzeren) Anlagen tatsächlich laut verlesen wurden, bleibt unklar.

5. Der Kaufpreis wurde bis auf restliche 5 Millionen DM gezahlt. Gemäß dem Vertrag sollte dieser Restbetrag in Raten zu je einer Million DM zu Beginn der Jahre 1996 bis 2000 gezahlt werden. Das beschwerdeführende Unternehmen sollte von der Verpflichtung zur Zahlung der Raten befreit sein, wenn dort im vorangehenden Jahr mindestens 500 Vollzeitarbeitsplätze bestünden. Das zweite beschwerdeführende Unternehmen garantierte den Kaufpreis. Am 1. September 1993 wurde der Betrieb dem beschwerdeführenden Unternehmen übergeben.

6. Im Jahr 1995 wurde die Bundestreuhandanstalt in „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ umbenannt, blieb aber alleinige Gesellschafterin der Verkäuferin, nunmehr eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Liquidation.

2. Das Verfahren über den Kaufpreis (Individualbeschwerde Nr. 42609/08)

7. Die beschwerdeführenden Unternehmen bezahlten den restlichen Kaufpreis nicht. Die Bundesanstalt erhob in Bezug auf Raten für die Jahre 1997 bis 2000 Klage vor Gericht. Am 10. Juli 2001 wies das Landgericht Berlin die beschwerdeführenden Unternehmen zur Zahlung des restlichen Kaufpreises an, der – mit Zinsen – mehr als fünf Millionen DM betrug. Das Landgericht stellte fest, dass das erste beschwerdeführende Unternehmen den Erhalt von 500 Vollzeitarbeitsplätze in den in Rede stehenden Jahren nicht sichergestellt habe.

8. Die beschwerdeführenden Unternehmen legten beim Kammergericht Berlin Berufung ein. Im Verlauf des Verfahrens brachten sie zum ersten Mal vor, dass der Kaufvertrag nichtig sei, weil er nicht das Werk als Ganzes, sondern nur eine begrenzte Anzahl auf dem Grundstück befindlicher Objekte zum Gegenstand habe. Um zu bestimmen, was verkauft worden sei, seien daher die detaillierten Inventarverzeichnisse erforderlich. Nach Ansicht der beschwerdeführenden Unternehmen war der Vertrag jedoch formell fehlerhaft, da diese Listen nicht laut verlesen worden seien. Darüber hinaus focht das erste beschwerdeführende Unternehmen den Vertrag gemäß § 123 BGB wegen Täuschung an. Die beschwerdeführenden Unternehmen brachten vor, dass der Verkäuferin und der Bundesanstalt von Plänen der Entscheidungsgremien der Stadt P. zur Verabschiedung einer Entwicklungssatzung, die den Wert des Grundstücks mindern würde, gewusst, diese Information jedoch verschwiegen hätten.

9. Am 27. Juni 2003 wies das Kammergericht die Berufung der beschwerdeführenden Unternehmen mit der Begründung zurück, dass das Recht, die Formnichtigkeit des Vertrags geltend zu machen, verwirkt sei.

10. Am 16. Juli 2004 wurde diese erste Zurückweisung durch den Bundesgerichtshof aufgehoben. Der Bundesgerichtshof befand, dass das in Rede stehende Recht nicht verwirkt sei, und verwies die Sache zur weiteren Prüfung an das Kammergericht zurück.

11. Am 4. November 2005 verwarf das Kammergericht Berlin die Berufung der beschwerdeführenden Unternehmen ein zweites Mal. Es prüfte den Vertrag sorgfältig und gelangte zu dem Schluss, dass er wirksam sei. Nach Auffassung des Kammergerichts war klar, dass die Vertragsparteien nur die kürzeren Anlagen 5 und 6 und nicht (wie es aufgrund des Vertragstexts den Anschein haben könnte) die längeren Inventarverzeichnisse beurkunden lassen wollten. Dies ergebe sich aus einer Anmerkung auf den Anlagen, mit der der Notar gebeten wurde, die (längeren) Inventarverzeichnisse zu seinen Akten zu nehmen, was bedeute, dass sie nicht unmittelbarer Vertragsbestandteil gewesen seien. Folglich beziehe sich die Vertragsformulierung, die Anlagen 5 und 6 seien laut verlesen worden, auf das kürzere, dem Vertrag tatsächlich beigefügte Verzeichnis. Das Kammergericht wandte die in § 13 des Beurkundungsgesetzes vorgeschriebene Rechtsvermutung an, nach der eine laute Verlesung stattgefunden hat, wenn eine derartige Anmerkung auf dem beurkundeten Dokument von den beteiligten Parteien unterzeichnet worden ist. Die beschwerdeführenden Unternehmen hätten diese Vermutung nicht widerlegen können, da die Vernehmung der Zeugen – mehr als zehn Jahre nach dem Ereignis – nicht belegt habe, dass der Notar die Anlagen 5 und 6, wie sie dem Vertrag beigefügt gewesen seien, nicht laut verlesen habe. Darüber hinaus war das Kammergericht der Auffassung, dass die Bezugnahme auf die (kürzeren) Anlagen 5 und 6 anstatt auf die (längeren) Inventarverzeichnisse die Übertragung des Eigentums an einigen der beweglichen Gegenstände möglicherweise wegen unzureichender Bestimmtheit behindert habe. Für die Wirksamkeit des Vertrags sei eine Bestimmbarkeit der Gegenstände jedoch ausreichend. In dieser Hinsicht reichten die (kürzeren) Verzeichnisse aus. Das Kammergericht war der Auffassung, dass die möglicherweise fehlerhafte Eigentumsübertragung nicht dazu geführt habe, dass das gesamte Rechtsgeschäfte nach § 139 BGB unwirksam sei. Gegenstand des Vertrags sei das zum Zeitpunkt der für einen späteren Zeitpunkt vorgesehenen Übergabe auf dem Grundstück befindliche Vermögen. Die Vertragsparteien hätten daher erwartet, dass es hinsichtlich des Vermögens Veränderungen geben würde, und somit nicht beabsichtigt, die Wirksamkeit des gesamten Rechtsgeschäfts von der erfolgreichen Übertragung des Eigentums an allen in den Inventarverzeichnissen enthaltenen Gegenständen abhängig zu machen. In Bezug auf die Entwicklungssatzung war das Kammergericht der Auffassung, dass der Planungsstand noch nicht weit genug fortgeschritten gewesen sei, um die Verkäuferin und die Bundesanstalt zu einer Unterrichtung der beschwerdeführenden Unternehmen zu verpflichten.

12. Am 29. Juni 2006 lehnte der Bundesgerichtshof den Antrag der beschwerdeführenden Unternehmen auf Zulassung der Revision mit der Begründung ab, dass die Rechtssache weder eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung erfordere (V ZR 257/05). Am 21. Juli 2006 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge der beschwerdeführenden Unternehmen zurück.

13. Am 3. März 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der beschwerdeführenden Unternehmen zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1837/06). Diese Entscheidung wurde den Beschwerdeführerinnen am 7. März 2008 zugestellt.

3. Das Entschädigungsverfahren (Individualbeschwerde Nr. 32996/11)

14. Im Juli 1995 erhob die erste Beschwerdeführerin vor dem Landgericht Berlin Klage gegen die Verkäuferin und die Bundesanstalt. Mit der Begründung, die Verkäuferin habe nach Unterzeichnung des o. g. Vertrags, aber vor Übergabe des Kaufgegenstands an das beschwerdeführende Unternehmen, Maschinen und Anlagen verkauft oder Dritten kostenlos überlassen, forderte sie unter anderem Entschädigungsleistungen in Höhe von etwa 5 Millionen DM.

15. Am 7. Mai 1996 wies das Landgericht Berlin die Klage ab. Es stellte fest, dass der Entschädigungsanspruch unbegründet sei, da das beschwerdeführende Unternehmen den Betrieb in seiner Gesamtheit gekauft habe. Soweit der Zustand des Betriebs in seiner Gesamtheit möglicherweise Mängel aufgewiesen habe, habe das beschwerdeführende Unternehmen seine Mängelgewährleistungsrechte nicht geltend gemacht. Darüber hinaus schließe der Vertrag die Geltendmachung derartiger Rechte aus.

16. Das erste beschwerdeführende Unternehmen legte vor dem Kammergericht Berufung ein und erweiterte die Klage um den Antrag auf Feststellung, dass der Kaufvertrag nichtig sei und das beschwerdeführende Unternehmen Rückabwicklungsansprüche geltend machen könne.

17. Am 4. April 2008 wies das Kammergericht die meisten Klageanträge des beschwerdeführenden Unternehmens ab und stellte im Tenor seiner Entscheidung fest, dass der Vertrag vom April 1993 wirksam sei. Es nahm hauptsächlich auf die Begründung seines Urteils aus dem Jahr 2005 in dem Verfahren über den Kaufpreis (siehe oben) sowie auf neue Zeugenbefragungen Bezug.

18. Am 7. Mai 2009 wies der Bundesgerichtshof den Antrag des ersten beschwerdeführenden Unternehmens auf Zulassung der Revision mit der Begründung zurück, dass die Rechtssache keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe und keine Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung durch die Justiz erfordere (V ZR 92/08). Am 2. Juli 2009 wies er die Anhörungsrüge der beschwerdeführenden Unternehmen zurück und stellte fest, dass er auf der Grundlage des schriftlichen Vorvotums des wissenschaftlichen Mitarbeiters und des Votums des Berichterstatters zu dem Schluss gekommen sei, dass alle Vorbringen der beschwerdeführenden Unternehmen in seiner Entscheidung vom 7. Mai 2009 berücksichtigt worden seien.

19. Am 9. November 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des ersten beschwerdeführenden Unternehmens zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1631/09). Die Entscheidung wurde dem beschwerdeführenden Unternehmen am 17. November 2010 zugestellt.

4. Petition an den Bundestag

20. Im Oktober 2008 brachte das erste beschwerdeführende Unternehmen die Angelegenheit der Entwicklungssatzung vor den Petitionsausschuss des Bundestages. Der Ausschuss, der zur Lösung einzelner Fälle der Bundesregierung unverbindliche Vorschläge unterbreiten kann, hörte sich den Fall des beschwerdeführenden Unternehmens hinsichtlich der Entwicklungssatzung der Stadt P. an. Das beschwerdeführende Unternehmen legte Korrespondenz vor, der gemäß der Chef des Bundeskanzleramts am Tag bevor der Ausschuss den Beschluss fassen wollte, die Petition des beschwerdeführenden Unternehmens der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, Ausschussmitglieder darüber „informiert“ habe, dass sich dies negativ auf ihre politische Karriere auswirken könne. An dem auf den Tag dieser angeblichen Information folgenden Tag wies der Ausschuss die Petition zurück.

21. Das Kanzleramt versicherte gegenüber dem beschwerdeführenden Unternehmen, dass der Brief gefälscht sei, und erklärte, dass Strafanzeige gestellt worden sei. Das erste beschwerdeführenden Unternehmen stellte Strafanzeige wegen Nötigung eines Verfassungsorgans und Strafanzeige gegen die Richter des Kammergerichts wegen Rechtsbeugung. Eine Mitteilung über den Ausgang der Verfahren liegt nicht vor.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

22. § 13 des Beurkundungsgesetzes (BeurkG) besagt, dass jede notarielle Niederschrift in Gegenwart des Notars den Beteiligten laut vorgelesen und danach von ihnen genehmigt und unterschrieben werden muss.

23. § 123 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) lautet:

„Wer zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist, kann die Erklärung anfechten.“

24. § 139 BGB lautet wie folgt:

„Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde.“

25. § 313 (jetzt § 311b) BGB lautete zur maßgeblichen Zeit wie folgt:

„Ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, das Eigentum an einem Grundstück zu übertragen oder zu erwerben, bedarf der notariellen Beurkundung. Ein ohne Beobachtung dieser Form geschlossener Vertrag wird seinem ganzen Inhalte nach gültig, wenn die Auflassung und die Eintragung in das Grundbuch erfolgen.“

26. Der Bundesgerichtshof hat häufig entschieden, dass ein mit einem Grundstückskaufvertrag verbundener Vertrag ebenfalls notariell beurkundet werden muss (Urteile vom 23. September 1977, V ZR 90/75; 20 Dezember 1977, V ZR 132/73, 11. November 1983, V ZR 211/82, 16. Juli 2004, V ZR 222/03).

RÜGEN

27. Die beschwerdeführenden Unternehmen rügten in beiden Fällen nach Artikel 6 der Konvention ursprünglich, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte offensichtlich willkürlich gewesen seien, da sie hinsichtlich der ordnungsgemäßen notariellen Beurkundung sowie – in der Rechtssache 42609/08 – hinsichtlich der Entwicklungssatzung der Stadt P. das innerstaaatliche Recht missachtet hätten.

28. Am 6. Dezember 2011 legten die beschwerdeführenden Unternehmen einen weiteren Schriftsatz vor. Die beschwerdeführenden Unternahmen brachten vor, dass sie in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden seien, da das Kammergericht Berlin während der Verhandlungen jedes Rechtsgespräch verweigert habe. Darüber hinaus rügen die beschwerdeführenden Unternehmen, dass die in dem Entschädigungsverfahren erkennenden Richter auch bereits in dem Verfahren über die Kaufvertrag entschieden hätten und daher nicht unparteiisch gewesen seien. Sie brachten weiter vor, dass die Richter des Kammergerichts unter politischem Einfluss seitens der Bundesregierung gestanden hätten, was zu willkürlichen Entscheidungen zugunsten einer Regierungseinrichtung geführt habe – mit dem Ziel, die finanziellen Interessen der Bundesrepublik zu schützen. Die politische Einflussnahme sei offensichtlich geworden, als die Regierung politischen Druck auf die Mitglieder des Petitionsausschusses des Bundestages ausgeübt habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

29. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verbunden werden sollten.

A. Behauptete Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention aufgrund von Willkür

30. Die beschwerdeführenden Unternehmen rügten, dass die die fehlerhafte Beurkundung und – hinsichtlich der Individualbeschwerde Nr. 42609/08 – die Entwicklungssatzung betreffenden Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte willkürlich seien. Sie beriefen sich auf Artikel 6, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

Nach Auffassung der beschwerdeführenden Unternehmen haben die innerstaatlichen Gerichte das deutsche Recht offensichtlich missachtet, da andere Gerichte anders entschieden hätten und die Entscheidung des Kammergerichts von – namentlich genannten – Rechtswissenschaftlern kritisiert worden sei.

31. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es in erster Linie Aufgabe der nationalen Behörden, insbesondere der Gerichte, ist, Probleme der Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu lösen. Der Gerichtshof hat die Aufgabe, festzustellen, ob die Auswirkungen einer solchen Auslegung mit der Konvention vereinbar sind. Obwohl er nur in begrenztem Maß befugt ist zu überprüfen, ob das innerstaatliche Recht beachtet wurde, kann der Gerichtshof nach der Konvention angemessene Schlussfolgerungen ziehen, wenn er beobachtet, dass die innerstaatlichen Gerichte in einem bestimmten Fall das Recht fehlerhaft oder in einer Weise angewandt haben, die zu willkürlichen Schlussfolgerungen führt (Kushoglu ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 48191/99, Rdnrn. 50, 60, 10. Mai 2007).

32. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Kammergericht eine einzelfallbezogene Auslegung der Vereinbarungen zwischen den Parteien vornahm. Es war ferner der Auffassung, dass die Vereinbarungen hinreichend beurkundet worden seien. Das Vorbringen der beschwerdeführenden Unternehmen lässt nicht erkennen, dass diese Rechtsanwendung nicht vertretbar war. Dass andere Gerichte als das Kammergericht Berlin und der Bundesgerichtshof hatten erkennen lassen, dass sie das innerstaatliche Recht möglicherweise anders angewandt hätten, oder dass Rechtswissenschaftler abweichende Meinungen äußerten, kann nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass die angefochtenen Urteile willkürlich waren. Bezüglich der Entwicklungssatzung stellt der Gerichtshof fest, dass das Kammergericht entschied, dass die Verkäuferin bzw. die Bundesanstalt zum Zeitpunkt der Vertragsabschlusses noch nicht verpflichtet gewesen sei, die beschwerdeführenden Unternehmen darüber zu informieren, dass diese in den Entscheidungsgremien der Stadt P. politisch diskutiert werde. Es weist nichts darauf hin, dass das Kammergericht die Vorbringen der beschwerdeführenden Unternehmen nicht hinreichend angehört und berücksichtigt hat. Seine rechtliche Schlussfolgerung hinsichtlich dieser Frage lässt keine Willkür oder Unfairness erkennen.

33. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

B. Die übrigen Rügen der Beschwerdeführerinnen

34. Die beschwerdeführenden Unternehmen rügten auch, dass das Kammergericht politischem Einfluss ausgesetzt gewesen sei, nicht unparteiisch gewesen sei und während der Verhandlungen jedes Rechtsgespräch verweigert habe.

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rügen zum ersten Mal im Schriftsatz der beschwerdeführenden Unternehmen vom 6. Dezember 2011 erhoben wurden, die letzte innerstaatliche Entscheidung jedoch am 9. November 2010 durch das Bundesverfassungsgericht erging und den beschwerdeführenden Unternehmen am 17. November 2010 zugestellt wurde. Die Rügen sind daher nicht innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten erhoben worden, wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich. Die Tatsache, dass sich die beschwerdeführenden Unternehmen in ihrer Individualbeschwerde ursprünglich auf Artikel 6 der Konvention beriefen, reicht für sich genommen nicht aus, um alle späteren nach dieser Bestimmung erhobenen Rügen als eingeführt anzusehen, wenn ursprünglich kein Hinweis auf die Tatsachengrundlage dieser Rügen und die Art der angeblichen Konventionsverletzungen gegeben wurde (siehe Allan ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 48539/99, 28. August 2001; A. u. a. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 290/03, 1. September 2005). Der Gerichtshof stellt jedenfalls fest, dass die beschwerdeführenden Unternehmen keine dieser Rügen vor dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesverfassungsgericht vorbrachten.

36. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nicht fristgerecht erhoben wurde und daher nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen beschließt der Gerichtshof einstimmig:

Die Individualbeschwerden werden verbunden;

die Individualbeschwerden werden für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 16. April 2015.

Milan Blaško                                              Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                                 Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert