EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
K. GEGEN DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 38030/12)
URTEIL
STRASSBURG
23. April 2015
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache K. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion), als Kammer bestehend aus den Richterinnen und Richtern:
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
André Potocki,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht-öffentlicher Beratung am 24. März 2015
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 38030/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die eine pakistanische Staatsangehörige, K. („die Beschwerdeführerin”), am 19. Juni 2012 nach Artikel 34 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Die Beschwerdeführerin wurde von Frau G., Rechtsanwältin in G., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung”) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführerin behauptete, ihre beabsichtigte Ausweisung nach Pakistan stelle eine Verletzung der Artikel 8 und 6 der Konvention dar.
4. Am 25. November 2013 entschied der Präsident der Fünften Sektion, der die Sache zugewiesen war, der Regierung die Beschwerde zur Kenntnis zu bringen.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Die Beschwerdeführerin wurde 19.. in Pakistan geboren und lebt zurzeit in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in H..
6. 1990 heiratete die Beschwerdeführerin in Pakistan und konvertierte zum Glauben Ihres Ehemannes, der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya.
7. 1991 zogen die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann nach Deutschland. Dem Ehemann wurde Flüchtlingsstatus gewährt, während der Asylantrag der Beschwerdeführerin abgelehnt wurde. Als Ehefrau eines Flüchtlings erhielt sie am 16. Juni 1994 eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
8. 1995 brachte die Beschwerdeführerin ihren Sohn zur Welt. 1998 trennten sich die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann. Der Sohn blieb bei der Beschwerdeführerin. Seitdem arbeitete die Beschwerdeführerin als Reinigungskraft in verschiedenen Unternehmen. Am 7. September 2001 erhielt sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
9. Im März 2004 wurde die Beschwerdeführerin verhaltensbedingt arbeitslos, was scheinbar auf psychische Probleme zurück ging. Im Juli 2004 wurde die Ehe zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehepartner geschieden. 2005 übertrug das Familiengericht das Sorgerecht für ihren Sohn auf ihren Ehemann, und ihr Sohn lebte ab diesem Zeitpunkt bei ihm.
10. Am 31. Mai 2004 tötete die Beschwerdeführerin eine Nachbarin, indem sie diese würgte und eine Treppe hinunterstieß. In der Folge wurde sie festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Nach einem Selbstmordversuch ordnete ein innerstaatliches Gericht ihre Einweisung in eine psychiatrische Klinik an.
11. Am 13. Juli 2005 stellte das Landgericht Gießen fest, dass die Beschwerdeführerin im Zustand der Schuldunfähigkeit einen Totschlag begangen habe. Zum Zeitpunkt der Tat habe sie sich im Zustand einer akuten Psychose befunden. Ein medizinischer Gutachter habe festgestellt, dass sie unter Symptomen von Schizophrenie leide und von verminderter Intelligenz sei. Sie habe keine Einsicht in ihren eigenen psychischen Zustand. Das innerstaatliche Gericht kam daher zu dem Schluss, dass sie weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle und eine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik anzuordnen sei. Es wurde zudem ein Betreuer für die Beschwerdeführerin bestellt.
12. Am 4. Juni 2009 ordnete das Landratsamt Waldeck-Frankenthal die Ausweisung der Beschwerdeführerin an. Unter Berufung auf § 55 Abs. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (im Folgenden „Aufenthaltsgesetz” genannt, siehe Rdnr. 25) bezog essich auf die Straftat, die zur Einweisung der Beschwerdeführerin in die psychiatrische Klinik geführt hatte, sowie auf ihren psychischen Zustand im Allgemeinen. Das Landratsamt kam zu dem Schluss, dass sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. In einem solchen Fall seien ihre persönlichen Umstände, nämlich ihr langer Aufenthalt in Deutschland und ihr Aufenthaltstitel zweitrangig. Sie sei weder wirtschaftlich integriert noch hinreichend in der Lage, sich auf Deutsch zu verständigen, was ein Hindernis für ihre Therapie sei. Sie habe nur begrenzten Kontakt zu ihrem früheren Ehemann und ihrem Sohn und sei noch mit der pakistanischen Kultur vertraut. Eine angemessene medizinische Versorgung stehe in Pakistan zur Verfügung und ihre dortige Familie könne sie unterstützen.
13. Im November 2009 wurden der Beschwerdeführerin Lockerungen in der Klinik gewährt; so bekam sie z.B. mehrere Tage Urlaub, ohne dass dies Anlass zu Beschwerden gab. Sie begann auch in Vollzeit in der Wäscherei der Klinik zu arbeiten. Dies war aufgrund ihrer verbesserten psychischen Gesundheit möglich. In einem Verfahren über eine vorläufige Aussetzung der Ausweisung verpflichteten sich die Behörden, die Ausweisungsentscheidung nicht zu vollziehen, bevor ein Urteil in der Hauptsache ergangen sei.
14. Am 1. März 2011 wies das Verwaltungsgericht Kassel die Klage der Beschwerdeführerin gegen die Ausweisungsverfügung ab. Das Gericht bestätigte die Entscheidung, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der von ihr begangenen schweren Straftat und der Tatsache, dass sie sich ihres eigenen Zustands nicht bewusst sei und daher eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie erneut straffällig werde, abgeschoben werden könne. Darüber hinaus sei sie, insbesondere aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse, nicht in die deutsche Gesellschaft integriert. Artikel 8 EMRK sei nicht anwendbar, da die Beschwerdeführerin keine nennenswerten familiären Beziehungen habe. Das innerstaatliche Gericht stellte fest, dass in großen Städten, wie Lahore, in Pakistan grundsätzlich eine medizinische Grundversorgung für Psychiatrie-Patienten bestehe und die Beschwerdeführerin sich die Behandlung einschließlich der Medikamente leisten könne, da sie eine kleine Rente von ungefähr 250 Euro (EUR) beziehe. Das innerstaatliche Gericht räumte ein, dass Familienangehörige in Pakistan auf Nachfrage der Deutschen Botschaft ausdrücklich ausgeschlossen hätten, sie aufzunehmen. Das innerstaatliche Gericht hielt es dennoch für möglich, dass die Verwandten der Beschwerdeführerin ihr dabei helfen würden, die notwendige Behandlung zu organisieren, wenn sie ihnen dafür als Gegenleistung kleine Euro-Beträge zuwenden würde. Darüber hinaus nehme die Beschwerdeführerin innerhalb der Ahmadiyya–Religion keine exponierte Position ein, so dass für sie in dieser Hinsicht keine besondere Gefahr bestünde.
15. Am 23. Mai 2011 lehnte der Hessische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Er stellte fest, dass das Verwaltungsgericht alle relevanten Fakten des Falls berücksichtigt habe.
16. Die Beschwerdeführerin rügte vergeblich die Verletzung ihres Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Gehörsrüge). Sie begründete diese damit, dass ihr Vortrag zu ihrem verbesserten Gesundheitszustand, dem Tod ihrer Schwester in Pakistan und den dortigen voraussichtlichen Lebensbedingungen nicht angemessen berücksichtigt worden sei. Darüber hinaus machte sie geltend, engen Kontakt zu ihrem Sohn zu haben, der sie regelmäßig besuche.
17. Am 24. November 2011 hob das Landgericht Marburg auf Empfehlung eines medizinischen Gutachtens die Anordnung der Krankenhausbehandlung auf und entließ die Beschwerdeführerin auf Bewährung unter Anordnung einer fünfjährigen Bewährungszeit. Es wies die Beschwerdeführerin an, in regelmäßigem Kontakt mit dem medizinischen Personal der Klinik zu bleiben und die verordneten Medikamente weiter einzunehmen. Das innerstaatliche Gericht war der Ansicht, dass die Gefahr, dass die Beschwerdeführerin erneut straffällig werden würde, sich aufgrund der Behandlung in solch einem Maße verringert habe, dass ein Restrisiko toleriert werden müsse.
18. Das in Bezug genommene medizinische Gutachten gab außerdem an, dass sie nach Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten erreichbar sei, Defizite im Bereich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit aber noch vorhanden seien. Die Sprachbarriere verursache bei einigen Therapiesitzungen Probleme und aufgrund kognitiver Schwächen bestünden weiter Schwierigkeiten, selbst bei Unterstützung eines Dolmetschers. Sie arbeite weiter in der Wäscherei, nehme ihre Medikamente regelmäßig und zeige letztlich ein ausgeglichenes Verhalten. Ihr Sohn besuche sie regelmäßig und wünsche sich, mehr in ihre Betreuung einbezogen zu werden. Eine solche Einbeziehung sei jedoch nur eingeschränkt möglich, da er ein junger Erwachsener sei, der mit seinem Studium begonnen habe. Sie halte alle Anforderungen ein und nehme das stabile Umfeld, in das sie eingebettet sei, an. Ihre Prognose könne als positiv betrachtet werden.
19. Die Beschwerdeführerin wurde in eine Einrichtung für betreutes Wohnen in der Nähe der Klinik verlegt, in der die notwendigen Strukturen sichergestellt wurden.
20. Am 13. Dezember 2011 wurde die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Abschiebungsanordnung vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.
21. Die Beschwerdeführerin wurde am 19. September 2013 darüber informiert, dass eine beim Hessischen Landtag eingereichte Petition in dieser Sache nicht erfolgreich gewesen sei.
22. Bisher wurde kein Termin für die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Pakistan festgesetzt.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT
23. Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet („Aufenthaltsgesetz”)
§ 53
Zwingende Ausweisung
„Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er
1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
2. wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, wegen Landfriedensbruches unter den in § 125a Satz 2 des Strafgesetzbuches genannten Voraussetzungen oder wegen eines im Rahmen einer verbotenen öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen Aufzugs begangenen Landfriedensbruches gemäß § 125 des Strafgesetzbuches rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist oder
3. …”
§ 54
Ausweisung im Regelfall
„Ein Ausländer wird in der Regel ausgewiesen, wenn
1. er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
2. …
3. er den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zuwider ohne Erlaubnis Betäubungsmittel anbaut, herstellt, einführt, durchführt oder ausführt, veräußert, an einen anderen abgibt oder in sonstiger Weise in Verkehr bringt oder mit ihnen handelt oder wenn er zu einer solchen Handlung anstiftet oder Beihilfe leistet,
4. er sich im Rahmen einer verbotenen oder aufgelösten öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen oder aufgelösten Aufzugs an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt,
5. Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat; auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen,
5a. er die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht,
5b. Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er eine in § 89a Abs. 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat gemäß § 89a Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat; auf zurückliegende Vorbereitungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine besondere und gegenwärtige Gefährlichkeit begründen,
6. …; oder
7. er zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet.”
§ 55
Ermessensausweisung
„(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.
(2) Ein Ausländer kann […] insbesondere ausgewiesen werden, wenn er
1. …
2. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist,
…
(3) Bei der Entscheidung über die Ausweisung sind zu berücksichtigen
1. die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet,
2. die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben,
3. die in § 60a Abs. 2 und 2b genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung.”
§ 56
Besonderer Ausweisungsschutz
“(1) Ein Ausländer, der
1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
…
genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 vor. Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. Liegen die Voraussetzungen des § 54 vor, so wird über seine Ausweisung nach Ermessen entschieden.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
24. Die Beschwerdeführerin rügte, dass ihre Ausweisung nach Pakistan zu einer Verletzung von Artikel 8 EMRK führen würde, der lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.”
25. Die Bundesregierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention ist. Darüber hinaus stellt er fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Die Beschwerdeführerin
27. Die Beschwerdeführerin machte geltend, die deutschen Behörden würden ihren Pflichten aus Artikel 8 der Konvention, nach denen ihr der Aufenthalt in Deutschland erlaubt werden müsse, nicht nachkommen. Sie trug vor, dass ihre persönlichen Interessen, in Deutschland zu bleiben, gegenüber dem staatlichen Interesse an der Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung überwögen, so dass ihre Ausweisung gemäß Artikel 8 der Konvention eine unverhältnismäßige Maßnahme darstelle. Dies sei insbesondere im Hinblick auf die Behandlung der Fall, die sie über die Jahre erhalten habe und die zu einer deutlichen Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit geführt habe.
28. Die Beschwerdeführerin stützte sich auf Artikel 8 und argumentierte, dass die Abschiebung nach Pakistan sich schwer schädigend auf ihr Privat- und Familienleben auswirken würde. Der Entzug der sozialen und medizinischen Dienste werde zu einer Verschlechterung ihres psychischen Zustands führen.
29. Die Beschwerdeführerin fügte hinzu, dass die deutschen Behörden und die Bundesregierung der strafbaren Handlung selbst zu viel Gewicht beigemessen hätten, während sie die Tatsache, dass sie nur einmal, und zwar im Zustand der Schuldunfähigkeit, eine Straftat begangen habe, nicht beachtet hätten. Dank der Behandlung und der gewährleisteten Struktur sei ihr Verhalten jetzt ausgewogen und sie habe eine positive Prognose für die Zukunft erhalten. Sie brachte außerdem vor, dass ihre Abschiebung zu einem Bruch der engen Beziehung zu ihrem Sohn führenwürde.
30. Die Beschwerdeführerin machte ferner geltend, dass sie aufgrund ihres langen Aufenthalts so gut, wie es unter Berücksichtigung ihrer Krankheit möglich sei, integriert sei. Sie spreche Deutsch ausreichend gut. Sie habe nach Pakistan keine Bindungen mehr. Das Niveau der dortigen Behandlung ihrer psychischen Erkrankung wäre unzureichend und ihre Geschwister hätten auf Befragung durch die Deutsche Botschaft die Möglichkeit, sie aufzunehmen oder in einer Einrichtung zu besuchen, eindeutig ausgeschlossen. Die Krankenhäuser in Pakistan böten keine Unterstützung über die rein medizinische Behandlung hinaus. Sie würde somit zur Unterstützung im Alltag eine externe Betreuungskraft benötigen. Berücksichtige man, dass die Deutsche Botschaft die Kosten für eine Behandlung in einer psychiatrischen Station eines Krankenhauses auf 150 EUR pro Monat berechnet habe, hätte sie nicht genug Mittel, um jemanden zu beschäftigen, der ihr helfe. Aufgrund ihrer persönlichen Umstände wäre sie in Pakistan einer feindlichen Umgebung ausgesetzt.
(b) Die Regierung
31. Die Regierung wiederholte, dass die Ausweisungsverfügung gegen die Beschwerdeführerin gemäß Artikel 8 der Konvention eine berechtigte Maßnahme sei. Sie trug vor, dass die Umstände, die zur Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Psychiatrie im Jahr 2005 geführt hätten, sehr schwerwiegend gewesen seien. Die Bundesregierung erkannte ferner an, dass die Beschwerdeführerin erfolgreich mit ihrem psychischen Zustand umgegangen sei und sie ihre psychiatrische Behandlung fortsetzte. Ihre Entlassung sei jedoch nur aufgrund der Möglichkeit der Unterbringung in einer Einrichtung für betreutes Wohnen möglich gewesen, die die notwendige Struktur biete. Sie sei für den Rest ihres Lebens auf eine solche Struktur und Medikamente angewiesen. Die Bundesregierung kam zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin letztlich weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland darstelle. Der lange Zeitraum zwischen der Unterbringung im Krankenhaus und der Ausweisungsverfügung sei der Tatsache geschuldet, dass festgestellt werden musste, ob die Beschwerdeführerin in der Lage sein würde, in einem solchen Maße zu genesen, dass sie kein weiteres Risiko mehr darstellen würde.
32. In Bezug auf das Familienleben der Beschwerdeführerin machte die Bundesregierung geltend, ihre Beziehung zu ihrem jetzt volljährigen Sohn könne nicht als eng betrachtet werden. Darüber hinaus habe sie selbst vor ihrer Krankheit keine sozialen Kontakte gehabt und sei damit nicht in die deutsche Gesellschaft integriert. Sie lebe seit mehr als 20 Jahren in Deutschland, aber es fehlten ihr immer noch Deutschkenntnisse. Das Sprachproblem bleibe auch ein wesentliches Hindernis für den Fortschritt ihrer Therapie.
33. Die Bundesregierung war ferner der Meinung, dass die Beschwerdeführerin sich in Pakistan, wo sie aufgewachsen sei, wieder ein Leben aufbauen könne. Grundsätzlich könne sie eine angemessene medizinische Versorgung erhalten und man könne davon ausgehen, dass Mitglieder ihrer Familie sie unterstützen würden. Die Ausweisungsverfügung und die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte hätten alle wesentlichen Faktoren berücksichtigt.
34. Angesichts aller betroffenen Interessen war die Regierung der Ansicht, dass die Interessen des Staates an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegenüber dem persönlichen Interesse der Beschwerdeführerin, in Deutschland zu bleiben, überwögen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Allgemeine Grundsätze
35. Im Hinblick auf die psychischen Probleme der Beschwerdeführerin ist festzustellen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht ausschließt, dass eine Behandlung, die nicht die Schwere einer Artikel 3 verletzenden Behandlung erreicht, dennoch Artikel 8 unter seinem Aspekt des Privatlebens verletzen kann, wenn es hinreichend negative Auswirkungen auf die körperliche und seelische Unversehrtheit gibt (siehe Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25. März 1993, Serie A Band 247-C, S. 60-61, Rdnr. 36). Die psychische Gesundheit muss zudem als entscheidender Teil des Privatlebens angesehen werden, der mit dem Aspekt der seelischen Unversehrtheit verbunden ist. Der Erhalt der psychischen Stabilität ist in diesem Zusammenhang eine unabdingbare Voraussetzung für die tatsächliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 44599/98, Rdnr. 47, ECHR 2001‑I).
36. Was die besonderen Umstände einer Ausweisung betrifft, bestätigt der Gerichtshof erneut, dass der Staat nach internationalem Recht und gemäß seinen vertraglichen Verpflichtungen berechtigt ist, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und deren Aufenthalt dort zu kontrollieren (siehe, unter vielen anderen Belegen, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, 28. Mai 1985, Rdnr. 67, Serie A Band . 94, und Boujlifa ./. Frankreich , 21. Oktober 1997, Rdnr. 42, ECHR 1997-VI). Die Konvention garantiert nicht das Recht eines Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, und die Vertragsstaaten haben im Zuge der Erfüllung ihrer Aufgabe,die öffentlichen Ordnung aufrechtzuerhalten, die Befugnis, einen Ausländer auszuweisen, der wegen Straftaten verurteilt wurde. Ihre Entscheidungen auf diesem Gebiet müssen jedoch, soweit sie in ein nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d. h. einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen und insbesondere im Hinblick auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig sein (siehe Dalia ./. Frankreich, 19. Februar 1998, Rdnr. 52, ECHR 1998-I; Mehemi ./. Frankreich, 26. September 1997, Rdnr. 34, ECHR 1997-VI; Boultif ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 54273/00, Rdnr. 46, ECHR 2001‑IX; und Slivenko ./. Lettland [GK], Individualbeschwerde Nr. 48321/99, Rdnr. 113, ECHR 2003-X).
37. Artikel 8 schützt das Recht, Beziehungen mit anderen Menschen und der Außenwelt einzugehen und zu entwickeln (siehe Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 2346/02, Rdnr. 61, ECHR 2002-III) und kann manchmal Aspekte der sozialen Identität eines Individuums umfassen (siehe Mikulić ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 53176/99, Rdnr. 53, ECHR 2002-I). Es muss daher anerkannt werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Migranten und der Gemeinschaft, in der sie leben, einen Teil des Konzepts des „Privatlebens” im Sinne des Artikel 8 EMRK darstellt. Es wird tatsächlich nur selten vorkommen, dass ein niedergelassener Migrant nicht in der Lage sein wird zu belegen, dass seine Abschiebung einen Eingriff in sein durch Artikel 8 EMRK garantiertes Privatleben darstellt (siehe Miah ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53080/07, Rdnr. 17, 27. April 2010).
38. Der Gerichtshof hat in früheren Fällen festgestellt, dass kein Familienleben zwischen Eltern und erwachsenen Kindern oder zwischen erwachsenen Geschwistern vorliegt, sofern diese Personen keine zusätzlichen Abhängigkeitaspekte belegen können (Slivenko ./. Lettland [GK], a.a.O., Rdnr. 97; Kwakye-Nti und Dufie ./. Niederlande (Feststellungsurteil), Individualbeschwerde Nr. 31519/96, 7. November 2000). Es hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, ob es für den Gerichtshof angemessen ist, sich eher auf den Aspekt des „Familienlebens” als auf den des „Privatlebens” zu konzentrieren (siehe Üner ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, Rdnr. 59, 5. Juli 2005).
39. Die einschlägigen Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob eine Ausweisungsverfügung und die Ablehnung eines Aufenthaltstitels nach Artikel 8 der Konvention in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel standen, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung niedergelegt (siehe Üner, a.a.O., Rdnrn. 57‑58; Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnrn. 68-76, ECHR 2008; und Emre ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 42034/04, Rdnr. 65-71, 22. Mai 2008). In Üner fasste der Gerichtshof diese Kriterien wie folgt zusammen:
– die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat
– die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll
– die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit
– die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen
– die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, welche das tatsächliche Familienleben eines Paars belegen
– die Frage, ob der Ehepartner im Zeitpunkt des Eingehens der familiären Beziehung von der Straftat wusste
– die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und wenn ja, welches Alter sie haben und
– die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welchen der Ehepartner in dem Land, in das der Beschwerdeführer ausgewiesen werden soll, wahrscheinlich ausgesetzt wäre
– das Kindeswohl, insbesondere die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers in dem Land , in das der Beschwerdeführer ausgewiesen werden soll, wahrscheinlich ausgesetzt wären und
– die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.
40. Schließlich hat der Gerichtshof auch in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Vertragsstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Einschätzung der Notwendigkeit eines Eingriffs haben, aber dieser geht Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung. Die Aufgabe des Gerichtshof besteht darin zu ermitteln, ob die angefochtenen Maßnahmen einen gerechten Ausgleich zwischen den relevanten Interessen, nämlich den durch die Konvention geschützten Rechten des Einzelnen einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit andererseits, hergestellt haben (siehe Slivenko und andere, a.a.O., Rdnr. 113, und Boultif, a.a.O., Rdnr. 47).
(b) Anwendung der oben genannten Prinzipien auf den vorliegenden Fall
(i) Eingriff in die Rechte aus Artikel 8 EMRK
41. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerin nicht bestreitet, dass eine medizinische Versorgung ihrer Erkrankung in Pakistan grundsätzlich zur Verfügung stünde. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Annahme, die psychische Gesundheit einer Person könne durch eine Ausweisung unter derartigen Umständen weiter geschädigt werden, als reine Spekulation betrachtet werden kann. Daher würde die seelische Unversehrtheit der Beschwerdeführerin nicht so gravierend beeinträchtigt, dass ein Artikel 8 der Konvention betroffen sein könnte (Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 44599/98, Rdnr. 36, ECHR 2001‑I).
42. Aber der Gerichtshof betont auch, dass soweit es um die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen der Beschwerdeführerin und der Gemeinschaft, in der sie lebt, geht, diese einen Teil des Konzepts des „Privatlebens” im Sinne des Artikels 8 der Konvention darstellt. Im vorliegenden Fall lebt die Beschwerdeführerin seit 1991 in Deutschland, also seit mehr als 23 Jahren, und sie hat dort gearbeitet und ihre Familie aufgezogen. Der Gerichtshof sieht daher keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Beschwerdeführerin einige Bindungen im beschwerdegegnerischen Staat aufgebaut hat. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Ausweisungsfällen nicht alle niedergelassenen Migranten gleich starke familiäre oder soziale Bindungen in dem Vertragsstaat, in dem sie leben, haben werden, dass aber die relative Stärke oder Schwäche solcher Bindungen angemessener berücksichtigt wird, indem die Verhältnismäßigkeit der Abschiebung des Antragstellers gemäß Artikel 8 Abs. 2 untersucht wird (siehe Anam ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 21783/08, 7. Juni 2011). Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die von den innerstaatlichen Behörden angeordneten ausländerrechtlichen Maßnahmen einen Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 8 der Konvention darstellen.
(ii) Rechtmäßigkeit des Eingriffs
43. Der Gerichtshof hat keine Schwierigkeiten anzuerkennen, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens auf innerstaatlichem Recht beruhte. Wie von den innerstaatlichen Behörden feststellt, stützten sich die von den deutschen Behörden ergriffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen auf § 55 Aufenthaltsgesetz (siehe Rdnr. 25 oben).
44. Die Maßnahme wurde auch zur Verfolgung eines legitimen Zwecks, nämlich im Interesse der öffentlichen Sicherheit, ergriffen. Der Gerichtshof hat daher noch festzustellen, ob die Abschiebung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” wäre. Im Hinblick auf die von der Großen Kammer in der Rechtssache Üner zum Ausdruck gebrachten Kriterien hält der Gerichtshof die folgenden Kriterien im Fall der Beschwerdeführerin für relevant:
(i)die Art und Schwere der von der Beschwerdeführerin begangenen Straftat
(ii) die Dauer des Aufenthalts der Beschwerdeführerin in dem Land, aus dem sie ausgewiesen werden soll
(iii) die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeitspanne und das Verhalten der Beschwerdeführerin in dieser Zeit und
(iv) die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland.
45. In Bezug auf das erste der relevanten Kriterien beachtet der Gerichtshof die Art der Straftat, die zu dem Abschiebeverfahren gegen die Beschwerdeführerin geführt hat. Sie hat einen Totschlag begangen, eine zweifellos sehr schwere Straftat. Es war das erste Mal, dass sie eine solche Straftat begangen hat, aber die Schwere der Tat wird letztendlich durch die Tatsache belegt, dass die Beschwerdeführerin zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz anderer sowie zur Gewährleistung der notwendigen Behandlung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Die Beschwerdeführerin beging die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit, da sie sich zu dieser Zeit im Zustand einer akuten Psychose befand. Auch wenn es richtig ist, dass die Beschwerdeführerin der Tat nicht strafrechtlich „schuldig” war, bleibt dennoch eine dauerhafte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
46. Der Gerichtshof wendet sich nunmehr dem zweiten oben aufgeführten Kriterium zu, nämlich der Dauer des Aufenthalts der Beschwerdeführerin in Deutschland, und stellt fest, dass sie als Erwachsene nach Deutschland kam und dort seit mehr als 20 Jahren, also fast ihr halbes Leben, lebt.
47. Im Hinblick auf das dritte Kriterium, nämlich dieseit Begehung der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten der Beschwerdeführerin in diesem Zeitraum,stellt der Gerichtshof fest, dass sie die Straftat 2004 beging und das Gerichtsverfahren 2005 stattfand. Die Ausweisungsverfügung wurde vier Jahre später, im Jahr 2009, zugestellt, als sich die Beschwerdeführerin noch in der psychiatrischen Klinik in Behandlung befand. Als das innerstaatliche Gerichtsverfahren über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung abgeschlossen war, hatte sich der Zustand der Beschwerdeführerin erheblich verbessert, und man war der Auffassung, dass sie mit Hilfe ihrer Medikation und einem strukturierten Tagesablauf in der Lage sei, ihre Erkrankung zu bewältigen.
48. Der Gerichtshof stellt fest, dass, selbst nachdem das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde der Beschwerdeführerin im Dezember 2011 zurückgewiesen hatte, keine Maßnahme ergriffen wurde, um die Ausweisungsentscheidung zu vollziehen. Da die Beschwerdeführerin unter bestimmten Auflagen aus der geschlossenen psychiatrischen Abteilung entlassen wurde, hat sie ihre Behandlung und die regelmäßig Einnahme der notwendigen Medikamente fortgesetzt. In Anbetracht des verstrichenen Zeitraums könnte die Beschwerdeführerin die Erwartung geltend machen, in ihrem familiären Umfeld zu verbleiben. Eine solche Erwartung kann aus den Handlungen der Behörden jedoch nicht abgeleitet werden, denn die deutschen Behörden berücksichtigten als humanitären Aspekt nur, dass eine weitgehende Stabilisierung ihrer geistigen Gesundheit für ihre Rückkehr nach Pakistan notwendig war. Darüber hinaus geht aus keinem der Arztberichte hervor, dass die Beschwerdeführerin vollständig von ihrer geistigen Erkrankung genesen ist, auch wenn sich der Allgemeinzustand der Beschwerdeführerin tatsächlich im Laufe der Zeit verbessert hat und als stabil betrachtet werden kann.
49. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Einweisung in das Krankenhaus und ihrer späteren Entlassung, selbst in Zeiten, in denen sie Urlaub hatte, erneut straffällig geworden ist. Der Gerichtshof stellt jedoch auch fest, dass ihr Verhalten jederzeit eng überwacht wurde, um sie daran zu hindern, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen.
50. Schließlich hat der Gerichtshof das vierte oben aufgeführte Kriterium, nämlich die jeweilige Stabilität der Bindungen der Beschwerdeführerin zum Gastland und zum Zielland geprüft. Was die familiäre Bindung zu ihrem Sohn angeht, ist festzustellen, dass ihr Sohn jetzt erwachsen ist. Selbst wenn man ein enges Verhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn annimmt, gibt es keine besonderen Umstände, die den ständigenAufenthalt der Beschwerdeführerin in Deutschland erforderlich machen würden. Der Sohn würde nicht die Rolle eines Betreuers einnehmen. Beziehungen zwischen erwachsenen Familienmitgliedern genießen nur dann den besonderen Schutz des Familienlebens, wenn es andere Elemente der Abhängigkeit gibt, die über die normale emotionale Bindung zwischen Familienmitgliedern hinausgehen (Ezzouhdi ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 47160/99, Rdnr. 34, 13. Februar 2001; Y. ./. Deutschland,Nr. 52853/99, Rdnr. 44, 17. April 2003). Weitere Kontakte mit ihrem Sohn wären nützlich, könnten zwischen Erwachsenen aber auch telefonisch oder per E-Mail sowie durch gelegentliche Besuche in Pakistan fortgesetzt werden.
51. In Bezug auf das Privatleben der Beschwerdeführerin wird der Gerichtshof die weiteren Bindungen der Beschwerdeführerin zu Deutschland als Gastland untersuchen. Bevor die Beschwerdeführerin krank wurde, war sie in den deutschen Arbeitsmarkt als Reinigungskraft integriert. Mit Ausnahme der Erwähnung ihres langen Aufenthalts in Deutschland und ihrer Beschäftigung legt sie jedoch keine anderen Beweise für eine darüber hinaus gehende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vor (siehe T. ./. Deutschland, Nr. 41548/06, Rdnr. 62, 13. Oktober 2011, Rdnr. 58; L. ./. Deutschland (Feststellungsurteil), Individualbeschwerde Nr. 25021/08, 20. September 2011; M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40601/05, Rdnr. 58, 25. März 2010). Die innerstaatlichen Gerichte haben das offensichtliche Fehlen sozialer Kontakte der Beschwerdeführerin und die Tatsache, dass sie während ihrer langen Zeit in Deutschland nur beschränkte Kenntnisse der deutschen Sprache erworben hat, hervorgehoben.
52. In Bezug auf Bindungen zum Zielland stellte der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin nicht bestritten hat, dass ihre Familienmitglieder noch in Pakistan leben und sie mit der Kultur und Sprache dieses Landes noch vertraut ist. Daraus kann man schließen, dass eine Wiedereingliederung in Pakistan nicht unmöglich wäre (siehe S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45971/08, Rdnr. 28, 19. März 2013). Darüber hinaus hat sie keine spezifischen Details zu einer möglichen Verfolgung aus religiösen Gründen vorgetragen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Familienangehörigen in Pakistan erklärt haben, dass sie sich weigern würden, die Beschwerdeführerin aufzunehmen oder sie in einer psychiatrischen Einrichtung zu besuchen. Der Gerichtshof erkennt daher an, dass es scheinbar keine engen familiären Bindungen gibt, aber er bleibt dabei, dass es nicht unmöglich erscheint, dass Kontakte mit der Familie in Pakistan weiterverfolgt und letztendlich gestärkt werden (siehe T., a.a.O., Rdnr. 63).
53. Der Gerichtshof hat auch die besonderen Umstände der gesundheitlichen Probleme der Beschwerdeführerin zur Kenntnis genommen und deren Folgen im Rahmen der Untersuchung der möglichen Folgen ihrer Rückkehr in einen Staat ohne funktionierendes soziales Netz berücksichtigt (siehe Emre ./. Schweiz, a.a.O., Rdnr. 83). Was den besonderen Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass eine medizinische Behandlung ihrer Erkrankung in Pakistan grundsätzlich zur Verfügung stehen würde. Der Gerichtshof ist sich der Probleme bewusst, die sie bei der Erlangung der notwendigen Betreuung ohne Unterstützung durch Verwandte oder einen externen Betreuer haben könnte. Er stellt ferner fest, dass sie eine Rente in Euro erhalten wird, die ihr unter Berücksichtigung des entsprechenden Werts in Pakistan die Möglichkeit eröffnen könnte, weitere Unterstützung zu erhalten. Letzten Endes muss zwischen den Interessen aller Parteien abgewogen werden. Auch wenn er berücksichtigt, dass das Umfeld für die Beschwerdeführerin in Pakistan schwierig wäre, kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eventuelle Probleme nicht schwerwiegend genug wären, um ein unüberwindbares Hindernis für eine Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Pakistan darzustellen.
54. Der Gerichtshof zweifelt nicht daran, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Pakistan sich erheblich auf ihr Privatleben auswirken würde. Die Wiederaufnahme ihres Lebens dort würde für sie deutlich schwieriger sein als für eine durchschnittliche Person. Nichtsdestotrotz muss die andauernde Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die die Beschwerdeführerin weiterhin darstellt, berücksichtigt werden (siehe in analoger Anwendung, Anam ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 21783/08, 7. Juni 2011).
55. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte grundsätzlich auf alle der oben genannten Faktoren Bezug genommen und diese erörtert haben. Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Ansicht, dass ihre Bewertung des Gewichts, das jedem dieser Faktoren beizumessen ist, innerhalb ihres Beurteilungsspielraums lag.
56. Unter Berücksichtigung aller Umstände und des den Staaten gemäß Artikel 8 Abs. 2 EMRK eingeräumten Beurteilungsspielraums ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die deutschen Behörden es nicht versäumt haben, einen gerechten Ausgleich zwischen den persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin in Bezug auf ihr Privatleben einerseits und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit andererseits herzustellen. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus Deutschland daher im Hinblick auf die verfolgten Ziele letztendlich verhältnismäßig war und als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig betrachtet werden kann. Die Ausweisung würde dementsprechend keine Verletzung von Artikel 8 EMRK darstellen.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 EMRK
57. Die Beschwerdeführerin rügte nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht alle relevanten Tatsachen untersucht hätten und dies einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gleichkäme.
58. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Tatsache, dass sich die Ausweisung auf das Leben der Beschwerdeführerin negativ auswirken könnte, nicht ausreicht, um dieses Verfahren in den Schutzbereich der von Artikel 6 Abs. 1 EMRK erfassten zivilrechtlichen Ansprüche fallen zu lassen. Darüber hinaus betreffen Verfügungen, die Ausländer ausschließen, auch nicht die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage (siehe Maaouia ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 39652/98, Rdnrn. 38-40, ECHR 2000‑X). Der Gerichtshof ist somit der Ansicht, dass Artikel 6 Abs. 1 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Daraus folgt, dass diese Beschwerde ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist.
59. Dieser Teil der Beschwerde ist gemäß Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe aunzulässig und muss gemäß Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.
AUS DIESEN GRÜNDEN
1. erklärt der Gerichtshof einstimmig die Rüge nach Artikel 8 der Konvention für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig;
2. erkenntder Gerichtshof mit sechs zu einer Stimme, dass die Ausweisung der Beschwerdeführerin nach Pakistan nicht zu einer Verletzung des Artikels 8 der Konvention führen würde.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 23. April 2015 gemäß Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
____________
Gemäß Artikel 45 Abs. 2 EMRK und Regel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs werden diesem Urteil die folgenden persönlichen Meinungen angefügt:
(a) Abweichende Meinung des Richters Zupančič
(b) Erklärung der Richterin Yudkivska.
M.V.
C.W.
Abweichende Meinung des Richters Zupančič
Ich bedauere, dass ich mich der Feststellung, dass in diesem Fall keine Rechtsverletzung vorliegt, nicht anschließen kann.
Der Sachverhalt dieser Rechtssache entspricht in gewissem Maße dem der Rechtssache A.A. ./. Vereinigtes Königreich[1], und erinnert auch an die Rechtssache Aswat ./. Vereinigtes Königreich[2]. In allen drei Fällen haben wir es mit einem Ausländer zu tun, der eine zu missbilligende Handlung begangen hat und in deren Folge von den Behörden für eine Ausweisung oder Auslieferung vorgemerkt wurde.Die zwei oben zitierten Fälle sollten genug Gründe geliefert haben, um diesen Fall anders zu entscheiden.
In der Sache Aswat befand der Gerichtshof, dass die Auslieferung des – an einer paraonoiden Schizophrenie leidenden – Beschwerdeführers in die Vereinigten Staaten einer Verletzung von Artikel 3 EMRK gleichkommen würde, und zwar genau wegen der Verletzlichkeit des Beschwerdeführers aufgrund seiner geistigen Erkrankung. In der Sache Aswatsollte der Beschwerdeführer jedoch in ein einigermaßen strukturiertes Umfeld, bei dem es sich allerdings um ein Gefängnis handelte, verbracht werden, in dem man sich, nach den ausdrücklichen Versicherungen des US Justizministeriums, um seine psychische Erkrankung kümmern würde.
Nichtsdestotrotz vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass allein die Änderung des Umfelds – aus der geschützten Umgebung der [psychiatrischen] Anstalt in Broadmoor in eine Einrichtung in den Vereinigten Staaten – hinreichend ernst und traumatisch sein würde, um eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention darzustellen. Es ist daher hilfreich im Blick zu behalten, dass die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall hingegen in eine völlig unstrukturierte Umgebung in Pakistan entlassen würde, mit völliger Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer fortgesetzten psychischen Betreuung in einem Land, in dem sie seit 23 Jahren nicht mehr gewesen ist und in dem ihre Angehörigen bereits die Möglichkeit ausgeschlossen haben, sich um sie zu kümmern.
In der Sache A.A. ./. Vereinigtes Königreich stützte sich die Beschwerde auf Artikel 8, wie auch im vorliegenden Fall. Der Beschwerdeführer hatte sich im Alter von 13 Jahren der Vergewaltigung schuldig gemacht und wurde zu vier Jahren in einer Jugendstrafanstalt verurteilt. Es stellte sich später die Frage, ob seine Ausweisung nach Nigeria in Anbetracht dieser Tat mit der Konvention vereinbar sei, wenn man berücksichtige, dass der Beschwerdeführer im Alter zwischen 13 und 29 nicht wieder strafffällig geworden sei. Sein Familienleben bestand aus Beziehungen zu seiner Mutter und seinen Schwestern. Der Gerichtshof kam nach sorgfältiger Erwägung aller fraglichen Faktoren und insbesondere der Situation zum Zeitpunkt der vorgeschlagenen Ausweisung zu folgendem Ergebnis (Rdnr. 67):
„Jeder andere Ansatz würde den Schutz der Konvention zu einem rein theoretischen und illusorischen Schutz verkommen lassen, weil es Vertragsstaaten erlaubt würde, Beschwerdeführer Monate oder sogar Jahre nach einem rechtskräftigen Beschluss auszuweisen, ungeachtet der Tatsache, dass eine solche Ausweisung wegen der inzwischen eingetretenen Entwicklungen unverhältnismäßig wäre.” (Hervorhebung hinzugefügt)”
Es stellte ferner fest (Rdnr. 68):
“… in einem Fall, in dem eine Abschiebung den Zweck verfolgen soll, eine Störung der öffentlichen Ordnung oder eine Straftat zu verhindern, ist der Zeitraum, der seit Begehung der Tat verstrichen ist und das Verhalten des Beschwerdeführers in diesem Zeitraum von besonderer Bedeutung.” (Hervorhebung hinzugefügt).
Im vorliegenden Fall ist die Beschwerdeführerin ebenfalls in einem Zeitraum von 11 Jahren nicht wieder straffällig geworden, wenn man überhaupt sagen kann, dass sie als schuldunfähige Person, die unter Schizophrenie und einer verminderten Intelligenz leidet, überhaupt jemals eine Straftat „begangen“ hat. Vor dem Hintergrund dessen, was der Gerichtshof in den Rechtssachen Aswat und A.A. entschieden hat, ist die Ausweisung einer schizophrenen Frau, die heute 53 Jahre alt ist, weil sie angeblich eine Gefahr „für die öffentliche Ordnung oder die Vorbeugung von Straftaten darstellt“, eindeutig nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar.
Die Beschwerdeführerin beging, wie in Rdnr. 13 des Urteils ausgeführt, in diesem Fall einen „Totschlag“ in einem Zustand der Schuldunfähigkeit, da sie sich zu dieser Zeit im Zustand einer akuten Psychose befand. Ein medizinischer Gutachter stellte fest, dass sie unter Schizophrenie und einer verminderten Intelligenz gelitten habe.
Es ist richtig, dass Geisteskrankheit ein Entschuldigungsgrund, aber kein Rechtfertigungsgrund für die Tat ist. Nach deutschem Recht wird zwischen den Gründen, die die Rechtswidrigkeit der Tat selbst ausschließen (z.B. Notwehr) einerseits und Gründen, die lediglich die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen (z.B. eine Geisteskrankheit) andererseits, unterschieden. Eine ähnliche Unterscheidung wird im Common Law zwischen der Rechtfertigung (der Handlung) und der Entschuldigung (des Handelnden) gemacht.
Die Frage ist daher, ob die geisteskranke Person eine Straftat begangen hat oder nicht. Da es zu den Grundlagen der Straftatlehre gehört, dass die Tathandlung ein wirklicher Ausdruck der Persönlichkeit des Handelnden gewesen sein muss, kann man unmöglich zu dem Schluss kommen, dass ein Handelnder, der geisteskrank ist, selber die Tathandlung begangen haben soll. Der Kausalzusammenhang verläuft, wie dies für eine Verteidigung wegen Unzurechnungsfähigkeit erforderlich ist, zu der Geisteskrankheit hin. Daraus folgt logisch, dass man die Geisteskrankheit verantwortlich machen muss. Der Handelnde ist somit nicht verantwortlich, so wie dies auch Shakespeare verstanden hat:
“Hier jeder weiß, und Sie gewiß wohl hörten’s,
Wie ich mit Geisteswirrheit schlimm gestraft bin.
Was ich getan hab,
Was Ihr Herzinnres, Ihre Ehr, Ihrn Unmut
Rauh wecken mochte, das, ich sag’s hier klar, war Wahnsinn.
War’s nicht Hamlet, der Laertes Unrecht tat? Nicht Hamlet.
Wenn Hamlet von sich selbst getrennt ist
Und als nicht er selbst Laertes Unrecht tut,
Dann tut es Hamlet nicht, Hamlet bestreitet’s.
Wer tut es dann? Sein Wahnsinn. Wenn dies so ist,
So ist auch Hamlet wer, dem Unrecht widerfuhr-
Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind.”[3]
Begeht jedoch ein Mensch eine Tötungshandlung (ein neutraler Begriff) in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeitd.h. ist er geisteskrank, kann eine solche Tötungshandlung rechtlich weder als „Totschlag“ noch als „fahrlässige Tötung“ gewertet werden, da eine geisteskrankePerson nach strengen Kriterien des Strafrechts keine strafbare Handlung begehen kann. Das erste der Kriterien in der Rechtssache Üner ./. die Niederlande ([GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, ECHR 2006‑XII) bezieht sich auf die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat, – wohingegen im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin ganz einfach gar keine strafbare Handlung begangen hat. In Rdnr. 54 des vorliegenden Urteils bezieht sich der Gerichtshof nichtsdestotrotz auf die „andauernde Gefahr für die öffentliche Sicherheit”, die die Beschwerdeführerin, die jetzt 52 Jahre alt ist, darstelle und die ihre Abschiebung nach Pakistan erforderlich mache.
In den Fällen A.A. ./. Vereinigtes Königreich und Aswat ./. Vereinigtes Königreich wurden Situationen, die mit der der vorliegenden Rechtssache vergleichbar sind, entgegengesetzt beurteilt. In A.A. war die mit der Anwesenheit des Beschwerdeführers verbundene „andauernde Gefahr” für die Allgemeinheit für den späteren Ausgang des Verfahrens nicht entscheidend, obwohl es sich um einen jungen Mann handelte und es daher grundsätzlich wahrscheinlicher war, dass er wieder straffällig würde. Die Gefahr wurde vom Gerichtshof erneut geprüft und als unerheblich einstuft. In dem uns vorliegenden Fall ist es jedoch absurd zu behaupten, dass eine schizophrene und oligophrene Frau im Alter von 52 Jahren, deren Verhalten 11 Jahre lang unbedenklich war, jetzt eine objektive Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt, weil sie weiter mit Antipsychotika behandelt wird.
Darüber hinaus wird sich ihre psychische Erkrankung nach 23 Jahren in Deutschland durch ihre zwangsweise Abschiebung aus dem Land, in das sie vor vielen Jahren immigriert ist, und durch ihre Rückführung nach Pakistan, wo sich selbst ihre Verwandten nicht um sie kümmern möchten, offensichtlich verschlimmern. Die zwangsweise Abschiebung einer schizophrenen Person mit verminderter Intelligenz aus einer ihr gewohnten Umgebung ist nicht gleichbedeutend mit der Abschiebung einer normalen Person, die im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte ist, wie im Fall A.A..
Mit anderen Worten kann dies nicht eine Frage der 250 Euro sein, die sie von Deutschland als Rente erhält und die vermutlich ausreichend sein würden, um ihre Medikamente zu zahlen. Es ist daher ganz klar, dass sich eine Ausweisung nach Pakistan im Hinblick auf ihre labile psychische Gesundheit verhängnisvoll auf ihren Geisteszustand auswirken wird.
Wäre man in dieser Sache zu dem Ergebnis einer möglichen Rechtsverletzung gekommen, sollte die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden, hätte dies die Tragödie verhindert. Dies wäre aus Empathie geboten.[4]
Erklärung der Richterin Yudkivska
Ich habe mich bei meinem Votum der Mehrheit angeschlossen, die befunden hat, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung des Artikel 8 der Konvention vorliegt. Dies erfolgte jedoch ausschließlich aus den in Rdnrn. 52 – 53 des Urteils dargelegten Gründen, nämlich dass die Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin in Pakistan nicht unmöglich erscheint und eine medizinische Behandlung ihrer Erkrankung dort verfügbar ist.
Dennoch bin ich mit der Anwendung der in der Rechtssache Üner niedergelegten Maßstäbeunter diesen Umständen ganz und gar nicht einverstanden, da nicht geltend gemacht werden kann, dass die Beschwerdeführerin ein Verbrechen im strafrechtlichen Sinne begangen hat. In dieser Hinsicht teile ich uneingeschränkt die von Richter Zupančič in seiner abweichenden Meinung zum Ausdruck gebrachten Ansichten.
_____________
[1] A.A. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8000/08, 20. September 2011.
[2] Aswat ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 17299/12, 16. April 2013.
[3] W. Shakespeare, Hamlet (Übersetzung von Frank Günther, München 1997), 5. Akt, 2. Szene (Hervorhebung im Sondervotum hinzugefügt).
[4] Siehe die sehr überzeugende abweichende Meinung des Richters Pinto de Albuquerque in dem aktuellen Fall S. J. ./. Belgien, Nr. 70055/10, 19. März 2015.
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
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