Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerden Nrn. 8824/09 und 42836/12)
URTEIL
STRASSBURG
9. Juli 2015
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache E. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Vincent A. De Gaetano,
Helena Jäderblom und
Aleš Pejchal,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 9. Juni 2015
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 8824/09 und 42836/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein libanesischer Staatsangehöriger, E. („der Beschwerdeführer“), am 13. Februar 2009 beziehungsweise am 3. Juli 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Vor dem Gerichtshof wird er im Hinblick auf seine erste Individualbeschwerde (Nr. 8824/09) von Herrn S. und im Hinblick auf die zweite Individualbeschwerde (Nr. 42836/12) von Herrn R., beide Rechtsanwälte in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 3 sowie Artikel 6 Abs. 1 der Konvention machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Dauer seiner Untersuchungshaft und des gegen ihn geführten Strafverfahrens die angemessene Frist überschritten habe. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 sowie Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass weder er noch sein Rechtsbeistand in irgendeinem Stadium des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens die Möglichkeit gehabt habe, den Hauptbelastungszeugen, auf dessen Aussage seine anschließende Verurteilung gestützt worden sei, zu befragen.
4. Am 10. Juni 2013 wurden die Beschwerden der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer E. wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerden war er in der Justizvollzugsanstalt B. inhaftiert.
A. Das Ermittlungsverfahren
6. Am 2. August 2005 erließ das Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen des Verdachts des Handels mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Aus dem Haftbefehl ging hervor, dass sich der dringende Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer aus den Angaben eines Mitverdächtigen, des gesondert verfolgten A. K., ergebe. Das Amtsgericht befand ferner, dass bei dem Beschwerdeführer, der keinen ständigen Aufenthalt in Deutschland habe und in der Vergangenheit zwischen Brasilien und Europa hin- und hergereist sei, Fluchtgefahr bestehe. Bereits zuvor sei in Deutschland eine zum Teil ausgesetzte Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt worden. Darüber hinaus seien in Deutschland zwei weitere Haftbefehle gegen ihn anhängig, einer ebenfalls wegen Betäubungsmittelhandels und einer, datierend vom 1. Juli 2004, wegen der Fälschung von Ausweispapieren.
7. Am 16. August 2006 wurde der Beschwerdeführer aufgrund der Haftbefehle vom 1. Juli 2004 und 2. August 2005 in Portugal in Auslieferungshaft genommen. Am 8. September 2006 wurde er nach Deutschland ausgeliefert, wo er in der Justizvollzugsanstalt B. in Untersuchungshaft genommen wurde. Seine Untersuchungshaft unterlag verstärkten Sicherungsvorkehrungen. Er wurde getrennt von den anderen Häftlingen in einem isolierten Einzelhaftraum untergebracht und war von den meisten Gruppenveranstaltungen in der Justizvollzugsanstalt ausgeschlossen. Kontakte zu Besuchern waren eingeschränkt und unterlagen intensiver Überwachung.
8. Am 18. September 2006 legte die Staatsanwaltschaft Berlin dem Beschwerdeführer zur Last, im Jahr 2003 einmal unter Verwendung eines gefälschten Reisepasses in deutsches Hoheitsgebiet eingereist zu sein. In einer weiteren Anklageschrift vom 20. Oktober 2006 wurde ihm der Handel mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen, gemeinschaftlich begangen mit mehreren Mitangeklagten, darunter G., U. und A. K., vorgeworfen. Darüber hinaus wurde ihm vorgeworfen, G. zur illegalen Einfuhr von Betäubungsmitteln angestiftet zu haben.
9. Bei ihrer Beschreibung des Sachverhalts, der den mutmaßlich vom Beschwerdeführer begangenen Betäubungsmitteldelikten zugrunde lag, beriefen sich die Strafverfolgungsbehörden hauptsächlich auf Aussagen, die A. K. in einem gesonderten Strafverfahren getätigt hatte, welches vor dem Landgericht Berlin gegen A. K. und U. wegen des Verdachts des organisierten Betäubungsmittelhandels geführt worden war. In der Anklageschrift hieß es ferner, der Beschwerdeführer leide an einem angeborenen Herzfehler, weshalb er sich weder physisch noch psychisch lange anstrengen dürfe.
B. Das Verfahren und die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers
10. Am 13. Dezember 2006 ließ das Landgericht Berlin beide Anklageschriften zu und eröffnete das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer. Das Hauptverfahren begann am 20. Februar 2007. Der Beschwerdeführer wurde während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten.
11. Mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Februar 2007 wurde A. K. in einem gesonderten Verfahren wegen Handels mit Betäubungsmitteln in mehreren Fällen sowie illegaler Einfuhr von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. A. K. legte Revision gegen das Urteil ein.
12. Am 20. September 2007 und 30. Oktober 2007 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der Haftbefehle vom 1. Juli 2004 und 2. August 2005. Mit Beschlüssen vom 20. September 2007 beziehungsweise 19. November 2007 wies das Landgericht die Anträge des Beschwerdeführers zurück.
13. Mit Beschluss vom 17. Dezember 2007 verwarf das Kammergericht Berlin die Beschwerde des Beschwerdeführers. Es bestätigte, dass die Fluchtgefahr fortbestehe, da gegen den Beschwerdeführer eine unanfechtbare Ausweisungsverfügung bestehe und er bereits verschiedene Alias-Namen verwendet habe. Es betonte, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers noch verhältnismäßig sei. Die Strafkammer habe dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen. Sämtliche Umstände, die einer Beschleunigung des Verfahrens durch das Gericht entgegen gestanden hätten, seien auf Gründe zurückzuführen, die nicht zur Verantwortungssphäre des Gerichts zählten. Seit dem ersten Verhandlungstag am 20. Februar 2007 sei an 37 Tagen verhandelt worden. Verzögerungen hätten sich aus den umfassenden Beweisanträgen der Verteidigung im August und September 2007 ergeben, insbesondere aus einem umfangreichen, das Alibi des Beschwerdeführers betreffenden Antrag vom 2. August 2007. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer an einigen Tagen aufgrund seiner Teilnahme in gesondert geführten Gerichtsverfahren verhindert gewesen. Das Kammergericht stellte ferner fest, dass die Frequenz der Verhandlungstage durch die Abordnung eines Beisitzers an ein anderes Gericht seit dem 15. Oktober 2007 verringert worden sei.
14. Am 3. März 2008 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Aufhebung der Haftbefehle.
15. Mit Beschluss vom 7. März 2008 ordnete das Landgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an. Nach Ansicht des Landgerichts waren etwaige Verfahrensverzögerungen das Ergebnis der ständigen umfangreichen Beweisanträge der Verteidigung.
16. Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers hin hob das Kammergericht Berlin den Haftbefehl vom 1. Juli 2004 am 29. April 2008 auf, wies die Beschwerde im Übrigen jedoch ab. Im Hinblick auf die Tatsache, dass die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, jedoch unter Meldeauflagen und der Weisung, Deutschland nicht zu verlassen, haftverschont worden sei, befand das Kammergericht, dass die Fluchtgefahr weiterhin hoch sei.
17. Das Kammergericht stellte ferner fest, dass die Straferwartung für die dem Haftbefehl vom 1. Juli 2004 zugrunde liegende Urkundenfälschung dessen weiteren Vollzug nicht mehr rechtfertigen könne; auf der Grundlage des Haftbefehls vom 2. August 2005 sei die fortgesetzte Untersuchungshaft des Beschwerdeführers jedoch vorerst noch verhältnismäßig. Das Kammergericht stellte diesbezüglich fest, dass im vorliegenden Fall seit dem 20. Februar 2007 56 Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von drei Stunden stattgefunden hätten, was einer Termindichte von weniger als einem Verhandlungstag pro Woche entspreche. Lücken in der Terminierung zwischen 23. April und 7. Mai 2007, 12. Juli und 3. September 2007 sowie zwischen 22. Dezember 2007 und 6. Januar 2008 seien durch Urlaube der Richter bedingt gewesen, während im Mai 2007 die Verteidiger urlaubsbedingt abwesend gewesen seien. Das Kammergericht berücksichtigte ferner, dass das Landgericht zur Beschleunigung des Verfahrens mehrfach das Selbstleseverfahren angeordnet habe.
18. Am 29. Mai 2008 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 29. April 2008 und beantragte seine unverzügliche Freilassung.
19. Nach einer Absprache zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung wurde das Verfahren gegen G. am 2. Juni 2008 von dem des Beschwerdeführers abgetrennt.
20. Am 4. Juni 2008 unterzog sich der Beschwerdeführer, dessen Herzerkrankung sich während der Untersuchungshaft verschlimmert hatte und der zuvor im Justizvollzugskrankenhaus behandelt worden war, einer Herzoperation.
21. Mit Beschluss vom 11. Juni 2008 (2 BvR 1062/08) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 29. Mai 2008 zur Entscheidung anzunehmen. Es befand ferner, dass sich damit auch der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt habe.
22. In dem Verfahren gegen A. K. wies der Bundesgerichtshof dessen Revision gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Berlin vom 28. Februar 2007 am 10. Juli 2008 zurück.
23. Am 4. August 2008 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Aufhebung des Haftbefehls vom 2. August 2005. Er brachte vor, dass die weitere Vollstreckung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei.
24. Mit Beschluss vom 15. August 2008 stellte das Landgericht Berlin fest, dass die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers noch immer verhältnismäßig sei.
25. Am 6. Oktober 2008 verwarf das Kammergericht Berlin die Beschwerde des Beschwerdeführers, in der der Anwalt des Beschwerdeführers dargelegt hatte, dass die Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers durch dessen vorausgehende Herzoperation nicht vermindert sei. Das Kammergericht befand, dass der dringende Tatverdacht bezüglich des Handels mit Betäubungsmitteln ebenso wie die Fluchtgefahr weiterhin bestünden. Unter Verweis auf die Feststellungen in seinem Beschluss vom 29. April 2008 befand das Kammergericht ferner, dass der weitere Fortgang des Verfahrens seit Mai 2008 nichts an der Einschätzung ändere, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch weiterhin noch verhältnismäßig sei. Die geringe Termindichte und die Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 6. und 21. Mai 2008 sowie zwischen 17. Juli und 6. August 2008 sei nicht den innerstaatlichen Gerichten anzulasten gewesen.
26. Am 2. November 2008 erhob der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Kammergerichts Berlin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und brachte unter anderem vor, dass seine Rechte aus Artikel 5 und 6 der Konvention verletzt worden seien, da die innerstaatlichen Behörden das Verfahren trotz seiner fortdauernden Untersuchungshaft nicht zügig geführt hätten. Mit Beschluss vom 26. November 2008 (2 BvR 2241/08) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
27. Mit den Beschlüssen des Kammergerichts Berlin vom 9. März 2009 und des Landgerichts Berlin vom 20. April 2009 wurden die für die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers geltenden verstärkten Sicherungsvorkehrungen größtenteils aufgehoben.
28. Nach einem weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Haftbefehls ordnete das Landgericht Berlin am 20. April 2009 erneut die Fortdauer seiner Untersuchungshaft an. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein.
29. Am 22. Mai 2009 verwarf das Kammergericht Berlin unter Bezugnahme auf die in seinen vorausgegangenen Beschlüssen angeführten Gründe die Beschwerde des Beschwerdeführers. Der Verlauf des Verfahrens sei seit seiner letzten Entscheidung vom 6. Oktober 2008 abermals von ständigen Beweisanträgen der Verteidigung sowie Anträgen auf Aussetzung des Verfahrens und Befangenheitsanträgen gegen das Gericht bestimmt worden. Alle diese Anträge seien vom Landgericht in angemessener Frist bearbeitet worden und sämtliche daraus resultierenden Verfahrensverzögerungen wie der Zeitablauf zwischen den Terminen am 13. Dezember 2008 und am 4. Januar 2009 sowie zwischen 5. Mai 2009 und 1. Juni 2009 fielen nicht in die Verantwortungssphäre des Tatgerichts.
30. Mit Beschluss vom 27. Juli 2009 (2 BvR 1320/09) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die entsprechende Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 18. Juni 2009 zur Entscheidung anzunehmen.
31. Am 16. September 2009 verkündete das Landgericht Berlin nach 101 Verhandlungstagen mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von nicht mehr als drei Stunden, an denen es mindestens 20 Zeugen und einen Sachverständigen angehört hatte, sein Urteil in dem Verfahren des Beschwerdeführers.
C. Das Urteil des Landgerichts
32. Mit Urteil vom 16. September 2009 verurteilte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen und wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren. Bei der Bemessung der Strafe des Beschwerdeführers berücksichtigte das Landgericht die besonderen Belastungen, denen der Beschwerdeführer aufgrund der langen Verfahrensdauer und der langen Untersuchungshaft ausgesetzt war. Es unterstrich, dass die Untersuchungshaft vom Zeitpunkt der Auslieferung des Beschwerdeführers aus Portugal bis zur Urteilsverkündung rund drei Jahre betragen habe und unter anderem wegen der ihm auferlegten verstärkten Sicherungsmaßnahmen und wegen seiner Herzoperation im Jahr 2008 besonders belastend für ihn gewesen sei.
1. Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt
33. Im Hinblick auf den Straftatbestand der Urkundenfälschung stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer am 2. November 2003 unter Verwendung eines gefälschten griechischen Reisepasses in deutsches Hoheitsgebiet eingereist sei.
34. Hinsichtlich der Betäubungsmitteldelikte stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer im fraglichen Zeitraum gemeinsam mit G. und U. in großem Stil Betäubungsmittelhandel betrieben habe. Am Nachmittag des 7. Februar 2004 habe der Beschwerdeführer aufgrund einer zuvor mit U. getroffenen Verabredung in Berlin 3 kg Kokaingemisch sowie 100 kg Haschisch von G. übernommen, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend weiterzuverkaufen. Weiter sah es das Landgericht als erwiesen an, dass sich der Beschwerdeführer an einem nicht näher bekannten Tag in der Zeit zwischen dem 25. Februar und dem 10. März 2004 zwischen 95 und 100 g Kokaingemisch von A. K. verschafft habe, um diese unter Gewinnerzielung an einen Abnehmer zu verkaufen.
2. Tatsachenfeststellung und Würdigung der Beweise durch das Landgericht
35. Der Beschwerdeführer räumte zwar ein, bei seiner Einreise nach Deutschland am 2. November 2003 einen gefälschten Reisepass benutzt zu haben, bestritt aber jegliche Beteiligung am Handel mit Betäubungsmitteln. Diesbezüglich stützte das Gericht seine Tatsachenfeststellung auf die Zeugenaussagen von A. K., den es als zentralen Belastungszeugen und einzigen unmittelbaren Zeugen des eigentlichen Tatgeschehens ansah. A. K. habe heimlich beobachtet, wie G. dem Beschwerdeführer am 7. Februar 2004 die Betäubungsmittel übergeben habe. Bei einem Treffen zwischen A. K. und dem Beschwerdeführer einige Wochen nach dem Vorfall habe der Beschwerdeführer A. K. gestanden, dass G. die Betäubungsmittel im Auftrag des Beschwerdeführers gemäß vorheriger Absprache mit U. eingeführt habe.
36. In der Zeit vom 6. März 2007 bis zum 15. Januar 2009 sagte A. K. in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers mehrmals als Zeuge aus. Das ganze Verfahren über beantwortete er die Fragen des Tatgerichts und der Staatsanwaltschaft. Zu Beginn des Verfahrens bot er zudem an, dass er es in Erwägung ziehen werde, von der Verteidigung formulierte und vom Landgericht gestellte Fragen zu beantworten, verweigerte unter Berufung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (siehe Rdnr. 49) jedoch die Beantwortung von Fragen des Beschwerdeführers oder der Verteidigung, um sich nicht selbst zu belasten. Nach seiner letzten Befragung am 15. Januar 2009 reiste der Zeuge in den Libanon; anschließende Bemühungen des Landgerichts, ihn zur Hauptverhandlung zu laden, waren erfolglos. Mit Beschluss vom 31. Juli 2009 stellte das Gericht fest, dass es in absehbarer Zeit nicht möglich sein werde, den Zeugen zu vernehmen, da dieser durch einen von einem libanesischen religiösen Gericht ausgestellten Beschluss, dessen Echtheit vom libanesischen Außenministerium und der Deutschen Botschaft in Beirut bestätigt worden sei, an seiner Ausreise aus dem Libanon gehindert werde. Unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot angesichts der fortdauernden Untersuchungshaft des Beschwerdeführers sowie der Tatsache, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung wiederholt vernommen worden sei, vertrat das Landgericht die Ansicht, dass seine Abwesenheit keine weitere Verzögerung des Verfahrens rechtfertige.
37. Weiterhin hörte das Gericht Vertreter der Polizei und der Staatsanwaltschaft an, die an A. K.’s Befragungen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beteiligt gewesen waren, sowie die Richter und staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertreter, die an dem gegen A. K. und weitere gesondert verfolgte Mitangeklagte geführten Strafverfahren beteiligt gewesen waren. Zusätzlich wurden auf Antrag der Verteidigung und mit Einverständnis sämtlicher Beteiligten alle verfügbaren Protokolle der Aussagen, die A. K. in den verschiedenen Stadien des Verfahrens gemacht hatte, in der Hauptverhandlung verlesen.
38. Das Landgericht führte in seinem Urteil aus, dass A. K.’s Aussage lediglich am Rande hinsichtlich der Beweggründe für die Tat, der Tatzeit und der Qualität der fraglichen Betäubungsmittel durch die übrigen vorliegenden Beweismittel ergänzt und bestätigt worden sei. Das Gericht betonte, dass es aufgrund der zentralen Bedeutung, die A. K.’s Aussagen für die Verurteilung des Beschwerdeführers zukomme, und aufgrund des Umstands, dass er sich geweigert habe, Fragen der Verteidigung zu beantworten, die Zuverlässigkeit des Zeugen in besonders gründlicher und kritischer Würdigung geprüft habe. Dies sei auch erforderlich gewesen, weil A. K. im Libanon lebe, in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers ausgesagt habe, um die Straferwartung in dem wegen Betäubungsmittelhandels gegen ihn selbst eingeleiteten Strafverfahren zu reduzieren, und wiederholt des Betäubungsmittelhandels schuldig gesprochen worden sei.
39. Dennoch befand das Gericht den Zeugen A. K. für glaubwürdig. Seine Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung seien kohärent gewesen und hätten mit den im Vorverfahren gegenüber den Ermittlungsbehörden gemachten Angaben übereingestimmt. Seine Entscheidung, zur Aufklärung des dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer und andere Angeklagte zugrunde liegenden Sachverhalts beizutragen, sei von seinem Wunsch getragen worden, seine Verbindungen zur Drogenhändlerszene zu kappen und ein neues Leben zu beginnen. Nach Auffassung des Landgerichts gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass er den Beschwerdeführer fälschlicherweise belastet habe.
40. Ferner sei das Recht des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, in dem fraglichen Verfahren gewahrt worden. Dass A. K. die Beantwortung von Fragen der Verteidigung abgelehnt habe, habe einer Verwertung seiner Angaben in der Hauptverhandlung nicht entgegengestanden und auch nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen gemindert. Auch nachdem das Strafverfahren gegen A. K. durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Juli 2008 rechtskräftig abgeschlossen worden sei, habe der Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO Gebrauch machen dürfen, da weiterhin die Gefahr bestanden habe, dass er sich im Hinblick auf Straftaten, die mit der Tat, für die er verurteilt worden sei, in engem Zusammenhang stünden, selbst belasten würde. Zahlreiche frühere Ermittlungen, die diesbezüglich gegen A. K. eingeleitet worden seien, seien von den Strafverfolgungsbehörden eingestellt worden und könnten künftig wiederaufgenommen werden. Das Gericht unterstrich in diesem Zusammenhang, dass es alles ihm Mögliche getan habe, um eine Befragung von A. K. durch die Verteidigung zu ermöglichen. Trotz der Weigerung von A. K., Fragen der Verteidigung oder des Beschwerdeführers zu beantworten, habe er zu Beginn angeboten, die Beantwortung von vom Beschwerdeführer schriftlich verfasster Fragen in Erwägung zu ziehen. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers habe dieses Angebot abgelehnt. Infolgedessen habe das Gericht dem Antrag des Rechtsanwalts des Beschwerdeführers, A. K., befragen zu dürfen, stattgegeben; dies habe er daraufhin getan. Allerdings seien alle diesbezüglichen Bemühungen ergebnislos geblieben. Deshalb habe das Gericht selbst A. K. Fragen zu den die Verteidigung offenbar interessierenden Themenkomplexen gestellt, die von dem Zeugen alle beantwortet worden seien. Daraufhin habe der Beschwerdeführer auf Vorschlag des Gerichts eine Liste mit weiteren Themen von Interesse vorgelegt. Zu diesen Themen habe das Gericht A. K. in einer späteren Verhandlung befragt. Überdies habe A. K. im letzten Teil der Hauptverhandlung eine Reihe von Fragen beantwortet, die von der Verteidigung vorgeschlagen und ihm vom Gericht in unverändertem Wortlaut vorgelegt worden seien. Auf Anraten seines Verteidigers habe er dann die weitere Teilnahme an einer solchen indirekten Befragung abgelehnt.
D. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
41. In seiner Revision vom 15. April 2010 gegen das Urteil des Landgerichts rügte der Beschwerdeführer unter anderem, dass weder er noch sein Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit gehabt habe, den Hauptbelastungszeugen A. K. zu befragen. Was die tatsächliche Begehung der Straftat durch den Beschwerdeführer angehe, sei A. K.’s Aussage außerdem nicht durch weitere wichtige Beweismittel bestätigt worden. Der Beschwerdeführer brachte ferner vor, dass sich A. K., nachdem die in seinem Verfahren ergangene Verurteilung am 10. Juli 2008 rechtskräftig geworden sei, in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht mehr auf sein Recht auf Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO berufen könne. Dennoch habe das Landgericht ihn zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens verpflichtet, Fragen der Verteidigung zu beantworten, und folglich unter Verletzung von Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention nicht alles ihm Mögliche getan, um die Befragung des Zeugen durch die Verteidigung zu ermöglichen.
42. Mit Stellungnahme vom 31. August 2010 beantragte der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, die Revision des Beschwerdeführers zu verwerfen. Er trug vor, dass das Verfahren ungeachtet des Umstands, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit hatte, A. K. zu befragen, insgesamt fair gewesen sei.
43. In seiner Gegenerklärung zu der Antragsschrift des Generalbundesanwalts rügte der Beschwerdeführer überdies die überlange Dauer seines Verfahrens. Er trug vor, dass sich die Hauptverhandlung mit 101 Verhandlungstagen über 135 Wochen bzw. 31 Monate erstreckt habe, so dass durchschnittlich an 0,75 Tagen pro Woche oder 3,25 Tagen pro Monat für durchschnittlich weniger als drei Stunden pro Verhandlungstag verhandelt worden sei.
44. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2010 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet.
45. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2010 erhob der Beschwerdeführer beim Bundesgerichtshof Anhörungsrüge.
46. Am 17. Januar 2011 wies der Bundesgerichtshof die Rüge des Beschwerdeführers zurück.
E. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
47. Am 13. Januar 2011 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren, da er zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens den Zeugen A. K. habe befragen können, sowie die Dauer seiner Untersuchungshaft und des Verfahrens.
48. Mit Beschluss vom 18. Januar 2012 (2 BvR 447/11) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
49. Nach § 55 Abs. 1 StPO kann ein Zeuge die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem nahen Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
50. Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der Gerichtshof, die beiden Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 3 DER KONVENTION
51. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Dauer seiner Untersuchungshaft überlang gewesen sei. Er machte eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 der Konvention geltend, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
[…]
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
[…]
(3) Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist […] hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.“
52. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
53. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht bei der Bemessung der Strafe des Beschwerdeführers berücksichtigte, dass dessen Untersuchungshaft lang war und er während der Haft starken Belastungen ausgesetzt war. Daher stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer im Sinne des Artikels 34 der Konvention seine Opfereigenschaft im Hinblick auf eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 der Konvention verloren hat. Nach Auffassung des Gerichtshofs steht die Frage, ob bei dem Beschwerdeführer die Opfereigenschaft im Sinne des Artikels 34 entfällt, in engem Zusammenhang mit der Frage, die seine Rüge gemäß Artikel 5 Abs. 3 wegen der Dauer seiner Untersuchungshaft aufwirft. Diese Frage wird daher mit der Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde verbunden.
54. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
55. Der Beschwerdeführer trug vor, dass spätestens nach mehr als drei Jahren Untersuchungshaft keine hinreichenden Gründe mehr für eine Fortdauer der Haft vorgelegen hätten. Er machte geltend, das Landgericht habe den Verfahrensverlauf nicht besonders beschleunigt. Die Hauptverhandlung sei an durchschnittlich 0,75 bis 0,77 Verhandlungstagen pro Woche für eine Dauer von weniger als drei Stunden durchgeführt worden. Der Beschwerdeführer wies ferner darauf hin, dass sich weder das Landgericht noch das Kammergericht mit der Frage der verschärften Bedingungen auseinandergesetzt habe, unter denen seine Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls durchgeführt worden sei.
b) Die Regierung
56. Die Regierung betonte, dass die Fluchtgefahr während der gesamten Untersuchungshaft des Beschwerdeführers fortbestanden habe und weniger einschneidende Maßnahmen nicht geeignet gewesen seien, um den Zweck der Haft zu erfüllen.
57. Sie brachte ferner vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hauptsächlich auf das Verhalten des Verteidigers, die Krankenhausbehandlung des Beschwerdeführers und die unzureichende Verfügbarkeit des Hauptbelastungszeugen zurückzuführen sei. Die durch Urlaub der Richter verursachten Verzögerungen seien durch Beschleunigungsmaßnahmen des Gerichts kompensiert worden, beispielsweise durch die Anordnung des Selbstleseverfahrens.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
58. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Artikel 5 Abs. 3 lediglich auf Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c verweist. Er gilt folglich nicht für Freiheitsentziehungen zum Zweck der Auslieferung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. f. Folglich begann der in der vorliegenden Rechtssache zu berücksichtigende Zeitraum am 8. September 2006 mit der Auslieferung des Beschwerdeführers nach Deutschland (siehe Rdnr. 7) und endete am 16. September 2009 mit der Urteilsverkündung durch das Landgericht Berlin (siehe Rdnr. 31 f.). Demzufolge befand sich der Beschwerdeführer insgesamt drei Jahre und neun Tage in Untersuchungshaft.
59. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Frage, ob die Dauer einer Untersuchungshaft angemessen ist, nicht abstrakt beurteilt werden kann. Ob es angemessen ist, dass ein Beschuldigter in Haft bleibt, muss anhand des Sachverhalts jedes Einzelfalls sowie unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles geprüft werden. Im konkreten Fall kann die Fortdauer der Haft nur dann gerechtfertigt sein, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie im öffentlichen Interesse wirklich erforderlich ist, und dieses öffentliche Interesse, ungeachtet der Unschuldsvermutung, den in Artikel 5 der Konvention verankerten Grundsatz der Achtung der Freiheit der Person überwiegt (siehe Kudła ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 30210/96, Rdnr. 110, ECHR 2000-XI; Zimin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 48613/06, Rdnr. 30, 6. Februar 2014).
60. Das Bestehen und Fortbestehen des begründeten Verdachts, dass die inhaftierte Person eine Straftat begangen hat, ist eine „conditio sine qua non“ für die Rechtmäßigkeit der Haftfortdauer (Labita ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26772/95, Rdnr. 153, ECHR 2000‑IV). Nach einer gewissen Zeit reicht diese jedoch nicht mehr aus. In solchen Fällen muss der Gerichtshof feststellen, ob die übrigen von den Justizbehörden vorgebrachten Gründe den Freiheitsentzug weiterhin rechtfertigten. Diese Gründe müssen „zutreffend“ und „ausreichend“ sein (siehe Labita, a. a. O., Rdnr. 153).
61. Waren diese Gründe „zutreffend“ und „ausreichend“, muss der Gerichtshof außerdem feststellen, ob die zuständigen innerstaatlichen Behörden bei der Durchführung des Verfahrens „besonders zügig“ vorgegangen sind (siehe Labita, a. a. O., Rdnrn. 152 und 153). Bei der Entscheidung über die Freilassung oder Inhaftierung einer Person sind die Behörden verpflichtet, Alternativmaßnahmen in Erwägung zu ziehen, um das Erscheinen der Person bei der Hauptverhandlung sicherzustellen (siehe Jabłonski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 33492/96, Rdnr. 83, 21. Dezember 2000).
62. Was die Gründe für die fortdauernde Inhaftierung des Beschwerdeführers angeht, bemerkt der Gerichtshof, dass den zuständigen Justizbehörden zufolge andauernd der dringende Verdacht bestand, dass der Beschwerdeführer des Betäubungsmittelhandels schuldig sei. Er stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer letztlich wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen sowie wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde. Er erkennt an, dass während der gesamten Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin ein begründeter Verdacht bestand, dass der Beschwerdeführer sich der ihm vorgeworfenen Straftaten schuldig gemacht hatte.
63. Was die Fluchtgefahr des Beschwerdeführers angeht, bemerkt der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Gerichte sich nicht nur auf die Möglichkeit einer schweren Strafe, sondern auch auf andere maßgebliche Umstände berufen haben. Dazu gehörte die Tatsache, dass bereits eine Ausweisungsverfügung gegen ihn erlassen worden war und er bereits verschiedene Alias-Namen verwendet hatte. Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass über den ganzen Zeitraum seiner Untersuchungshaft hinweg „zutreffende“ Gründe für die fortdauernde Inhaftierung bestanden.
64. Dem Beschwerdeführer zufolge waren die von den Gerichten vorgebrachten Gründe nicht ausreichend. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte – wenn auch knapp – darauf eingegangen sind, dass eine Alternativmaßnahme die Anwesenheit des Beschwerdeführers vor Gericht nicht sichergestellt hätte. Das Kammergericht legte in seinem Beschluss vom 29. April 2008 ausdrücklich dar, dass der Beschwerdeführer keine tragfähigen persönlichen Bindungen habe, die ihn von einer Flucht abhalten würden. Tatsachlich sei seine Lebensgefährtin zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, jedoch haftverschont worden. Das Kammergericht kam zu dem Schluss, dass eine ausgeprägte Motivation für den Beschwerdeführer bestehe, mit seiner Lebensgefährtin zu fliehen.
65. Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass die für die Inhaftierung des Beschwerdeführers angeführten Gründe „zutreffend“ und „ausreichend“ waren, um einen ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs sicherzustellen.
66. Es bleibt zu klären, ob die innerstaatlichen Behörden bei der Durchführung des Verfahrens „besonders zügig“ vorgegangen sind.
67. Nach Ansicht des Gerichtshofs war die Rechtssache des Beschwerdeführers komplex. Sie hatte mehrere ernsthafte Vorwürfe gegen ihn und einen Mitangeklagten zum Gegenstand und erforderte die Beteiligung von mindestens 20 Zeugen und einem Sachverständigen sowie wiederholte Befragungen des Hauptbelastungszeugen A. K.
68. Was das Verhalten des Beschwerdeführers in dem Verfahren vor dem Landgericht Berlin angeht, kann sich der Gerichtshof nicht der Auffassung der Regierung anschließen, dass Verfahrensverzögerungen in erster Linie dem Beschwerdeführer zuzuschreiben seien. Selbst wenn der Beschwerdeführer in der Lage gewesen wäre, seine Anträge früher zu stellen, waren die sich daraus ergebenden Verzögerungen nur geringfügig, wenn man die Gesamtlänge des erstinstanzlichen Verfahrens und die Tatsache in Betracht zieht, dass der Hauptbelastungszeuge A. K. nur vom Landgericht und der Staatsanwaltschaft gestellte Fragen beantwortete. Demnach war das sukzessive Stellen der Beweisanträge in erster Linie durch das jeweilige Ergebnis der Anhörungen von A. K. begründet. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer in der Lage gewesen wäre, diese Anträge zu einem erheblich früheren Verfahrenszeitpunkt zu stellen.
69. Was das Verhalten der Justizbehörden in dem Verfahren angeht, stellt der Gerichtshof auf der Grundlage des ihm zur Verfügung stehenden Materials fest, dass das Verhandlungsgericht, das durchschnittlich weniger als vier Verhandlungstermine pro Monat ansetzte, ohne sich darum zu bemühen, Zeugen und den Sachverständigen auf eine effizientere Art zu laden, das Verfahren nicht zügig betrieb. Angesichts der verschärften Bedingungen, unter denen die Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls durchgeführt wurde, sowie angesichts der Dauer der Inhaftierung des Beschwerdeführers und seines Gesundheitszustands vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass das zuständige Gericht zur Beschleunigung des Verfahrens einen strafferen Verhandlungsplan hätte festlegen sollen. Der Gerichtshof verweist insbesondere auf die Urlaubszeiten, die Zeit ab 15. Oktober 2007, als die Frequenz der Verhandlungstermine durch die Abordnung eines Beisitzers an ein anderes Gericht verringert wurde, sowie auf die Zeit nach der Herzoperation des Beschwerdeführers im Juni 2008. Der Gerichtshof kann sich der Auffassung der Regierung, dass die Gerichte die Unterbrechungen zwischen den anberaumten Terminen so kurz wie möglich gehalten hätten, nicht anschließen. Er stellt fest, dass es insbesondere zwischen 23. April und 7. Mai 2007, 12. Juli und 2. September 2007, 22. Dezember 2007 und 6. Januar 2008, 13. Dezember 2008 und 4. Januar 2009 sowie zwischen 5. Mai und 1. Juni 2009 zu diesen Unterbrechungen kam. Insgesamt hat das Gericht über einen Zeitraum von fast 24 Wochen keinen Verhandlungstermin angesetzt. Schließlich wurde die Anzahl und die Dauer der Gerichtsverhandlungen pro Monat nach der Herzoperation des Beschwerdeführers nicht erhöht, sondern verringert. Der Gerichtshof erkennt an, dass eine schwere Erkrankung wie die im vorliegenden Fall ein Gerichtsverfahren verlangsamen kann. Allerdings stellt er fest, dass in erster Linie die Behörden dem Beschleunigungsgebot unterlagen, zumal der Beschwerdeführer sich in Untersuchungshaft befand und an einer schweren Erkrankung litt. Dies erforderte eine besonders zügige Behandlung des Falles durch die Behörden (siehe Kudła, a. a. O., Rdnr. 130).Vor diesem Hintergrund verhinderten Beschleunigungsmaßnahmen wie die Anordnung des Selbstleseverfahrens zwar weitere Verzögerungen, stellten jedoch keinen Ausgleich für den laxen Verhandlungsplan dar.
70. Im Lichte dieser verschiedenen Faktoren stellt der Gerichtshof fest, dass das zuständige innerstaatliche Gericht das Verfahren des Beschwerdeführers nicht mit der gebotenen besonderen Zügigkeit geführt hat.
71. Deshalb kommt er zu dem Ergebnis, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers nicht als angemessen erachtet werden kann.
72. Es bleibt die Frage, ob der Beschwerdeführer weiterhin geltend machen kann, Opfer einer Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 der Konvention zu sein. Ein Betroffener kann seinen Opferstatus im Sinne von Artikel 34 der Konvention verlieren, wenn die innerstaatlichen Behörden die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und sodann hinreichend Wiedergutmachung geleistet haben (D. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65745/01, Rdnr. 83, 10. November 2005, Rdnr. 83).
73. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht in der vorliegenden Rechtssache bei der Strafzumessung in seinem Urteil auf die lange Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers sowie auf die Belastungen auf ihn verwiesen hat und dies zugunsten des Beschwerdeführers gewertet hat. Der Gerichtshof befindet, dass das Landgericht mit dieser Formulierung weder ausdrücklich noch der Sache nach eine Konventionsverletzung anerkannt hat.
74. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers im Hinblick auf eine Verletzung des Artikels 5 Abs. 3 der Konvention im Sinne des Artikels 34 der Konvention nicht entfallen ist. Dementsprechend ist Artikel 5 Abs. 3 der Konvention verletzt worden.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
75. Der Beschwerdeführer war auch der Auffassung, dass die Dauer des gegen ihn geführten Strafverfahrens überlang gewesen sei. Er machte eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geltend, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht […] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
76. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
77. Was die Frage angeht, ob der Beschwerdeführer im Sinne des Artikels 34 der Konvention seine Opfereigenschaft im Hinblick auf eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verloren hat, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen im Hinblick auf Artikel 5 Abs. 3 der Konvention. Aus denselben Gründen verbindet er diese Frage mit der Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde.
78. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
79. Unter Bezugnahme auf seine Begründung bezüglich des Artikels 5 Abs. 3 der Konvention brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Dauer des gegen ihn geführten Strafverfahrens überlang gewesen sei. Alle Verzögerungen des Verfahrens vor dem Landgericht Berlin sowie die Gesamtdauer des Verfahrens seien den Justizbehörden zuzurechnen.
b) Die Regierung
80. Die Regierung trug vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers, an die strengere Anforderungen zu stellen seien als an die Dauer der Hauptverhandlung, „angemessen“ und die Dauer des Strafverfahrens insgesamt mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
81. Der nach Artikel 6 Abs. 1 zu berücksichtigende Zeitraum begann am 16. August 2006, als der Beschwerdeführer aufgrund des Haftbefehls vom 2. August 2005 in Portugal in Auslieferungshaft genommen wurde. Er endete am Tag der endgültigen Entscheidung über die Anklage (siehe W. ./. Deutschland, 27. Juni 1968, Rdnr. 18, Serie A, Band 7), d. h. mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Januar 2012. Insgesamt dauerte das Verfahren demnach fünf Jahre, fünf Monate und vier Tage in drei Instanzen und auf der Ermittlungsebene.
82. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Anbetracht der Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u. v. a. Idalov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 186, 22. Mai 2012; Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 35444/94, Rdnr. 67, ECHR 1999-II). Im Hinblick auf das Verhalten der innerstaatlichen Behörden kann eine Verzögerung in einem gewissen Verfahrensstadium vertretbar sein, wenn die Gesamtverfahrensdauer nicht als überlang erachtet werden kann (siehe u.a. Nuutinen ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 32842/96, Rdnr. 110, ECHR 2000-VIII).
83. Der Gerichtshof erkennt an, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer durch einige Komplexität gekennzeichnet war. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, in großem Stil Betäubungsmittelhandel betrieben zu haben. Die Beweisaufnahme wurde erschwert, da der Hauptbelastungszeuge die Beantwortung von Fragen des Rechtsanwalts des Beschwerdeführers ablehnte.
84. Was das Verhalten des Beschwerdeführers angeht, erkennt der Gerichtshof an, dass es im Interesse des Beschwerdeführers lag, Beweise zu erlangen und damit die Mittel des innerstaatlichen Rechts voll auszuschöpfen und seine bestmögliche Verteidigung in dem Strafverfahren sicherzustellen. Angesichts des Verhaltens des Hauptbelastungszeugen A. K. und der Tatsache, dass er wiederholt befragt wurde, ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass die weiteren Beweisanträge durch das jeweilige Ergebnis der vorherigen Beweiserhebung bedingt waren.
85. Was das Verhalten der Behörden angeht, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen im Hinblick auf Artikel 5 Abs. 3 der Konvention, wonach das Landgericht Berlin das Verfahren des Beschwerdeführers nicht mit der gebotenen besonderen Zügigkeit geführt hat. Diese Feststellung gilt jedoch nicht für die Gesamtdauer des Strafverfahrens. Der Gerichtshof berücksichtigt berücksichtigt, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers nicht mit der Gesamtdauer des Verfahrens gleichzusetzen ist. Während die Untersuchungshaft rund drei Jahre dauerte, dauerte das Verfahren selbst rund fünf Jahre und fünf Monate in drei Instanzen und der Ermittlungsebene. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rechtsmittelgerichte die Strafsache zügig aburteilten. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof wurde mit Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 15. April 2010 angestrengt und endete mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 2011. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betreffend die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers begann am 13. Januar 2011 und war circa ein Jahr später abgeschlossen.
86. Bei einer Gesamtwürdigung des Falles und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es in dem Verfahren um die Freiheit des Beschwerdeführers ging, gelangt der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Dauer des Verfahrens im Rahmen dessen blieb, was in diesem bestimmten Fall als „angemessen“ angesehen werden kann.
87. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden. Der Gerichtshof muss daher nicht prüfen, ob der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 34 der Konvention seine Opfereigenschaft im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 verloren hat.
IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSÄTZE 1 UND 3 BUCHSTABE D DER KONVENTION
88. Der Beschwerdeführer rügte, dass es weder ihm noch seinem Rechtsanwalt möglich gewesen sei, zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens Fragen an den Hauptbelastungszeugen zu stellen. Er machte geltend, dass daher sein Recht auf wirksame Verteidigung unzulässig eingeschränkt worden sei, und berief sich hierzu auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention, die, soweit maßgeblich, wie folgt lauten:
„(1) “Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]
[…]
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
[…]
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; […]“
89. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
90. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
91. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass der Hauptbelastungszeuge A. K. hinsichtlich beider Tatvorwürfe gegen ihn die einzige Beweisquelle darstelle. Da er A. K. nicht habe befragen können, sei er durch die fehlende Gegenüberstellung benachteiligt worden. Das Gericht habe nicht genügend andere Maßnahmen ergriffen, um diesen Nachteil auszugleichen. Der Beschwerdeführer brachte ferner vor, dass durch andere Gerichte festgestellt worden sei, dass A. K. bei Befragungen durch diese Gerichte nicht die Wahrheit gesagt habe. Dieses Verhalten werfe notwendigerweise Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen insgesamt auf. Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat das Landgericht diese Mängel bei seiner Entscheidungsfindung nicht durch eine hinreichend vorsichtige Würdigung der Aussagen von A. K. und seiner Glaubwürdigkeit kompensiert.
b) Die Regierung
92. Die Regierung erkannte an, dass die Beweiswürdigung durch das Landgericht auf die Aussage von A. K. gestützt worden sei und dass weder der Beschwerdeführer noch sein Rechtsanwalt A. K. zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens direkt hätten befragen können. Allerdings sei Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d nicht verletzt worden, da das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt fair gewesen sei. Da der Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit des Zeugen habe anzweifeln können, sei kein Nachteil entstanden. Darüber hinaus habe das Landgericht alle Umstände, die die Glaubwürdigkeit von A. K. in Frage hätten stellen können, berücksichtigt und Argumente dafür vorgebracht, warum es seine Aussage dennoch für überzeugend halte. In diesem Zusammenhang habe das Landgericht sorgfältig geprüft, warum es die Auffassung vertreten habe, dass die teilweise abweichenden Aussagen von A. K. vor einem anderen Gericht nicht zu dem Schluss führten, dass seine Aussagen in dem in Rede stehenden Verfahren als unwahr anzusehen seien.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Allgemeine Grundsätze
93. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 in erster Linie zu prüfen hat, ob das Strafverfahren insgesamt fair war (siehe u. a. Taxquet ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 926/05, Rdnr. 84, ECHR 2010). Dabei wird der Gerichtshof das Verfahren als Ganzes betrachten und die Rechte der Verteidigung, aber auch die Interessen der Öffentlichkeit und der Geschädigten an einer angemessenen Verfolgung von Straftaten sowie gegebenenfalls auch die Rechte der Zeugen berücksichtigen (siehe Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 29881/07, Rdnr. 58, 19. Juli 2012). Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d enthält den Grundsatz, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten im Regelfall alle gegen ihn vorliegenden Beweise in seiner Anwesenheit in öffentlicher Verhandlung erhoben werden müssen, um eine kontradiktorische Auseinandersetzung zu ermöglichen (siehe Gani ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 61800/08, Rdnr. 38, 19. Februar 2013). Dem liegt das Prinzip zugrunde, dass der Angeklagte in einem Strafverfahren eine wirksame Gelegenheit haben sollte, die gegen ihn vorliegenden Beweise anzufechten. Ausnahmen von dieser Regel sind möglich, dürfen aber die Rechte der Verteidigung nicht verletzen, die in der Regel nicht nur verlangen, dass ein Angeklagter die Identität der ihn belastenden Personen kennen sollte, damit er in der Lage ist, deren Rechtschaffenheit und Glaubwürdigkeit anzufechten, sondern auch, dass er in der Lage sein sollte, die Richtigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Aussagen zu überprüfen, indem er sie in seiner Gegenwart befragen lässt, entweder zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium (siehe Lucà ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Rdnr. 39, ECHR 2001-II; Solakov ./. „die frühere jugoslawische Republik Mazedonien“, Individualbeschwerde Nr. 47023/99, Rdnr. 57, ECHR 2001-X; und S., a. a. O., Rdnr. 58).
94. Bei der Beurteilung der Rüge des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass die vorliegende Rechtssache in dieser Hinsicht der Rechtssache S., a. a. O., sehr ähnlich ist, bei der es um einen Zeugen ging, der bei der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers anwesend war und vom Gericht und der Staatsanwaltschaft gestellte Fragen beantwortete, die Beantwortung von Fragen der Verteidigung unter Berufung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht jedoch ablehnte. Der Zeuge war also weder abwesend (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O.,Rdnrn. 153 und 159 und Lawless ./. das Vereinigte Königreich [Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 44324/11, Rdnr. 8, 16. Oktober 2012), noch lehnte er die Beantwortung materieller Fragen ab (siehe Vidgen ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 29353/06, Rdnr. 16, 10. Juli 2012). Daher ist die vorliegende Rechtssache anhand der allgemeinen Grundsätze bezüglich Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d, wie sie in der Rechtssache S. zusammengefasst sind, zu prüfen.
b) Anwendung auf den vorliegenden Fall
95. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Zeuge A. K. wiederholt in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seines Rechtsanwalts öffentlich vor Gericht ausgesagt und während des Verfahrens vom Vorsitzenden Richter und vom Staatsanwalt gestellte Fragen beantwortet hat. Zu Beginn des Verfahrens bot er zudem an, dass er es in Erwägung ziehen werde, von der Verteidigung formulierte und vom Landgericht gestellte Fragen zu beantworten. Die Beweismittel, die zur Verurteilung des Beschwerdeführers führten, wurden demnach in seiner Anwesenheit erhoben.
96. Unter diesen Umständen waren sowohl das Gericht und die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte und sein Verteidiger in der Lage, das Verhalten des Zeugen bei der Befragung zu beobachten und sich hinsichtlich seiner Rechtschaffenheit und Glaubwürdigkeit einen eigenen Eindruck zu verschaffen (vgl. S., a. a. O., Rdnr. 59, und, im Gegensatz dazu, Kostovski ./. die Niederlande, 20. November 1989, Rdnrn. 42 und 43, Serie A Band 166 und Windisch ./. Österreich, 27. September 1990, Rdnr. 29, Serie A Band 186). Zudem erhielten sie diese Gelegenheit wiederholt, da A. K. häufig und über einen längeren Zeitraum hinweg befragt wurde. Seine erste Befragung fand am 6. März 2007 und die letzte am 15. Januar 2009 statt. Die Schlussfolgerungen, die das Gericht aus den Aussagen und dem Verhalten des Zeugen gezogen hat, waren daher gut fundiert.
97. Zwar wäre es für die Verteidigung insbesondere deshalb eindeutig besser gewesen, den Zeugen direkt befragen zu können, weil dessen Aussage, wie zwischen den Parteien unstreitig ist, für die nachfolgende Verurteilung des Beschwerdeführers von großer Bedeutung war. Der Gerichtshof stellt jedoch trotzdem fest, dass es nicht den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen war, dass A. K. nicht von der Verteidigung befragt werden konnte. Der Gerichtshof erkennt an, dass die innerstaatlichen Gerichte im Verlauf der Hauptverhandlung verpflichtet waren, die Entscheidung des Zeugen zu respektieren, keine Fragen zu beantworten, die ihm die Gefahr zuziehen würden, strafverfolgt zu werden (siehe § 55 Abs. 1 StPO, Rdnr. 49). Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es sich bei dem Schweigerecht und dem Recht auf Selbstbelastungsfreiheit, obwohl diese in Artikel 6 der Konvention nicht eigens erwähnt sind, um allgemein anerkannte internationale Normen handelt, die zum Kernbestand des Begriffs des fairen Verfahrens nach Artikel 6 gehören (siehe S., a. a. O., Rdnr. 61; Saunders ./. das Vereinigte Königreich, 17. Dezember 1996, Rdnr. 68, Reports of Judgments and Decisions 1996-VI). Unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache, bei der sowohl dem Beschwerdeführer als auch A. K. vorgeworfen wurde, in großem Umfang in den Betäubungsmittelhandel verwickelt gewesen zu sein, und sie einen Interessenkonflikt hätten haben können, wiegt dieses Recht besonders schwer. Der Gerichtshof hält es auch für entscheidend festzustellen, dass das Gericht dennoch versuchte, die Fragen, die für die Verteidigung von Bedeutung waren, in ihre eigenen Fragen aufzunehmen (vgl. auch S., a. a. O., Rdnrn. 60-61).
98. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer und die Verteidigung, die das Verhalten des Zeugen bei der Befragung beobachten konnten (siehe Rdnr. 96), im Verlauf des Verfahrens Gelegenheit hatten, die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Richtigkeit seiner Aussage in Zweifel zu ziehen (vgl. auch Isgrò ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 11339/85, Rdnr. 36, 19. Februar 1991). Auch hatten sie, unmittelbar nach der Vernehmung des Zeugen durch das Gericht und die Staatsanwaltschaft sowie nach dem Abschluss der gesamten Beweisaufnahme, Gelegenheit, zu der Aussage von A. K. Stellung zu nehmen und diese zu hinterfragen. Der Beschwerdeführer konnte zwar den Zeugen nicht direkt befragen, hatte aber dennoch die Möglichkeit, dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen und seiner Schilderung des Sachverhalts zu widersprechen (vgl. auch Asch ./. Österreich, 26. April 1991, Rdnr. 29, Serie A Band 203; Accardi u. a. ./. Italien [Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 30598/02, ECHR 2005-II; S., a. a. O., Rdnr. 63). In der Tat machte er von dieser Möglichkeit Gebrauch, indem er weitere Beweisanträge stellte, die auf den Ausführungen von A. K. basierten. Infolgedessen hörte das Gericht Vertreter der Polizei und der Staatsanwaltschaft an, die an der Vernehmung von A. K. beteiligt gewesen waren, und verlas von der Verteidigung angeforderte Protokolle.
99. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht selbst betonte, dass es die Glaubwürdigkeit und die Richtigkeit von A. K.’s Aussage besonders sorgfältig zu prüfen hatte. Aufgrund dessen berücksichtigte und prüfte das Landgericht in seinem ausführlich begründeten Urteil diverse Aspekte, die die Rechtschaffenheit des Zeugen in Frage hätten stellen können, beispielsweise die Aussetzung seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung und die Tatsache, dass A. K. im Libanon lebte und wiederholt des Betäubungsmittelhandels schuldig gesprochen worden war. Im Hinblick auf die Umstände des Falles führte das Landgericht aus, warum kein Grund für die Annahme bestand, dass der Zeuge den Beschwerdeführer fälschlicherweise belastet habe. Das Tatgericht stellte weiter fest, dass der Zeuge plausible Gründe für seine Entscheidung, Fragen der Verteidigung nicht zu beantworten, gehabt habe. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die diesbezüglich von dem innerstaatlichen Gericht vorgebrachten Argumente für seine Schlussfolgerung nicht unerheblich waren, die Aussage von A. K. sei, soweit sie die Handlungen des Beschwerdeführers betroffen habe, glaubhaft und schlüssig Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Argumente, die das innerstaatliche Gericht diesbezüglich vorbrachte, für seine Schlussfolgerung, die Aussage von A. K. sei, soweit sie die Handlungen des Beschwerdeführers betroffen habe, glaubhaft und schlüssig, nicht unerheblich waren (siehe De Lorenzo ./. Italien [Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 69264/01, 12. Februar 2004). Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass bei der Würdigung der Aussage von A. K. die erforderliche Sorgfalt gewahrt wurde.
100. Die Zuverlässigkeit der Aussage von A. K. als Beweismittel wurde ferner durch die Äußerungen der Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie der Richter, die an der Vernehmung von A. K. in dem gegen A. K. und andere getrennt verfolgte Mitbeschuldigte geführten Strafverfahren beteiligt gewesen waren, gestützt. Darüber hinaus berücksichtigte das Landgericht alle verfügbaren Mitschriften der Aussagen, die A. K. in den verschiedenen Stadien des Verfahrens gemacht hatte (siehe Rdnr. 37). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Beweiselemente jeweils für sich allein genommen bezüglich der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten zwar vielleicht nicht für einen Schuldspruch ausgereicht hätten, aber dennoch die sorgfältige Würdigung der Zeugenaussage von A. K. durch das Landgericht bestätigten.
101. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen und die Beweismittel, die die Aussagen von A. K. stützten, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Landgericht eine faire und angemessene Beurteilung der Zuverlässigkeit dieser Aussagen durchführen konnte. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Fairness des Verfahrens insgesamt ist der Gerichtshof der Auffassung, dass ungeachtet der Beeinträchtigungen, unter denen die Verteidigung erfolgte, genügend kompensierende Faktoren vorhanden waren, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Verwertung der Aussagen von A. K. keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d der Konvention zur Folge hatte.
102. Im Ergebnis stellt der Gerichtshof fest, dass das in Rede stehende Verfahren insgesamt im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d der Konvention fair war.
V. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
103. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
104. Im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d forderte der Beschwerdeführer 60.000 EUR für den immateriellen Schaden. Ferner forderte er 44.120 EUR für den immateriellen Schaden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 sowie von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention. Er hob die psychische Belastung hervor, die er aufgrund der fortdauernden Untersuchungshaft erlitten habe. Er habe infolge der Haft an einer posttraumatischen Belastungsstörung und damit einhergehend phasenweise unter einer mittelschweren Depression gelitten.
105. Die Regierung brachte vor, die Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführer sei rechtmäßig gewesen; daher seien daraus resultierende Entschädigungsforderungen zurückzuweisen. Doch selbst wenn der Gerichtshof eine Konventionsverletzung feststelle, so hätten die Forderungen des Beschwerdeführers keine Grundlage in den behaupteten Beeinträchtigungen, da es sich bei diesen um das allgemeine mit der Untersuchungshaft verbundene Leiden handele.
106. In der vorliegenden Rechtssache hält es der Gerichtshof für angemessen davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer Kummer und Frustration entstanden sind, die durch die fortdauernde Untersuchungshaft verschlimmert wurden. Der Gerichtshof setzt die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer im Hinblick auf den immateriellen Schaden 6.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
107. Unter Vorlage von Belegen forderte der Beschwerdeführer 30.861,46 EUR für Kosten und Auslagen, die für die Dienste seines Verteidigers in dem Verfahren vor dem Landgericht Berlin angefallen seien. Er verlangte ferner die Erstattung von 3.190 EUR für Kosten und Auslagen, die für die Dienste seines Rechtsanwalts entstanden seien, der ihn in dem Verfahren vor dem Gerichtshof betreffend die mutmaßliche Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d vertrete. Im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention forderte der Beschwerdeführer 901,82 EUR für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten und Auslagen und 4.545,80 EUR für die vor dem Gerichtshof entstanden Kosten und Auslagen.
108. Die Regierung brachte vor, dass die Rechnungen überhöht seien und dass Zweifel hinsichtlich der Berechnung der vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Verfahrensgebühren bestünden.
109. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, um einen als Konventionsverletzung festgestellten Sachverhalt zu verhindern oder diesem abzuhelfen, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind (siehe D., a. a. O, Rdnr. 116). Im Hinblick auf die in dem innerstaatlichen Verfahren entstanden Gesamtkosten und -auslagen stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt hat, welche zusätzlichen Kosten und Auslagen ihm entstanden waren, um die Verletzung von Artikel 5 Abs. 3 der Konvention zu verhindern oder ihr abzuhelfen (vgl. Cevizovic, a. a. O., Rdnr. 72; D., a. a. O., Rdnr. 117). Der Gerichtshof setzt die Summe unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Dokumente und der vorgenannten Kriterien nach Billigkeit fest und hält es für angemessen, zur Deckung der zusätzlichen Kosten aufgrund der Dauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers vor dem Landgericht Berlin, der Kosten für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof – soweit diese die Rüge nach Artikel 5 Abs. 3 der Konvention betreffen – 4.000 EUR zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
110. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. die Individualbeschwerden werden für zulässig erklärt;
3. Artikel 5 Abs. 3 der Konvention ist verletzt worden;
4. im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden;
5. im Hinblick auf das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, ist Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden;
6.
a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 6.000 EUR (sechstausend Euro) für den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 4.000 EUR (viertausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lendingrate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
7. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 9. Juli 2015 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
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