KERKEZ gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 37074/13

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 37074/13
K.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 24. März 2015 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,

sowie Milan Blaško, Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 3. Juni 2013 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der Beschwerdeführer K. ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und lebte in M., Deutschland. Vor dem Gerichtshof wurde er von Frau A., Rechtsanwältin in M., vertreten.

2. Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

A. Die Umstände der Rechtssache

1. Persönliche Umstände

3. Der Beschwerdeführer wurde 19.. in Deutschland geboren. Einige Monate nach seiner Geburt wurde er in das ehemalige Jugoslawien gebracht und lebte dort einige Jahre bei seiner Großmutter. Er besuchte dort das erste Jahr der Grundschule. 1987 wurde er im Alter von acht Jahren nach Deutschland zurückgeschickt, wo er sich fortan aufhielt und bei seinen Eltern wohnte.

4. Der Beschwerdeführer besuchte die Grund- und die Hauptschule in Deutschland, machte jedoch keinen Abschluss. Anschließend machte er eine Lehre als Schlosser, schloss diese aber wegen Prüfungsangst nicht ab. Später begann er weitere Umschulungen, die er jedoch nicht abschloss, da er an der Abschlussprüfung nicht teilnahm. Bisher hatte er ausschließlich kurzzeitige Jobs oder lebte von Arbeitslosengeld.

5. Am 20. Juli 1999 erhielt der Beschwerdeführer in Deutschland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

6. Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Selbst als Erwachsener lebte er bis zu seiner späteren Festnahme im Haushalt seiner Eltern und seiner Schwester. Seine Eltern haben unbefristete Aufenthaltserlaubnisse; seine Schwester ist deutsche Staatsangehörige.

2. Die Verurteilung des Beschwerdeführers

7. Am 9. Juli 2009 verurteilte das Landgericht München den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Besitzes von und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zwischen Sommer 2007 und Herbst 2008, davon in einem Fall bewaffnet, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer im Besitz von 150 g Marihuana gewesen sei und einen Teil davon verkauft habe. Darüber hinaus sei er im Besitz von einmal 50 g und zweimal 100 g Kokain gewesen, wovon er ebenfalls bei verschiedenen Gelegenheiten einen Teil verkauft habe. Mindestens einer der Verkäufe habe im Zimmer des Beschwerdeführers in der Wohnung seiner Eltern stattgefunden, wo er einen Schlagstock und ein Messer griffbereit hinterlegt habe. Darüber hinaus ordnete das Gericht angesichts des Drogenkonsums des Beschwerdeführers, der im Hinblick auf Marihuana als Sucht und im Hinblick auf Kokain als übermäßig beschrieben wurde, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an.

8. Am 8. Januar 2010 begann der Beschwerdeführer seinen Aufenthalt in der Entziehungsanstalt.

3. Ausweisungsverfahren

9. Am 6. September 2010 erließ die Landeshauptstadt München einen Ausweisungsbescheid und ein Wiedereinreiseverbot für zehn Jahre ab seiner Ausreise gegen den Beschwerdeführer. Die Stadt stellte fest, dass im Fall des Beschwerdeführers § 53 AufenthG gelte, der die Ausweisung eines Täters vorsehe, der wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden sei. Zwar sehe § 56 AufenthG einen gewissen Schutz für Ausländer mit langjährigem, rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland vor; allerdings liege, wenn die Voraussetzungen des § 53 erfüllt seien, dennoch ein regelmäßiger Ausweisungsgrund vor.

10. Aufgrund seiner langen Aufenthaltsdauer in Deutschland wurde im Fall des Beschwerdeführers jedoch von einem Ausnahmefall ausgegangen, bei dem ein regelmäßiger Ausweisungsgrund nicht mehr vorliege, sondern alle Umstände abzuwägen und dann eine Ermessensentscheidung zu treffen sei.

11. Die Stadt unterstrich die schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die begangenen Straftaten. Es sei die erste Verurteilung des Beschwerdeführers gewesen, aber seine Drogenabhängigkeit und der Umfang des Drogenhandels, insbesondere des Handels mit Kokain, hätten in seinem Fall besonderes Gewicht. Darüber hinaus berücksichtigte die Stadt, dass der Beschwerdeführer bei einem der Drogenverkäufe gefährliche Waffen griffbereit gehabt habe. Angesichts seiner Drogenabhängigkeit sei von einer erhöhten Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Beschwerdeführer habe bei seiner Familie gelebt, die jedoch nicht in der Lage oder gewillt gewesen sei, Einfluss auf ihn zu nehmen. Obgleich sein Vater an Krebs leide, spiele der Beschwerdeführer aufgrund seines Aufenthalts in einer Entziehungsanstalt keine Rolle bei dessen Versorgung. Die familiären Beziehungen zu seinen Eltern und seiner Schwester hätten daher kein überragendes Gewicht. Insgesamt könne nicht der Schluss gezogen werden, dass der Beschwerdeführer in die deutsche Gesellschaft integriert sei. Darüber hinaus ging die Stadt davon aus, dass der Beschwerdeführer die bosnische Sprache noch beherrsche und familiäre Kontakte dort habe.

12. Am 17. März 2011 wies das Verwaltungsgericht München die Klage des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid ab. Angesichts seiner strafrechtlichen Verurteilung und seiner Drogenabhängigkeit stelle er weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, auch wenn er eine Entziehungskur begonnen habe. Der Ausweisungsbescheid stehe auch im Einklang mit Artikel 8 der Konvention. Es sei anzunehmen, dass er mit der bosnischen Sprache und Kultur weiterhin vertraut sei. Eine Integration in Bosnien könnte schwierig werden, aber auch in Deutschland habe eine soziale oder wirtschaftliche Integration in die Gesellschaft nicht wirklich stattgefunden. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens habe nicht festgestellt werden können.

13. Am 16. März 2012 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung ab und bestätigte die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts. Es bestünden keine Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Der vom Verwaltungsgericht beschriebene Sachverhalt führe zu der Schlussfolgerung, dass Wiederholungsgefahr bestehe und die Ausweisung nach Abwägung zwischen dem langen Aufenthalt des Beschwerdeführers und den Umständen seiner Straftat sowie seiner begrenzten Integration in die deutsche Gesellschaft nicht als unverhältnismäßige Beschränkung seiner Rechte angesehen werden könne.

14. Am 20. November 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

15. Im Laufe seiner Entziehungskur wurden dem Beschwerdeführer diverse Privilegien eingeräumt, darunter Ausgänge aus der Einrichtung bis hin zur Erlaubnis, in einer eigenen Wohnung zu wohnen, die Einrichtung für bis zu 14 Tage zu verlassen und eine Ausbildung bei einer Zeitarbeitsfirma zu beginnen. Am 2. Oktober 2012 stellte der zuständige Psychiater eine positive Prognose zum Verlauf seiner Therapie und sprach sich für eine Entlassung unter der Bedingung aus, dass er seine Therapie fortsetze und sich regelmäßig Drogentests unterziehe. Offenbar hatte er auch weiterhin regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und seiner Schwester (der Vater ist verstorben).

16. Ob oder wann er offiziell entlassen wurde, wurde nicht konkret vorgetragen.

17. Am 17. Juli 2013 wies die Einwanderungsbehörde den Beschwerdeführer an, sich am Flughafen einzufinden, um dort seinen Pass entgegenzunehmen und einen Flug aus Deutschland heraus anzutreten. Sie wies auch darauf hin, dass er seine Ausbildung ohne Arbeitserlaubnis begonnen habe. Der Beschwerdeführer kam der Anweisung nach und lebt seither in Bosnien und Herzegowina.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

18. § 53 Abs. 1 und 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) lautet wie folgt:

„Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er

1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,

2. wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, wegen Landfriedensbruches unter den in § 125a Satz 2 des Strafgesetzbuches genannten Voraussetzungen oder wegen eines im Rahmen einer verbotenen öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen Aufzugs begangenen Landfriedensbruches gemäß § 125 des Strafgesetzbuches rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist […]“

19. § 56 Abs. 1 AufenthG lautet wie folgt:

„Ein Ausländer, der

1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, […]

2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, […]

4. mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, […]

genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 vor. Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. […]“

RÜGE

20. Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 8 und 6 der Konvention, dass er aufgrund der Ausweisung nicht in der Lage sei, sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens auszuüben, und dass ihm nach der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts kein faires Berufungsverfahren zuteil geworden sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

21. Der Beschwerdeführer rügte, die Ausweisung verletze sein in Artikel 8 garantiertes Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; Artikel 8 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit […], zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, […].“

22. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Ausweisung unverhältnismäßig sei, da er in Deutschland geboren sei, seit seiner Kindheit in Deutschland gelebt habe, in Deutschland zur Schule gegangen sei, enge persönliche und familiäre Bindungen nach Deutschland habe und daran sei, sich sozial und wirtschaftlich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die innerstaatlichen Gerichte hätten seine Beziehung zu seiner Mutter und seiner Schwester nicht hinreichend berücksichtigt. Darüber hinaus hätte ihm zufolge berücksichtigt werden müssen, dass er die Straftaten aufgrund einer schweren Drogensucht begangen habe. Diese Sucht habe er sodann überwunden, so dass keine Wiederholungsgefahr bestehe.

23. Der Gerichtshof bestätigt erneut, dass ein Staat das Recht hat, im Rahmen des Völkerrechts und nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort zu regeln. Die Konvention garantiert nicht das Recht eines Ausländers auf Einreise oder Aufenthalt in einem bestimmten Land, und die Vertragsstaaten sind in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, befugt, einen wegen Straftaten verurteilten Ausländer auszuweisen. Ihre Entscheidungen in diesem Bereich müssen aber, soweit sie in ein nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d. h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (siehe Üner ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, Rdnr. 54, ECHR 2006-XII).

24. Der Gerichtshof bemerkt, dass die Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen Eltern und seiner Schwester nach Auffassung der innerstaatlichen Gerichte bei der Prüfung von dessen Behauptung zum in Artikel 8 der Konvention garantierten Familienleben nicht von wesentlicher Bedeutung war. Selbst unter der Annahme, dass er während seines Aufenthalts in der Entziehungsanstalt weiterhin regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und Schwester hatte, fallen derartige Beziehungen zwischen Erwachsenen nicht in den Schutzbereich des Artikels 8 der Konvention, wenn keine anderen Abhängigkeitsaspekte als normale gefühlsmäßige Bindungen unter Familienangehörigen vorliegen (Ezzouhdi ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 47160/99, Rdnr. 34, 13. Februar 2001; Y. ./. Deutschland,Individualbeschwerde Nr. 52853/99, Rdnr. 44, 17. April 2003).

25. Unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer in dem Land, aus dem sie ausgewiesen werden sollen, kommen dort nicht alle niedergelassenen Zuwanderer unbedingt in den Genuss eines „Familienlebens“ im Sinne des Artikels 8. Da Artikel 8 allerdings auch das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt einzugehen und zu entwickeln, schützt und bisweilen Aspekte der sozialen Identität einer Person betreffen kann, ist anzuerkennen, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Zuwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben, einen Teil des Begriffs „Privatleben“ im Sinne des Artikels 8 darstellt. Unabhängig davon, ob ein „Familienleben“ besteht, stellt die Ausweisung eines niedergelassenen Zuwanderers daher einen Eingriff in dessen Recht auf Achtung seines Privatlebens dar (siehe Üner, a. a. O., Rdnr. 59; Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnr. 63, ECHR 2008).

26. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Ausweisung auf innerstaatlichem Recht beruhte, nämlich auf § 53 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, und dass sie einem legitimen Ziel diente, nämlich der Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten.

27. Es ist somit zu beurteilen, ob die Ausweisung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, d. h., ob sie durch ein dringendes soziales Bedürfnis begründet war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand.

28. Der Gerichtshof wiederholt, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand, die folgenden Kriterien heranzuziehen sind (siehe Üner,a. a. O., Rdnrn. 57‑58; Maslov, a. a. O., Rdnrn. 69-71):

„– Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;

– die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

– die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

– die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;

– die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z. B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;

– ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;

– ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und

– das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.“

[…]

„– die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und

– die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.“

29. Bei der Anwendung dieser Kriterien auf die vorliegende Rechtssache nimmt der Gerichtshof zunächst die Art der begangenen Straftaten zur Kenntnis: Der Beschwerdeführer wurde wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Der Gerichtshof hat häufig festgestellt, dass die Staaten berechtigte Gründe haben, die Verbreitung von Drogen entschieden zu bekämpfen (A.W. Khan ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 47486/06, Rdnrn. 40, 41, 12. Januar 2010; Dalia ./. Frankreich, 19. Februar 1998, Rdnr. 54, Reports of JudgmentsandDecisions 1998‑I; Baghli ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34374/97, Rdnr. 48, ECHR 1999‑VIII). Die Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren zeigt, dass er sehr schwere Straftaten begangen hat. Der Gerichtshof bemerkt, dass es sich um die erste Verurteilung des Beschwerdeführers handelte, nimmt aber auch zur Kenntnis, dass er im Besitz von relativ großen Mengen einer gefährlichen Droge war. Darüber hinaus waren bei mindestens einer der Straftaten Waffen gegenwärtig. Er berücksichtigt ferner, dass der Beschwerdeführer nach Ansicht des innerstaatlichen Strafgerichts an einer schweren Drogensucht litt.

30. Was die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Deutschland angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass dieser in Deutschland geboren wurde und von einem Zeitraum von acht Jahren während seiner Kindheit abgesehen dort lebte. Daher hatte er enge Bindungen an Deutschland.

31. Hinsichtlich der seit der Tat verstrichenen Zeit und des Verhaltens des Beschwerdeführers in dieser Zeit bemerkt der Gerichtshof, dass er die Straftaten zwischen Sommer 2007 und Herbst 2008 im Alter von 28 und 29 Jahren, also als Erwachsener, begangen hat. Das Strafverfahren fand im Juli 2009 statt. Die Ausweisungsverfügung erging sodann, während sich der Beschwerdeführer noch in der angeordneten Entziehungskur befand. Das Gerichtsverfahren betreffend seine Ausweisung war im November 2012 abgeschlossen und im Juli 2013 verließ der Beschwerdeführer schließlich Deutschland. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass das Verfahren mit angemessener Zügigkeit geführt wurde. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er nach der strafrechtlichen Verurteilung rückfällig wurde, auch nicht während der Zeiträume, während derer ihm Ausgang aus der Entziehungsanstalt gewährt wurde. Der Gerichtshof bemerkt jedoch auch, dass der Beschwerdeführer zwar Lockerungen in Form von Ausgängen genoss, sein Verhalten aber weiterhin engmaschig überwacht wurde.

32. Bis zu dem Zeitpunkt, als dem Beschwerdeführer letztlich angeordnet wurde, nach Bosnien und Herzegowina zurückzukehren, scheint er im Hinblick auf sein Suchtproblem erhebliche Fortschritte gemacht zu haben, aber keines der vorgelegten Dokumente legt nahe, dass er seine Abhängigkeit vollständig überwunden hätte.

33. Was das Familienleben des Beschwerdeführers angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass selbst unter der Annahme einer engen Beziehung zu seiner Mutter und Schwester keine besonderen Umstände vorliegen, die eine dauerhafte Anwesenheit des Beschwerdeführers erfordern würden. Ganz im Gegenteil bestand ein Ziel der Entziehungskur, bei der der Beschwerdeführer angeblich erhebliche Fortschritte gemacht hat, darin, ihn auf ein unabhängiges Leben vorzubereiten. Die Kontakte können über Telefon und E-Mail sowie durch Besuche in Bosnien und Herzegowina fortgesetzt werden.

34. Der Gerichtshof sucht auch nach bedeutsamen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft des Aufenthaltslandes und stellt fest, dass der Beschwerdeführer abgesehen von der Erwähnung, in Deutschland zur Schule gegangen zu sein und Ausbildungen sowie andere Kurse begonnen zu haben, keine Nachweise einer Beteiligung am sozialen Leben vorgelegt hat. Es ist festzuhalten, dass er lediglich auf seinen langen Aufenthalt in Deutschland und Kontakte zu seiner Mutter und seiner Schwester konkret verwiesen hat (siehe T. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41548/06, Rdnr. 62, 13. Oktober 2011, Rdnr. 58; L. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 25021/08, 20. September 2011; M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40601/05, Rdnr. 58, 25. März 2010). Er erwähnte ferner, in der Vergangenheit einige Freunde gehabt zu haben, doch zu seinen sozialen Kontakten wurden keine konkreten Informationen vorgelegt. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass er während seines Erwachsenenlebens offenbar zu keinem Zeitpunkt in den deutschen Arbeitsmarkt integriert war; und selbst als er später eine weitere Ausbildung begann, konnte er sich nicht auf deren Abschluss berufen, da er sie ohne gültige Arbeitserlaubnis begonnen hatte.

35. Hinsichtlich der Bindungen des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsland stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer bis zum Alter von acht Jahren im ehemaligen Jugoslawien lebte und dass er nicht behauptete, die Sprache nicht zu sprechen oder zu verstehen. Der Gerichtshof hält seine Reintegration in Bosnien und Herzegowina daher nicht für unmöglich.

36. Darüber hinaus nimmt der Gerichtshof auch zur Kenntnis, dass die Ausweisung aus dem Bundesgebiet nicht unbedingt dauerhaft sein wird, da die Ausweisungsverfügung auf zehn Jahre befristet wurde.

37. In Anbetracht der Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Drogendelikte und der Wiederholungsgefahr sowie angesichts der Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Kontrolle und Regelung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet erkennt der Gerichtshof insbesondere an, dass die innerstaatlichen Behörden das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens und das Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten angemessen gegeneinander abgewogen haben. Der Gerichtshof erkennt die Konsequenzen der Ausweisung für den Beschwerdeführer an, kann aber nicht feststellen, dass der beschwerdegegnerische Staat in der vorliegenden Rechtssache bei der Entscheidung über die Verhängung dieser Maßnahme seinen eigenen Interessen zu großes Gewicht beigemessen hätte.

38. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

B. Weitere Rügen

39. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass die Ablehnung der Zulassung der Berufung durch das innerstaatliche Gericht willkürlich gewesen sei und daher einer Verletzung der Garantie eines fairen Verfahrens gleichkomme.

40. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Tatsache, dass die Ausweisung Auswirkungen auf das Privat- oder Familienleben des Beschwerdeführers haben könnte, nicht dafür ausreicht, dass dieses Verfahren in den Bereich der durch Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geschützten zivilrechtlichen Ansprüche fällt. Der Gerichtshof ist weiterhin der Auffassung, dass es bei Ausweisungsbescheiden gegen Ausländer auch nicht um Entscheidungen über eine strafrechtliche Anklage geht (siehe Maaouia ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 39652/98, Rdnrn. 38-40, ECHR 2000‑X). Daher ist der Gerichtshof der Ansicht, dass Artikel 6 Abs. 1 in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar ist. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a unzulässig und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 16. April 2015.

Milan Blaško                                         Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler                          Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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