EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 4211/12 und 5850/12
A. B../. Deutschland
und B. B. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. April 2015 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Vincent A. de Gaetano,
André Potocki,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 13. Januar 2012 bzw. 21. Januar 2012 eingereicht wurden,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige. Der erste Beschwerdeführer, A. B., geboren 19.., wird vor dem Gerichtshof von Herrn S., Rechtsanwalt in K., vertreten. Der zweite Beschwerdeführer, B. B., geboren 19.., wird vor dem Gerichtshof von Herrn B., Rechtsanwalt in B., vertreten. Beide Beschwerdeführer verbüßen derzeit eine Freiheitsstrafe in B.
A. Die Umstände der Rechtssache
2. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:
3. In der Nacht vom 5. zum 6. Januar 2006 kam es vor einem Nachtclub in einer Diskomeile zu einer Schießerei, bei der mehrere Personen schwer verletzt wurden.
1. Der Strafprozess gegen G. L.
4. Am 11. Dezember 2007 wurde G. L. von einer mit dem Vorsitzenden Richter S., dem Richter P., einem weiteren Berufsrichter und zwei Schöffen besetzten Kammer des Landgerichtswegen versuchten Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Führens einer Waffe zu zehn Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.
5. Auf der Grundlage des von G. L. abgelegten Geständnisses, das von Zeugenaussagen gestützt wurde, kam die Kammer zu dem Schluss, dass G.L. die Schüsse auf eine vor dem Nachtclub stehende Menschenmenge eröffnet und dabei die Möglichkeit tödlicher Treffer billigend in Kauf genommen habe. Die Kammer maß G. L.s Aussage, dass die Beschwerdeführer an der Schießerei nicht beteiligt gewesen seien, keine Glaubwürdigkeit bei, sondern war der Auffassung, dass G. L. die Taten gemeinschaftlich mit den Beschwerdeführern begangen habe. Gestützt auf Zeugenaussagen und ein Gutachten zu den am Tatort gefundenen Projektilen kam die Kammer zu dem Schluss, der erste Beschwerdeführer habe mindestens drei Schüsse und der zweite Beschwerdeführer mindestens einen Schuss abgegeben. G. L. und die Beschwerdeführer hätten nach einem gemeinsam gefassten Plan gehandelt, weshalb nach § 25 Abs. 2 StGB jeder der Täter für die Taten seiner Mittäter verantwortlich sei (Mittäterschaft, siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“).
6. Das 151 Seiten lange Urteil enthielt u. a. folgende Bezugnahmen auf die Beschwerdeführer:
„Alle drei waren inzwischen mit Schusswaffen ausgerüstet. Ihnen war – wenn auch ohne ausdrückliche Verständigung – klar, dass gegebenenfalls die mitgeführten Waffen auch eingesetzt werden sollten. […]Zu diesem Zeitpunkt spätestens waren der Zeuge A. B. [der erste Beschwerdeführer] mit einem silberfarbenen Revolver, Kaliber 9 mm, und der Zeuge B. B. [der zweite Beschwerdeführer] mit einer Pistole, Kaliber 7,65 mm, die aus Bauteilen verschiedener Waffen zusammengesetzt war, bewaffnet. (S. 34 des Urteils) […]Unmittelbar nach der ersten Schussabgabe durch den Angeklagten zogen A. B. und B. B. ihre Waffen und feuerten ebenfalls in Richtung des maßgeblichen Nachtclubs. (S. 36) […]Im unmittelbaren Schussfeld des Angeklagten und der Zeugen B. B. und A. B. befanden sich zahlreiche Personen (S. 37) […]Für ihre [Zeugen] Darstellung spricht weiter, dass der Angeklagte und die Brüder B. [die Beschwerdeführer] dann auch tatsächlich mit Schusswaffen ausgerüstet waren. (S. 78) Die Feststellungen zu den weiteren Schützen beruhen zum einen auf den glaubhaften Angaben der Zeugen […]. M. hat bekundet, dass der Angeklagte sowie die Zeugen A. B. und B. B. jeweils eine Waffe in der Hand gehabt hätten. (S. 100) […]Bestätigt werden diese Bekundungen durch die Angaben des Zeugen K. Dieser habe gesehen, dass sowohl B. B. als auch A. B. eine Waffe gehabt hätten. Beide hätten ganz schnell geschossen und seien dann verschwunden. (S. 100) […] Der Zeuge K. hat geschildert, dass er kurz vor seinem Eintreffen am Tatort zwei Schüsse gehört habe. Kurz danach sei es richtig losgegangen. Er habe gesehen, wie B. B., A. B. und der Angeklagte geschossen hätten. (S. 100) Der Zeuge D. schließlich hat angegeben, er habe außer bei dem Angeklagten auch bei A. B. und B. B. jeweils eine Waffe in der Hand gesehen, er könne aber nicht sicher sagen, ob die beiden auch geschossen hätten. Die Waffe des Angeklagten hätte ebenso wie die Waffe des B. B. keine Trommel gehabt und sei schwarz gewesen. (S. 100/101) Angesichts dieses Spurenbildes steht damit fest, dass […] die Patrone mit der Hülse, die mit Spur-Nr. 28 gekennzeichnet ist, in der […] Waffe gezündet worden ist, die B. B. abgefeuert hat. (S. 105/106) Die Feststellung, dass auch B. B. Schütze gewesen ist, lässt sich mit den Angaben des Zeugen […] in Einklang bringen […] (S. 104)Diese beiden Pistolen sind vom Angeklagten und von B. B. eingesetzt worden. (S. 106) […]Die Pistole des B. B. klemmte bereits nach dem ersten Schuss. (S. 106) […] Der Angeklagte hat sich gemeinsam mit den Brüdern A. B. und B. B. eines gemeinschaftlich versuchten Totschlages in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe gemäß §§ […] StGB […] schuldig gemacht. (S. 130) […]Nach den getroffenen Feststellungen hat es zwischen dem Angeklagten und den Zeugen A. B. und B. B. zumindest eine konkludente Vereinbarung dahingehend gegeben, gemeinsam zur Tür des „Y.“ [Nachtclub] zurückzukehren und bei der erwarteten Auseinandersetzung mit der X.-Gruppe auch die mitgeführten Waffen einzusetzen. (S. 131) […]Der Gesamtzusammenhang belegt, dass jeder der drei Schützen […] von der Bewaffnung des jeweils anderen gewusst hat. (S. 131) […]Die Abgabe des ersten Schusses durch den Angeklagten hat auch B. B. und A. B. sogleich zum Einsatz ihrer eigenen Waffen veranlasst, ohne dass eine Zäsur eingetreten wäre oder hierfür ein Anlass erkennbar wurde. (S. 132)“
7. Bei der mündlichen Urteilsbegründung ging der Vorsitzende Richter S. auch auf die mutmaßliche Beteiligung der beiden Beschwerdeführer an dem Vorfall ein.
2. Das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführer
8. Beide Beschwerdeführer wurden am 6. Januar 2006 verhaftet und verblieben bis 21. April 2006 in Untersuchungshaft. Der zweite Beschwerdeführer befand sich ferner vom 17. Januar 2008 bis zum 28. Januar 2009 sowie vom 17. April 2009 bis zum Ende seines Strafverfahrens in Untersuchungshaft.
9. Am 29. Februar 2008 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Beschwerdeführer wegen versuchten Totschlags und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Der mit der Sache der Beschwerdeführer befassten Kammer gehörten der Vorsitzende S. und Richter P. – die beide als Richter an der Hauptverhandlung gegen G. L. mitgewirkt hatten – sowie ein weiterer Berufsrichter und zwei Schöffen an.
10. Der zweite Beschwerdeführer wurde ab März 2006 von Frau P., Strafverteidigerin mit Kanzlei in F., vertreten. Der zweite Beschwerdeführer beantragte beim Landgericht, dass ihm als zweiter Verteidiger Herr B., der ihn auch vor dem Gerichtshof vertritt, zugeordnet werde.
11. Am 25. bzw. 26. März 2008 forderte der Vorsitzende Richter am Landgericht die Verteidiger der Beschwerdeführer auf, ihm ihre Verfügbarkeit zwischen 28. April und 31. Dezember 2008 mitzuteilen.
12. Am 31. März 2008 teilte Frau P. dem Landgericht mit, dass sie frühestens ab Mai 2008 zur Verfügung stehen könne. Ferner schlug sie die Anberaumung von zwei Verhandlungstagen pro Woche, jeweils montags und freitags, vor. Ferner gab sie an, dass die Verteidigung des zweiten Beschwerdeführers sichergestellt wäre, wenn Herr B. als zweiter Verteidiger bestellt würde. Sie verwies darauf, dass auch in dem Verfahren gegen G. L. ein zweiter Verteidiger bestellt worden sei.
13. Am 2. April 2008 teilte der Vorsitzende Richter am Landgericht den Verteidigern der Beschwerdeführer die Verhandlungstermine mit, die überwiegend an drei Tagen pro Woche anberaumt waren, und ersuchte sie darum, jeweils ihre Verfügbarkeit zu bestätigen. Angesichts der Tatsache, dass die Beschwerdeführer jeweils nur von einem beigeordneten Verteidiger vertreten werden würden, sei es immens wichtig, dass die jeweiligen Verteidiger pünktlich zu den Verhandlungsterminen erschienen. Außerdem teilte er der Verteidigung der Beschwerdeführer mit, dass er beabsichtige, die Bestellung von Frau P. als Pflichtverteidigerin des zweiten Beschwerdeführers angesichts der Entfernung ihrer in F. befindlichen Kanzlei vom Landgericht, wo die Termine stattfinden würden, zu beenden.
14. Am 18. April fand eine Vorbesprechung statt, an der der Vorsitzende Richter, Richter P. und die Staatsanwaltschaft sowie die Verteidiger der Beschwerdeführer teilnahmen. Ausweislich einer nach dieser Vorbesprechung vom Vorsitzenden Richter gefertigten Aktennotiz konnte Frau P. keine verbindliche Erklärung dahingehend abgeben, dass sie an allen Verhandlungstagen verfügbar sei.
15. Am 23. April 2008 hob der Vorsitzende Richter des Landgerichts die Bestellung von Frau P. als Verteidigerin des zweiten Beschwerdeführers auf, lehnte dessen Antrag auf Bestellung von Herrn B. ab und ordnete dem zweiten Beschwerdeführer einen anderen, in X. niedergelassenen Rechtsanwalt als Verteidiger bei. Der Vorsitzende Richter vermerkte, dass keiner der Verteidiger seine Verfügbarkeit für alle angesetzten Verhandlungstage zugesichert habe. Er führte ferner aus, dass aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Frau P. und dem zweiten Beschwerdeführer eine Fortführung ihrer Bestellung erstrebenswert gewesen wäre. Es sei, sofern keine schwerwiegenden Gründe dagegensprächen, regelmäßig der Vertrauensanwalt zu bestellen. Im vorliegenden Fall allerdings mache es die Ortsferne von Frau P.s Kanzlei erforderlich, ihre Bestellung zurückzunehmen. Den einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs zufolge sei den in dem Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwälten der Vorzug zu geben. Die Ortsnähe des Verteidigers sei im Hinblick auf eine angemessene Verteidigung und einen ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens ein wichtiger Aspekt. Dieser Faktor gewinne durch den Umstand, dass sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befinde und mit einer erheblichen Verfahrensdauer zu rechnen sei, noch an Bedeutung. Trotz des in Untersuchungshaftsachen gebotenen Beschleunigungsgebots habe Frau P. keine verbindliche Erklärung abgegeben, dass sie an allen (oder zumindest fast allen) anberaumten Verhandlungsterminen verfügbar sein werde. Abschließend merkte der Vorsitzende Richter an, dass die weitere Beiordnung von Frau P. beträchtliche Zusatzausgaben durch Abwesenheitszeiten, Reise- und Unterkunftskosten verursachen würde.
16. Am 9. Juni 2008 verwarf das Oberlandesgericht die gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde des zweiten Beschwerdeführers. Das Oberlandesgericht war der Ansicht, dass sich der Vorsitzende Richter des Landgerichts bei der Zurücknahme der Bestellung von Frau P. im Rahmen seines Ermessensspielraums bewegt habe. Der Vorsitzende habe mehrere objektive Gründe für seine Entscheidung angeführt. Die Entfernung zwischen der Kanzlei der Verteidigung und dem Gerichtssitz sei ein wichtiger Aspekt bei der Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung. Zwar treffe es zu, dass Frau P. bereits zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Bestellung als Verteidigerin im Juli 2006 eine Kanzlei in F. unterhalten habe, dies stehe aber, insbesondere wenn im Verlauf des Verfahrens weitere Gründe zutageträten, einer späteren Zurücknahme der Beiordnung nicht entgegen. In diesem Zusammenhang stellte das Oberlandesgericht fest, dass der zweite Beschwerdeführer im Januar 2008 festgenommen worden sei und sein Fall mit der in Untersuchungshaftsachen gebotenen besonderen Zügigkeit verhandelt werden müsse. Trotz wiederholter Aufforderung durch den Vorsitzenden Richter habe Frau P. keine verbindliche und eindeutige Erklärung abgegeben, dass es ihr möglich sein werde, an allen – oder fast allen – anberaumten Terminen anwesend zu sein. Das Oberlandesgericht stellte abschließend fest, dass der zweite Beschwerdeführer nicht nachgewiesen habe, dass ein spezielles Vertrauensverhältnis zu Frau P. bestehe, das ausnahmsweise die immensen Kosten rechtfertigen würde, die mit ihrer Bestellung als Verteidigerin einhergehen würden.
17. Frau P. führte die Vertretung des zweiten Beschwerdeführers bis zum 3. Februar 2009 als Wahlverteidigerin fort; anschließend endete ihr Mandat aus Kostengründen.
18. Am 18. und 25. Juni 2008 stellten die Beschwerdeführer Befangenheitsanträge gegen die Richter S. und P., wobei sie als Begründung anführten, dass beide der Kammer angehört hätten, die den mutmaßlichen Mittäter G. L. verurteilt habe. Sie waren der Auffassung, die mit dem Fall von G. L. befasste Kammer habe bezüglich der Schuld der Beschwerdeführer eine endgültige Meinung gebildet. Die in dem Urteil gegen G. L. enthaltenen Feststellungen zur mutmaßlichen Beteiligung der Beschwerdeführer seien nicht erforderlich gewesen, da G. L. in seinem Geständnis die volle Verantwortung für die Schießerei übernommen habe. Der zweite Beschwerdeführer verwies außerdem auf die Zurücknahme der Bestellung von Frau P. als seine Pflichtverteidigerin.
19. Am 27. Juni 2008 wies eine andere Kammer des Landgerichts die Befangenheitsanträge als unbegründet zurück. Das Landgericht wies erneut darauf hin, dass eine bloße frühere Mitwirkung in derselben Sache für sich genommen keine objektiv berechtigten Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richter begründe. Es lägen keine besonderen Umstände vor, die im vorliegenden Fall eine andere Schlussfolgerung erlaubten. Die Bezugnahmen auf die Beteiligung der Beschwerdeführer an der Schießerei seien für die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortung von G. L. im Rahmen der gemeinschaftlichen Tatbegehung unverzichtbar gewesen. Die Strafkammer sei verpflichtet gewesen, zur Feststellung der Schuld des Angeklagten die verschiedenen Tatbeiträge den verschiedenen an der Schießerei beteiligten Personen zuzuordnen. Dies gelte auch für die mündliche Eröffnung der Urteilsgründe durch den Vorsitzenden bei der Verkündung des Urteils gegen G. L.
20. Das Landgericht führte die Hauptverhandlung in der Rechtssache der Beschwerdeführer beginnend am 25. Juni 2008 an 119 Verhandlungstagen durch.
21. Am 4. März 2010 erklärte das Landgericht die Beschwerdeführer, die jede Beteiligung an der Schießerei bestritten hatten, des versuchten Totschlags, der gefährlichen Körperverletzung und des unerlaubten Waffenbesitzes für schuldig und verurteilte den ersten Beschwerdeführer zu acht Jahren und den zweiten Beschwerdeführer zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. Aufgrund von Zeugenaussagen, die durch Indizienbeweise und Sachverständigengutachten gestützt wurden, sah es das Landgericht als erwiesen an, dass die beiden Beschwerdeführer an der Schießerei vom 6. Januar 2006 beteiligt gewesen seien, wobei der zweite Beschwerdeführer einen Schuss und der erste Beschwerdeführer mindestens drei Schüsse abgegeben habe, bevor ihre Waffen blockiert hätten. Das Landgericht sah es ferner als erwiesen an, dass die Beschwerdeführer als Vertrauenspersonen für die Polizei des betroffenen Bundeslandes tätig gewesen seien, war aber nicht der Auffassung, dass sich dieser Umstand auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit auswirke.
22. Das 354 Seiten lange Urteil enthielt eine Zusammenfassung der vorausgegangenen Verfahren. Hinsichtlich des gegen G. L. ergangenen Urteils wird ausgeführt:
„Das Schwurgericht I verurteilte ihn [G. L.] […] wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten. Das Schwurgericht I war damals zu der Überzeugung gelangt, dass G. L. mit den hier Angeklagten A. B. und B. B. eine Vielzahl an Schüssen auf die vor dem maßgeblichen Nachtclub stehende Personengruppe abgegeben hatte. Das Urteil gegen G. L. ist inzwischen rechtskräftig. G. L. wurde in der hiesigen Hauptverhandlung zwei Mal zu seiner Vernehmung als Zeuge vorgeführt. Obwohl ihm weder ein Auskunfts- noch ein Zeugnisverweigerungsrecht zustanden, verweigerte er in der hiesigen Hauptverhandlung jegliche Angaben […].“
23. Beide Beschwerdeführer legten gegen das Urteil vom 4. März 2010 Revision ein, wobei sie u. a. die Parteilichkeit des mit ihrem Fall befassten Schwurgerichts rügten. Der zweite Beschwerdeführer rügte außerdem die Zurücknahme der Beiordnung von Frau P. als seine Pflichtverteidigerin. Am 21. Juni 2011 verwarf der Bundesgerichtshof die Revisionen der Beschwerdeführer.
24. Am 3. August 2011 lehnte das Bundesverfassungsgericht es ab, die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
25. § 142 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO) in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung lautete:
„(1) Der zu bestellende Verteidiger wird durch den Vorsitzenden des Gerichts möglichst aus der Zahl der in dem Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwälte ausgewählt. Dem Beschuldigten soll Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen. Der Vorsitzende bestellt den vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen.“
26. Nach § 155 Abs. 1 StPO erstrecken sich strafrechtliche Untersuchungen und die entsprechenden Entscheidungen nur auf die in der Klage bezeichnete Tat und auf die durch die Klage beschuldigte Person. § 264 Abs. 1 StPO bestimmt, dass ein in einem Strafverfahren ergangenes Urteil die in der Anklage bezeichnete Tat zum Gegenstand hat, so wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung näher konkretisiert darstellt.
27. § 25 des Strafgesetzbuchs (StGB) sieht Folgendes vor:
Täterschaft
„(1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht.
(2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).“
RÜGEN
28. Die Beschwerdeführer rügten unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention die fehlende Unparteilichkeit der mit ihrer Rechtssache befassten Kammer des Landgerichts. Der zweite Beschwerdeführer rügte auch, dass er durch die Zurückweisung seines Befangenheitsantrags in seinen Rechten aus Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt worden sei. Der zweite Beschwerdeführer rügte ferner nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c die Zurücknahme der Bestellung seiner ursprünglichen Verteidigerin Frau P.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Verbindung der Beschwerden
29. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verbunden werden sollten.
B. Rüge bezüglich des Fehlens eines unparteiischen Gerichts
30. Die Beschwerdeführer rügten nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention die angeblich fehlende Unparteilichkeit des Landgerichts und gaben an, dass zwei der drei Kammerrichter zuvor bereits ein Urteil gegen ihren mutmaßlichen Mittäter G. L. erlassen hätten, in dem sie eindeutige Aussagen zu der Beteiligung der Beschwerdeführer an der Straftat und ihrer jeweiligen Schuld getroffen hätten, womit sie den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 verletzt hätten. Den Beschwerdeführern zufolge seien diese Aussagen nicht nötig gewesen, da G. L. die volle Verantwortung für die ihm zur Last gelegten Straftaten übernommen habe und folglich keine Notwendigkeit bestanden habe, eine mögliche Beteiligung weiterer Personen zu prüfen. Sie machten ferner geltend, dass der Vorsitzende Richter bei der Verkündung des Urteils gegen G. L. seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht habe, dass die Beschwerdeführer weitaus stärker an der Schießerei beteiligt gewesen seien, als bis dato von der Polizei angenommen worden sei, was veranlasst habe, dass neuerliche Ermittlungen gegen sie eingeleitet worden seien.
31. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die vorliegende Rüge in erster Linie nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu prüfen ist, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“
32. In der Rechtssache Khodorkovskiy und Lebedev ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 11082/06 und 13772/05, Rdnrn. 543-547, 25. Juli 2013, hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung hinsichtlich der Frage der früheren Mitwirkung eines Richters in dem Verfahren eines mutmaßlichen Mittäters folgendermaßen zusammengefasst:
„543. Der Gerichtshof stellt fest, dass er in einer Reihe von Fällen zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Beteiligung desselben Richters an zwei unterschiedlichen Verfahren zum selben Sachverhalt möglicherweise eine Frage nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention aufwerfen kann (siehe Ferrantelli und Santangelo ./. Italien, 7. August 1996, Rdnr. 59, Reports of Judgments and Decisions 1996‑III; und Rojas Morales ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 39676/98, Rdnr. 33, 16. November 2000).
544. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der Gerichtshof seine Position präzisiert und festgestellt, dass allein die Tatsache, dass ein Richter bereits gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, für sich genommen nicht ausreicht, um die Unparteilichkeit dieses Richters im Falle des entsprechenden Beschwerdeführers in Zweifel zu ziehen (siehe S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 75737/01, Rdnrn. 37 f., 10. August 2006; und Poppe ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 32271/04, Rdnrn. 22 f., 24. März 2009). In der Strafgerichtsbarkeit ist es in der Praxis häufig so, dass Richter bei verschiedenen Verfahren den Vorsitz führen, bei denen gegen mehrere Mittäter als Angeklagte verhandelt wird. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Arbeit der Strafgerichte unmöglich gemacht würde, wenn allein durch diesen Umstand die Unparteilichkeit eines Richters infrage gestellt werden könnte. Allerdings muss geprüft werden, ob die früheren Urteile Feststellungen enthielten, durch die die Frage der Schuld des Beschwerdeführers tatsächlich vorweggenommen wurde.“
33. In der Rechtssache S., a. a. O., hat der Gerichtshof betont, dass das gegen den Beschwerdeführer erlassene Urteil keine Hinweise auf das Urteil gegen den als Mittäter Angeklagten enthielt, was zeigte, dass die Richter die Rechtssache des Beschwerdeführers erneut geprüft hatten. Ferner beruhte der in dem Urteil gegen den Mittäter hinsichtlich der Tatbeteiligung des Beschwerdeführers festgestellte Sachverhalt im Wesentlichen auf dem Vortrag des Mittäters und stellte somit keine Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers durch das Landgericht dar. In der Rechtssache Poppe, a. a. O., hat der Gerichtshof es als entscheidend angesehen, dass der Name des Beschwerdeführers in den Urteilen gegen die Mittäter nur am Rande erwähnt wurde und die Tatrichter keine Feststellung dahingehend getroffen hatten, ob der Beschwerdeführer sich der Begehung einer Straftat schuldig gemacht habe.
34. In der Rechtssache Miminoshvili ./. Russland (Individualbeschwerde Nr. 20197/03, Rdnrn. 117 f., 28. Juni 2006) hat der Gerichtshof das gegen den Mittäter ergangene Urteil ausgewertet und betont, dass der Name des Beschwerdeführers dort an keiner Stelle in einem ihn belastenden Zusammenhang Erwähnung fand; das innerstaatliche Gericht hatte den Beschwerdeführer – anders als im Fall Ferrantelli und Santangelo, a. a. O. – nicht als „Täter“ oder „Mittäter“ bezeichnet. In dem Urteil waren die von mehreren Zeugen zu dem Beschwerdeführer gemachten Angaben wiedergegeben. Sie wurden dort allerdings in indirekter Rede wiedergegeben, nicht als eigene Feststellungen des Gerichts. Und schließlich berücksichtigte der Gerichtshof, dass die Tatrichterin Berufsrichterin und als solche a priori in höherem Maße als beispielsweise ein ehrenamtlicher Richter oder Schöffe in der Lage war, sich von den in der Verhandlung gegen den als Mittäter Angeklagten gewonnen Eindrücken freizumachen.
35. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Urteil gegen die Beschwerdeführer abgesehen von einer kurzen Zusammenfassung der vorausgegangenen Verfahren (siehe Rdnr. 22) keinen Hinweis auf das gegen G. L. ergangene Urteil enthielt. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Richter sich in dem Verfahren gegen die Beschwerdeführer auf Feststellungen aus dem Urteil gegen G. L. gestützt hätten. Vielmehr deuten die 119 Tage währende Dauer des Strafverfahrens und die sorgfältige Auswertung der Zeugenaussagen in dem Urteil darauf hin, dass das Landgericht seinem Urteil eine neuerliche Sachverhaltswürdigung zugrundegelegt und sich dabei nur auf die in diesem Verfahren geprüften Beweise gestützt hat.
36. Hinsichtlich des Urteils gegen G. L. stellt der Gerichtshof fest, dass eine erhebliche Zahl der Verweise auf die Beschwerdeführer (siehe Rdnr. 6) in indirekter Rede wiedergegeben wurde und nicht als eigene Feststellungen des Gerichts. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht nur insoweit auf die Beteiligung der Beschwerdeführer an der Schießerei Bezug nahm, als dies zur Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten erforderlich war. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit anerkannt, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, gegen die nicht in einem gemeinsamen Verfahren verhandelt werden kann, unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht zur Bewertung der Schuld der Angeklagten auf die Beteiligung Dritter eingeht, gegen die später möglicherweise ein gesondertes Verfahren geführt wird. Strafgerichte sind verpflichtet, zur Bewertung der strafrechtlichen Verantwortung der Angeklagten den maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich festzustellen und dürfen Tatsachenfeststellungen nicht als bloße Behauptungen oder Vermutungen darstellen (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17103/10, Rdnr. 64, 27. Februar 2014). Um G. L.s Schuld im Rahmen der gemeinschaftlichen Tatbegehung festzustellen, war die Strafkammer verpflichtet, die verschiedenen Tatbeiträge den unterschiedlichen an der Schießerei beteiligten Personen zuzuordnen. Ferner bedurfte es der Feststellung, dass G. L. und die Beschwerdeführer nach einem gemeinsam gefassten Plan gehandelt hatten. Das gegen G. L. erlassene Urteil enthielt jedoch keine Aussagen hinsichtlich der individuellen Schuld der Beschwerdeführer.
37. Im Hinblick auf die Äußerungen des Vorsitzenden Richters bei der mündlichen Verkündung des Urteils gegen G. L. betont der Gerichtshof, dass ihm der exakte Wortlaut dieser Äußerungen nicht vorgelegt wurde. Folglich gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die mündliche Ausführung über den Inhalt des schriftlichen Urteils hinausging.
38. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des Umstands, dass von den Richtern S. und P. als Berufsrichter erwartet werden konnte, dass sie sich von den in der Verhandlung gegen G. L. gewonnen Eindrücken freimachten, kann der Gerichtshof nicht feststellen, dass die von den Beschwerdeführern gehegte Befürchtung der Parteilichkeit auf objektiven Gründen beruhte. Folglich ist im Fall der Beschwerdeführer keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ersichtlich.
39. Daraus folgt, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
C. Rüge bezüglich der Zurücknahme der Bestellung der Verteidigerin des zweiten Beschwerdeführers
40. Der zweite Beschwerdeführer rügte, dass ihm nicht gestattet worden sei, sich von der Verteidigerin seiner Wahl verteidigen zu lassen. Die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts hinsichtlich der Zurücknahme der Bestellung von Frau P. als Verteidigerin seien willkürlich gewesen. Diese Gerichte hätten insbesondere nicht die von Frau P. am 31. März 2008 vorgelegte schriftliche Erklärung berücksichtigt, wonach sie die Verteidigung des zweiten Beschwerdeführers ab Mai 2008 vollumfänglich sicherstellen könne. Außerdem hätten die Gerichte, insbesondere im Zusammenhang mit der Tätigkeit des zweiten Beschwerdeführers als Vertrauensperson der Polizei, dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Frau P. und dem zweiten Beschwerdeführer kein hinreichendes Gewicht beigemessen. Der zweite Beschwerdeführer berief sich auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention, der Folgendes vorsieht:
„3. Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
[…]
c)[…] sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;“
41. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Garantien in Artikel 6 Abs. 3 besondere Aspekte des in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren in strafrechtlichen Angelegenheiten sind. Folglich wird die Rüge des zweiten Beschwerdeführers unter diesen beiden Bestimmungen im Zusammenhang geprüft (siehe u. v. a. Benham ./. das Vereinigte Königreich, 10. Juni 1996, Rdnr. 52, Reports of Judgments and Decisions 1996‑III). Es ist zutreffend, dass nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, Anspruch auf Verteidigung durch einen Verteidiger ihrer Wahl hat. Dennoch kann dieses Recht, ungeachtet der Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant, nicht als ein absolutes Recht angesehen werden. Es unterliegt notwendigerweise bestimmten Beschränkungen, wenn es um Prozesskostenhilfe geht und auch dann, wenn die Gerichte – wie in der vorliegenden Rechtssache – zu entscheiden haben, ob es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, dass die angeklagte Person durch einen gerichtlich bestellten Verteidiger verteidigt wird (siehe C. ./. Deutschland, 25. September 1992, Rdnr. 29, Serie A Band 237‑B; und Lagerblom ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 26891/95, Rdnr. 54, 14. Januar 2003). Bei der Verteidigerbestellung haben die nationalen Gerichte durchaus die Wünsche des Angeklagten zu berücksichtigen; und in der Tat sieht das deutsche Recht in § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO einen entsprechenden Ablauf vor (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“). Allerdings können sie diese Wünsche auch missachten, wenn maßgebliche und hinreichende Gründe dafürsprechen, dass dies im Interesse der Rechtspflege notwendig ist (siehe C., ebd.). Der Gerichtshof merkt ferner an, dass die Konventionsstaaten, die eher in der Lage sind, die zur Gewährleistung der Rechte der Verteidigung erforderlichen Mittel zu wählen, diesbezüglich einen Ermessensspielraum haben (vgl. Correia de Matos ./. Portugal (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 48188/99, ECHR 2001‑XII).
42. Was die Umstände des vorliegenden Falles anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht zur Begründung seiner Entscheidung, Frau P.s Beiordnung als Pflichtverteidigerin des zweiten Beschwerdeführers zurückzunehmen, folgende Gründe anführte: Frau P. habe nicht schriftlich und unmissverständlich ihre Verfügbarkeit an allen angesetzten Verhandlungstagen zugesichert. Ferner sei mit einer erheblichen Verfahrensdauer zu rechnen und besondere Zügigkeit geboten gewesen, da der zweite Beschwerdeführer sich in Untersuchungshaft befunden habe. Das Landgericht erkannte zwar das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner aktuellen Verteidigerin an, vertrat aber in Übereinstimmung mit § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung die Auffassung, dass einem im maßgeblichen Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwalt der Vorzug zu geben sei. Abschließend verwies das Landgericht noch auf die erheblichen Zusatzkosten, die mit der Beiordnung einer ortsfernen Verteidigerin einhergehen würden.
Das Oberlandesgericht bestätigte diese Entscheidung, wobei es unterstrich, dass der Umstand, dass der zweite Beschwerdeführer am 8. Januar 2008 in Untersuchungshaft genommen worden sei, einen neuen und bei der Überprüfung der Verteidigerbestellung zu berücksichtigenden Faktor dargestellt habe.
43. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung, die Beiordnung von Frau P. als durch Prozesskostenhilfe finanzierte Pflichtverteidigerin zurückzunehmen, selbst vor dem Hintergrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses treffend und hinreichend begründet haben. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die von dem Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen keine schriftliche Zusicherung der Verfügbarkeit von Frau P. an allen anberaumten Verhandlungstagen enthielten. In ihrem Schreiben an das Landgericht vom 31. März 2008 hatte Frau P. lediglich angegeben, dass sie frühestens ab Mai 2008 zur Verfügung stehen könne, und die Anberaumung von zwei Sitzungstagen pro Woche angeregt, wohingegen das Gericht später einen engeren Sitzungstakt einplante.
44. Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass der zweite Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens weiterhin anwaltlich vertreten war und nicht dargelegt hat, dass er nach der im April 2008 erfolgten Zurücknahme der Bestellung von Frau P. als Pflichtverteidigerin und der dann im Februar 2009 erfolgten Niederlegung ihres Wahlverteidigermandats nicht mehr angemessen vertreten worden sei. Es kann folglich nicht behauptet werden, dass das Verfahren gegen den zweiten Beschwerdeführer aufgrund der Zurücknahme der Bestellung insgesamt unfair gewesen sei.
45. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass nicht festgestellt werden kann, dass die Zurücknahme von Frau P.s Beiordnung mit den Erfordernissen nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c unvereinbar gewesen wäre.
46. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:
Die Individualbeschwerden werden verbunden;
die Individualbeschwerden werden hinsichtlich der Rüge der fehlenden Unparteilichkeit mit Stimmenmehrheit für unzulässig erklärt;
im Übrigen wird die Rechtssache einstimmig für unzulässig erklärt.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 21. Mai 2015.
Milan Blaško Mark Villiger
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar