SCHULZ gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 4800/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 4800/12
S.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 31. März 2015 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

Bostjan M. Zupančič, Präsident,
Angelika Nußberger und
Vincent A. de Gaetano,

sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 8. Dezember 2011 erhoben wurde,

im Hinblick auf die am 6. Januar 2015 von der Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde in seinem Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT UND VERFAHREN

Der 19.. geborene Beschwerdeführer, S., ist deutscher Staatsangehöriger und in Z. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten.

Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

Die Beschwerde wurde der Regierung übermittelt.

A. Die Umstände der Rechtssache

Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Der Beschwerdeführer hat einen 2004 geborenen Sohn, der mit seiner Mutter in B. lebt. Nachdem ihm ein Umgang mit seinem Sohn alle drei Wochen von Donnerstag bis Sonntag gewährt wurde, legte der Beschwerdeführer Beschwerde mit dem Ziel ein, Umgang mit seinem Sohn alle vier Wochen jeweils für eine ganze Woche zu erlangen. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer erhob Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin.

Am 13. November 2009 bestätigte der Verfassungsgerichtshof den Eingang der Verfassungsbeschwerde.

Am 24. Januar 2012 verwarf der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers als unzulässig (VerfGH 132/09).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das am 3. Dezember 2011 in Kraft trat, wurden allgemeine Bestimmungen für einen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren eingeführt, die Eingang in Titel 17 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) gefunden haben. Nach den §§ 12 und 13 GVG gilt für die ordentliche Gerichtsbarkeit das Gerichtsverfassungsgesetz. Um auf besondere Gerichtsbarkeiten anwendbar zu sein, muss das Gesetz in deren unterschiedliche Verfahrensordnungen integriert werden.

§ 15 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin sieht vor, dass hinsichtlich der Öffentlichkeit, der Sitzungspolizei, der Gerichtssprache, der Beratung und der Abstimmung die Vorschriften der Titel 14 bis 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes anzuwenden sind. In dem Gesetz findet sich kein Verweis auf Titel 17 des Gerichtsverfassungsgesetzes.

RÜGEN

Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 1 der Konvention rügte der Beschwerdeführer die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Er rügte ferner, dass das deutsche Recht keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen die überlange Dauer von Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vorsehe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

Der Beschwerdeführer rügte die Dauer des in Rede stehenden Zivilverfahrens. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem … Gericht … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

Ferner rügte er, dass das deutsche Recht keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen die überlange Dauer von Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vorsehe. Er berief sich auf Artikel 13 der Konvention, der wie folgt lautet:

„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

Nachdem Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 6. Januar 2015 über ihren Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.

Die Erklärung lautete wie folgt:

„1. Der Beschwerdeführer hat das Angebot der Bundesregierung, das Verfahren vergleichsweise zu beenden, nicht angenommen.

2. Die Bundesregierung erkennt daher – durch diese einseitige Erklärung – an, dass der Beschwerdeführer in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles in seinen Rechten aus Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 letzte Alternative und Artikel 13 der Konvention verletzt worden ist.

3. Die Bundesregierung ist bereit, eine Entschädigung in Höhe von 2.000 EUR an den Beschwerdeführer zu leisten, wenn der Gerichtshof das Individualbeschwerdeverfahren unter der Bedingung der Zahlung dieses Betrages gemäß Artikel 37 Absatz 1 c) EMRK aus dem Register streicht. Damit würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführersim Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin abgegolten Dies umfasst insbesondere die Erstattung von Kosten und Auslagen sowie eine Entschädigung für immateriellen Schaden.Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Entscheidung des Gerichtshofs über die Streichung der Rechtssache in seinem Register.“

Die Bundesregierung fügte hinzu, dass das Land Berlin nunmehr Maßnahmen zur Lösung des in Rede stehenden Problems ergriffen habe, da es einen Gesetzesentwurf vorgelegt habe, der Änderungen der Verfahrensvorschriften des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vorsehe.

Mit Schreiben vom 17. Januar 2015 erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil die beabsichtigte Änderung der Verfahrensvorschriften des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin zur Gewährleistung des Rechts auf wirksame Beschwerde nach Artikel 13 i. V. m. Artikel 8 der Konvention nicht ausreiche. Darüber hinaus habe die Regierung dem Beschwerdeführer keine angemessene immaterielle Entschädigung und keine angemessene Erstattung der Kosten für das Verfahren vor dem Gerichtshof angeboten.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn

„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“

Er weist auch darauf hin, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.

Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Kriterien, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75-77, EGMR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03).

Der Gerichtshof stellt fest, dass der vorliegende Fall die Frage der Angemessenheit der Dauer des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin im Sinne von Art. 6 der Konvention sowie der Verfügbarkeit eines wirksamen Rechtsbehelfs zur Beanstandung der Dauer dieses Verfahrens aufwirft.

Er erinnert daran, dass er, auch in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, bereits in einer Vielzahl von Urteilen und Entscheidungen die Art und den Umfang der Verpflichtungen bestimmt hat, die sich für den beschwerdegegnerischen Staat hinsichtlich der Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ innerhalb „angemessener Frist“ ergeben (siehe u.v.a. S. ./: Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 75529/01, ECHR 2006-…; N ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 27250/02, 29. Juni 2006). Ferner hat der Gerichtshof bereits befunden, dass das deutsche Gerichtssystem in der Vergangenheit weder für anhängige Zivilverfahren (siehe S., a.a.O., Rdnr. 116) noch für abgeschlossene Zivilverfahren (siehe H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20027/02, Rdnrn. 62-68, 11. Januar 2007) einen wirksamen Rechtsbehelf zur Beanstandung der Verfahrensdauer vorsah. Der Gerichtshof hat sich auch mit Individualbeschwerden befasst, die den neuen Rechtsbehelf betrafen (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 62198/11, Rdnrn. 139f., 15. Januar 2015; P. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 68919/10, Rdnrn. 54f., 4. September 2014).

Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung eingeräumt hat, dass der Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 6 und Artikel 13 der Konvention verletzt wurde, weil die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache dem Erfordernis der angemessenen Frist nicht entsprach und weil dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Beanstandung der Dauer dieses Verfahrens zur Verfügung stand. Darüber hinaus hat die Regierung vorgeschlagen, dem Beschwerdeführer durch die Zahlung einer immateriellen Entschädigung sowie der Kosten und Auslagen Wiedergutmachung zu leisten. Die Höhe der Entschädigung entspricht den in ähnlichen Fällen zugesprochenen Beträgen und ist somit angemessen.

Dementsprechend ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).

Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema gewiss, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).

Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung nach den Artikeln 6 und 13 der Konvention sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis;

er beschließt, die Beschwerden gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register zu streichen.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 23. April 2015.

Milan Blaško                                                   Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Sektionskanzler                         Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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