SAURE gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Beschwerde Nr. 78944/12

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Beschwerde Nr. 78944/12
S. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion), der am 25. August 2015 als Kammer zusammengetreten ist, die sich aus folgenden Richtern und Richterinnen zusammensetzt:

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
Síofra O’Leary,

und von Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

aufgrund der vorerwähnten Beschwerde, die am 10. Dezember 2012 erhoben worden ist,

aufgrund der Entscheidung des Präsidenten der Fünften Sektion vom 30. Oktober 2014, der beschwerdegegnerischen Regierung einen Teil der Beschwerde gemäß Artikel 54 Absatz 2 Buchstabe b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu bringen und diese aufzufordern, zur Zulässigkeit und Begründetheit der Rüge aufgrund des Artikels 10 der Konvention schriftlich Stellung zu nehmen,

aufgrund der Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung vom 13. Februar 2015, mit der der Gerichtshof ersucht wird, gemäß Artikel 54A Absatz 1 letzter Satz der Verfahrensordnung gesondert über die Zulässigkeit zu entscheiden,

aufgrund der Entscheidung des Präsidenten der Fünften Sektion vom 20. Februar 2015, diesem Ersuchen stattzugeben,

aufgrund der vom Beschwerdeführer in Beantwortung unterbreiteten Stellungnahmen vom 27. März 2015,

hat nach Beratung die folgende Entscheidung erlassen:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer S. ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Er arbeitet als Journalist für die überregionale Tageszeitung B. Er wird vor dem Gerichtshof von Herrn P., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wird von ihrem Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.J. Behrens, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

A. Die Umstände des vorliegenden Falles

2. Die Umstände des Falles, so wie sie von den Parteien dargelegt worden sind, können wie folgt zusammengefasst werden.

1. Der Hintergrund des Falles

3. Bei der deutschen Wiedervereinigung hatten die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) tätigen Richter und Staatsanwälte die Möglichkeit, ihre Übernahme in den Justizdienst der neuen (im Gebiet der ehemaligen DDR gelegenen) Bundesländer zu beantragen. Richterwahlausschüsse wurden damit beauftragt festzustellen, ob diese Richter und Staatsanwälte geeignet waren und ob sie mit dem Ministerium für Staatssicherheit-MfS (im folgenden Ministerium für Staatssicherheit) der ehemaligen DDR zusammengearbeitet haben. Über sie wurden auch Auskünfte beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (im Folgenden Bundesbeauftragter) eingeholt.

4. Einige dieser Richter und Staatsanwälte wurden trotz ihrer früheren Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit in den Justizdienst des Landes Brandenburg übernommen, da der Richterwahlausschuss der Auffassung war, diese Zusammenarbeit habe ihre Eignung zur Ausübung dieser Ämter nicht in Frage zu stellen vermocht.

5. Ein Abgeordneter des Landtages von Brandenburg legte der Regierung im Jahr 2010 mehrere Fragen zur Zusammenarbeit einiger Angehöriger des Justizdienstes des Landes Brandenburg (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und andere) mit dem Ministerium für Staatssicherheit vor. In ihrer Antwort führte die Regierung des Landes Brandenburg aus, dass bei 82 Bediensteten des Justizdienstes Hinweise auf eine Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit vorlägen.

6. In der Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags vom 7. April 2011 erklärte das Justizministerium des Landes Brandenburg, dass drei Richter mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hätten.

7. Am 13. April 2011 stellte der Abgeordnete, welcher der Regierung die ersten Fragen unterbreitet hatte, weitere Fragen zur genauen Zahl der Richter und Staatsanwälte, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten.

8. Der Justizminister antwortete, dass ein Staatsanwalt und dreizehn Richter mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hätten und dass neun der Richter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit und vier in den Fachgerichtsbarkeiten tätig seien. Er bestätigte, der Richterwahlausschuss habe bei seiner Entscheidung, die Richter in den Justizdienst des Landes Brandenburg zu übernehmen, Kenntnis von dieser Zusammenarbeit gehabt.

9. Am 17. April 2011 berichtete ein deutscher Radiosender über eine Kammervorsitzende eines Sozialgerichts im Land Brandenburg, eine ehemalige Olympiasiegerin und informelle Mitarbeiterin beim Ministerium für Staatssicherheit. In dem Bericht wurden der Ehename und der Mädchenname der Richterin sowie der von ihr gewählte Deckname erwähnt. Ihre Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit wurden detailliert geschildert, die 1974 begonnen und 1978 geendet hatten, als die junge Frau umgezogen war und eine Familie gegründet hatte und zu den Treffen mit dem Führungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit nicht mehr erschien. Es wurden Auszüge aus den von ihr gefertigten Berichten zitiert und es wurde darauf hingewiesen, dass sie später Fälle betreffend Entschädigungen für Opfer von DDR-Unrecht zu bearbeiten gehabt hatte.

10. Der Justizminister des Landes Brandenburg erklärte am 4. Mai 2011, dass neun der dreizehn Richtern, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten, ihren Wehrdienst bei dem der Staatssicherheit zugehörigen Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ abgeleistet hätten, während vier andere informelle Mitarbeiter gewesen seien, und dass der betroffene Staatsanwalt auch informeller Mitarbeiter gewesen sei. Er bestätigte erneut, dieser Sachverhalt sei dem Ministerium bei der Lebenszeiternennung der Justizbediensteten bekannt gewesen.

11. Am 8. Juli 2011 übermittelte der von seinem Anwalt vertretene Beschwerdeführer um 21:18 Uhr auf der Grundlage des Artikels 5 des Pressegesetzes des Landes Brandenburg (siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht, Rdnr. 30) dem Justizministerium des Landes Brandenburg ein Fax, in dem er die Erteilung folgender Auskünfte bis zum 12. Juli 12.00 Uhr begehrte:

„1. Welche belastenden Erkenntnisse liegen gegen die heute noch tätigen 13 Richter sowie gegen den heute noch tätigen Staatsanwalt vor?

2. Wie heißen die 13 Richter? Wo werden sie zurzeit eingesetzt?

3. Wie heißt der Staatsanwalt? Wo wird er zurzeit eingesetzt?

4. Welche der 13 Richter beschäftigen sich aktuell bzw. beschäftigten sich in den letzten zwanzigJahren mit Verfahren zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht und / oder mit Restitutionsverfahren nach VermG und / oder DDR-Rehabilitierungsverfahren?“

12. Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 teilte ihm das Justizministerium des Landes Brandenburg mit, sein Ersuchen sei am 11. Juli eingegangen, und bat den Beschwerdeführer um Verständnis, dass für die Beantwortung seiner Frage eine angemessene Bearbeitungszeit benötigt werde.

2. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor den innerstaatlichen Gerichten

a. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam

13. Am 15. Juli 2011 beantragte der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht Potsdam im Wege der einstweiligen Anordnung die Erteilung der erbetenen Auskünfte.

14. Mit Beschluss vom 18. Juli 2011 wies das Verwaltungsgericht Potsdam den Antrag des Beschwerdeführers zurück, weil die angeführten Gründe nicht ausreichend seien, damit eine einstweilige Anordnung vor Ablauf einer angemessenen Bearbeitungszeit für diese schwierige Sach- und Rechtsfrage ergehen könne.

15. An demselben Tag verweigerte das Justizministerium des Landes Brandenburg unter Berufung auf die Bestimmungen des Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden Stasi-Unterlagen-Gesetz – StUG, siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht, Rdnrn. 30 und 31) die Erteilung der erbetenen Auskünfte.

b. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg

16. Am 4. August 2011 erhob der Beschwerdeführer vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam.

17. Mit einstweiliger Anordnung vom 28. Oktober 2011 änderte das Oberverwaltungsgericht den Beschluss des Verwaltungsgerichts teilweise ab. Es forderte das Justizministerium auf, dem Beschwerdeführer Auskunft zu erteilen,

„1. wieviele der neun Richter, die im Land Brandenburg in der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig sind und bei denen Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit […] bestehen, derzeit bei einem Zivil- bzw. Strafgericht eingesetzt sind und in welcher Instanz der Einsatz erfolgt,

2. in welchen Fachgerichtsbarkeiten die weiteren vier Richter, bei denen Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit […] bestehen, derzeit eingesetzt sind und in welcher Instanz der Einsatz erfolgt,

3. wieviele der 13 Richter, bei denen Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit […] bestehen, sich in den vergangenen 21 Jahren mit Restitutionsverfahren nach dem Vermögensgesetz bzw. dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz beschäftigt haben.“

Es bestätigte hingegen, dass das Justizministerium des Landes Brandenburg weder die Frage Nr. 1 zu den „belastenden Erkenntnissen“ beantworten noch die Namen der Richter und des Staatsanwalts oder den Einsatzort benennen (Fragen Nr. 2 und 3) und auch nicht angeben müsse, ob diese sich aktuell bzw. in den letzten 21 Jahren mit Verfahren zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht beschäftigt hatten.

18. Das Oberverwaltungsgericht wies zunächst darauf hin, dass das Justizministerium nicht gezwungen werden könne, Auskunft darüber zu erteilen, welche „belastenden Erkenntnisse“ gegen die Richter und den Staatsanwalt vorlägen, da § 29 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht, Rdnr. 31) denjenigen, die Auskünfte vom Bundesbeauftragten erhalten hatten, untersage, diese Daten zu anderen Zwecken zu verarbeiten, als die Zwecke, für die sie übermittelt worden seien. Da das Justizministerium die Auskünfte über die genaue Art der Zusammenarbeit der Richter mit dem Ministerium für Staatssicherheit nur erhalten habe, um zu entscheiden, ob die Richter in den Landesjustizdienst übernommen werden könnten, sei das Ministerium nicht befugt gewesen, der Presse diese Auskünfte zu erteilen. Das Oberverwaltungsgericht führte aus, dass nach § 43 StUG das Stasi-Unterlagen-Gesetz allen anderen Gesetzen vorgehe, also auch den Vorschriften des Pressegesetzes des Landes Brandenburg. Der Beschwerdeführer hätte sich daher unmittelbar an den Bundesbeauftragten wenden müssen.

19. Das Oberverwaltungsgericht vertrat anschließend die Auffassung, um des Schutzes derprivaten Interessen der Richter willen sei das Justizministerium nicht gehalten gewesen, deren Identität zu offenbaren. Es traf eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Interesse des Beschwerdeführers als Journalist daran, die Namen der Richter zu erfahren, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten, und dem Interesse der Richter daran, dass Auskünfte über diese Zusammenarbeit nicht veröffentlicht werden. Es wies auf die Bedeutung der Pressefreiheit und der Informationsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft hin, stellte jedoch auch die Gefahr einer Stigmatisierung der Richter heraus. Das Oberverwaltungsgericht rief in Erinnerung, dass die Richterwahlausschüsse bei der deutschen Wiedervereinigung und in Kenntnis der Sachlage der Meinung waren, die Tatsache, dass diese Richter in der Vergangenheit mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten, stehe ihrer Übernahme in den Justizdienst des Landes Brandenburg nicht entgegen. Es fügte hinzu, dass diese Richter seit 21 Jahren ihr Amt ausgeübt hätten, ohne jemals das Licht der Öffentlichkeit zu suchen, und dass nicht aufgrund ihres dienstlichen oder privaten Verhaltens die Frage ihrer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit aufgetaucht sei, sondern aufgrund der Fragen eines Abgeordneten. Dem Oberverwaltungsgericht zufolge war das Justizministerium verpflichtet, die Identität der Richter zu schützen, die es vor mehr als zwanzig Jahren in den Justizdienst übernommen hatte, und zu verhindern, dass die Offenbarung ihrer Identität ihr dienstliches oder privates Ansehen beschädigt. Aus demselben Grund verpflichtete es das Justizministerium nicht, weitergehende Auskünfte über den Einsatzort des einzigen betroffenen Staatsanwalts zu erteilen, da dieser seines Erachtens andernfalls identifiziert werden könnte.

20. Das Oberverwaltungsgericht war schließlich der Meinung, das Justizministerium sei auch nicht verpflichtet, Auskünfte über Verfahren zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht zu erteilen, da dieser Begriff zu unbestimmt undnicht eindeutig feststellbar sei, um welche Verfahren es sich handelte.

21. Angesichts all dieser Aspekte folgerte das Oberverwaltungsgericht, dass dem Beschwerdeführer ein Anspruch auf Erteilung einer Reihe von Auskünften zusteht, was unter den gegebenen Umständen im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens festgestellt werden könne. Ein Abwarten auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens würde den Auskunftsanspruchfaktisch leerlaufen lassen, weil das Informationsinteresse der Öffentlichkeit maßgeblich von der Aktualität der Berichterstattung abhänge, weshalb die Presse auf eine zeitnahe Beschaffung der in Rede stehenden Informationen angewiesen sei. Angesichts der Pressefreiheit und des Gebots der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes sei in diesem Fall die Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Rechtsschutz in Kauf zu nehmen.

c. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

22. Am 20. November 2011 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und stellte einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, wobei er insbesondere eine Verletzung seiner Informationsfreiheit rügte und sich auf Artikel 10 der Konvention berief. Er rügte ferner eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör, da er nicht Richtern und Staatsanwälten ausgesetzt sein wollte, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet hatten.

23. In Befolgung der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts erteilte das Justizministerium dem Beschwerdeführer am 6. Dezember 2011 die folgenden Auskünfte: Von den neun Richtern, die in der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig sind, sind vier Richter bei einem Amtsgericht, vier Richter bei einem Landgericht und ein Richter beim Oberlandesgericht tätig; vier Richter behandeln Zivilsachen, weitere vier Richter Strafsachen und ein Richter bearbeitet sowohl Zivil- als auch Strafsachen. Die vier Richter aus den Fachgerichtsbarkeiten gehören der Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit an und sind erstinstanzlich tätig. Sechs der 13 Richter oblag die Bearbeitung von Restitutionsverfahren nach dem Vermögensgesetz bzw. Verfahren nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz.

24. Das Bundesverfassungsgericht hat am 13. Juni 2012 durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (1 BvR 2885/11) ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Die Hauptsacheverfahren vor den innerstaatlichen Gerichten

25. Am 15. August 2011 beantragte der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht Potsdam die Erteilung von Auskünften, die mit den bereits im Wege der einstweiligen Anordnung erbetenen Informationen übereinstimmten (siehe Rdnrn. 11 und 13 oben).

26. Mit Urteil vom 3. Dezember 2013 erklärte das Verwaltungsgericht den Teil der Beschwerde für erledigt, der die Auskünfte betraf, die dem Beschwerdeführer bereits erteilt worden waren und bei dem die Parteien eine Einigung erzielt hatten, und wies den Antrag des Beschwerdeführers im Übrigen zurück.

27. Am 15. Januar 2014 bat der Beschwerdeführer das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg um Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts,

28. Mit Beschluss vom 23. September 2014 ließ das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Beschwerdeführers nicht zu.

29. Am 24. Oktober 2014 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde, mit derer eine Verletzung seiner Informationsfreiheit rügte und sich auf Artikel 10 der Konvention berief. Das Verfahren ist derzeit noch anhängig.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

30. § 5 des Pressegesetzes des Landes Brandenburg bestimmt Folgendes:

„§ 5 Informationsanspruch der Presse

(1) Die Behörden sind verpflichtet, den Vertreterinnen oder den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe dienenden Auskünfte zu erteilen.

(2) Auskünfte können verweigert werden, wenn und insoweit

1. durch sie die sachgemäße Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt oder gefährdet werden könnte,

2. Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen,

3. ein überwiegendes öffentliches oder schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde,

4. ihr Umfang das zumutbare Maß überschreitet.

(…) »

31. § 29 des Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes lautet wie folgt:

„§ 29 Zweckbindung

(1) Nach den §§ 19 bis 23, 25 und 27 übermittelte personenbezogene Informationen dürfen nur für die Zwecke verarbeitet und genutzt werden, für die sie übermittelt worden sind. Für andere Zwecke dürfen sie nur verarbeitet oder genutzt werden, soweit die Voraussetzungen der §§ 20 bis 23 und 25 vorliegen.

(2) Sollen personenbezogene Informationen über Betroffene oder Dritte nach Absatz 1 Satz 2 für einen anderen Zweck verarbeitet oder genutzt werden, ist die Zustimmung des Bundesbeauftragten erforderlich.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend für personenbezogene Informationen in den Unterlagen, die nach § 8 Abs. 2 bei öffentlichen Stellen verbleiben.“

32. Die §§ 20 bis 23 und 25 des Gesetzes beziehen sich nicht auf Auskunftsersuchen der Presse.

RÜGE

33. Unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention und das Recht auf Zugang zu Informationen rügt der Beschwerdeführer, dass die innerstaatlichen Gerichte das Justizministerium des Landes Brandenburg nicht verpflichtet haben, die Identität der Richter und des Staatsanwalts zu offenbaren, die Kontakte zum Staatssicherheitsministerium unterhalten hatten, und dass er infolgedessen als Journalist seine Funktion als „Wachhund“, die der Presse zukommt, nicht erfüllen konnte.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

34. Der Beschwerdeführer behauptet, die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte hätten sein in Artikel 10 der Konvention verankertes Recht auf Zugang zu Informationen missachtet, der wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“

35. In ihren Schriftsätzen erhebt die Regierung eine Einrede der Unzulässigkeit der Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs. Sie legt dar, dass der Beschwerdeführer, ohne den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hiervon unterrichtet zu haben, ab dem 15. August 2011 das Verwaltungsgericht Potsdam in der Hauptsache angerufen hatte, und dass das Verfahren zur Zeit immer noch vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs könne dieser aber in einer Rechtssache nicht entscheiden, solange das damit verbundene Verfahren noch vor den innerstaatlichen Gerichten anhängig sei. Dieser Rechtsbehelf müsse außerdem als effektiv erachtet werden, weil die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zur Entscheidung angenommen hatte, keineswegs die Aussichten auf Erfolg des Rechtsbehelfs in der Hauptsache berühre.

36. Der Beschwerdeführer widerspricht dieser These. Er behauptet, dass er den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft habe, indem er sich im Wesentlichen auf die im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Rügen beruft, die dem Gerichtshof unterbreitet wurden. Dieser Rechtsweg sei angemessen und ausreichend gewesen, insoweit er dem innerstaatlichen Gericht gestatte, der Situation abzuhelfen. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht seine Beschwerde selbst nicht wegen Nichterschöpfung abgewiesen, obgleich er das Verfahren in der Hauptsache bereits angestrengt hatte, womit es infolgedessen den eigenständigen Charakter des Anordnungsverfahrens anerkannt habe. Für den Beschwerdeführer sei es in der Sache unerlässlich, die erbetenen Auskünfte im Rahmen einer Debatte von öffentlichem Interesse, deren Aktualität nicht zu bestreiten war, rasch zu erhalten. Der bevorstehende Ruhestand der betroffenen Richter und Staatsanwälte rechtfertige es, dass präzise Auskünfte über deren Identität unverzüglich erlangt werden, weil diese Informationen ansonsten einen Großteil ihres Wertes verlieren würden. Schließlich habe der Gerichtshof früher bereits festgestellt, dass ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren ein wirksamer und ausreichender Rechtsweg ist (Rechtssache RTBF ./. Belgien, Nr. 50084/06, Rdnr. 89, CEDH 2011, bei der es ebenfalls um die Rechte der Presse geht). Somit könne vom Beschwerdeführer nicht verlangt werden, dass er den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwartet.

37. Der Gerichtshof ist zunächst der Ansicht, dass es in diesem Abschnitt des Verfahrens nicht erforderlich ist, die Frage der Anwendbarkeit des Artikels 10 der Konvention zu prüfen, weil die Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs unzulässig ist, wie im Folgenden dargelegt wird.

38. Diesbezüglich ruft er in Erinnerung, dass Artikel 35 darauf abzielt, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, die gegen sie vorgebrachten Verletzungen zu verhindern oder zu beheben, bevor diese Rügen den Konventionsorganen vorgelegt werden. Die Staaten müssen sich folglich nicht vor einem internationalen Organ für ihre Handlungen verantworten, bevor sie nicht die Möglichkeit hatten, die Situation in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung zu bereinigen. Diese Vorschrift gründet auf der Annahme, die in Artikel 13 der Konvention geregelt ist – und mit der sie große Ähnlichkeiten aufweist -, dass die innerstaatliche Rechtsordnung eine wirksame Beschwerdemöglichkeit für die behauptete Verletzung bietet. Sie stellt somit einen wichtigen Aspekt jenes Grundsatzes dar, wonach der von der Konvention geschaffene Schutzmechanismus im Verhältnis zu den innerstaatlichen Systemen zur Gewährleistung der Menschenrechte einen subsidiären Charakter aufweist. Daher muss die Rüge, die dem Gerichtshof vorgelegt werden soll, zunächst und zumindest in der Sache vor den geeigneten nationalen Gerichten in der nach dem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Form und Frist erhoben werden (siehe insbesondere Selmouni ./. Frankreich [GK], Nr. 25803/94, Rdnr. 74, CEDH 1999 V, nebst Weiterentwicklung dieser Grundsätze in der Rechtssache Vučković u.a. ./. Serbien [GK], Nr. 17153/11, Rdnrn. 69-77, 25. März 2014).

39. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer nacheinander zwei Rechtsbehelfe eingelegt, indem er die Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht zunächst im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und danach in der Hauptsache anrief.

40. So hatte der Beschwerdeführer am 15. Juli 2011 die innerstaatlichen Gerichte zunächst im Wege eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens angerufen und insbesondere argumentiert, dass er angesichts der kritischen Debatte im Land Brandenburg die Auskünfte über die Identität der betroffenen Richter und des betroffenen Staatsanwalts rasch benötige.

41. Mit einstweiliger Anordnung vom 28. Oktober 2011 gab das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg seiner Beschwerde teilweise statt, indem es das Justizministerium aufforderte, ihm eine Reihe von Auskünften zu erteilen. Es stellte klar, dass es die Sache ausnahmsweise bereits mit einstweiliger Anordnung in der Hauptsache entschieden hatte, weil für die Presse das Erfordernis bestehe, rasch in den Genuss der in Rede stehenden Informationen zu gelangen (Randnummer 21 oben).

42. Am 13. Juni 2012 nahm das Bundesverfassungsgericht die vom Beschwerdeführer im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erhobene Beschwerde ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung an.

43. Am 15. August 2011 leitete der Beschwerdeführer ein Verfahren in der Hauptsache in derselben Angelegenheit vor denselben Verwaltungsgerichten ein, obwohl das einstweilige Rechtsschutzverfahren noch anhängig war und ohne den Gerichtshof hiervon zu unterrichten. Nachdem sein Antrag zurückgewiesen worden war, erhob der Beschwerdeführer am 24. Oktober 2014 ebenfalls eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht und behauptete wie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, dass seine Informationsfreiheit verletzt worden sei und berief sich auf Artikel 10 der Konvention. Das Verfahren ist derzeit noch anhängig.

44. Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Besonderheit dieses Falles darin begründet ist, dass das Oberverwaltungsgericht in der Hauptsache im Wege einer einstweiligen Anordnung entschieden hatte, was häufig auf Fälle zutrifft, die die Rechte der Presse betreffen. Da das Bundesverfassungsgericht im Rahmen dieses Verfahrens auch eine Entscheidung erlassen hatte, konnte zu dem Zeitpunkt, als die Beschwerde vor dem Gerichtshof erhoben wurde, erachtet werden, dass der Beschwerdeführer einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne der Konvention benutzt hatte.

45. Der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshof zufolge ist auch richtig, dass bei der Nutzung eines Rechtsbehelfs das Beschreiten eines anderen Weges, dessen Ziel praktisch identisch ist, nicht erforderlich ist (siehe u.a. Micallef ./. Malta [GK], Nr. 17056/06, Rdnr. 58, CEDH 2009, und Jasinskis ./. Lettland, Nr. 45744/08, Rdnr. 50, 21. Dezember 2010).

46. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer aber selbst entschieden, einen zusätzlichen Rechtsbehelf zu benutzen, indem er die Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht mit einer Beschwerde in der Hauptsache in derselben Angelegenheit wie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren anrief. Insbesondere hat das Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betrieben, obwohl dieses eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erlassen hatte.

47. Dem Gerichtshof zufolge muss dieser Fall demnach von der vom Beschwerdeführer angeführten Rechtssache RTBF ./. Belgien unterschieden werden, bei der es im einstweiligen Rechtsschutzverfahren um ein Ausstrahlungsverbot für eine Fernsehsendung ging, die für einen bestimmten Zeitpunkt vorgesehen war. In dieser Sache hatte die gegnerische Partei und nicht die beschwerdeführende Gesellschaft das Verfahren in der Hauptsache betrieben, um im Genuss des mit einstweiliger Verfügung verhängten Verbots zu bleiben, wobei der Gerichtshof der Auffassung war, dass letztere nicht verpflichtet war, dieses Verfahren zu betreiben, welches unter den gegebenen Umständen keinen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne der Konvention darstellte (RTBF ./. Belgien, a.a.O., Rdnr. 89).

48. In der vorliegenden Sache verhält es sich anders, weil die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts durch den Beschwerdeführer, damit dieses in der Hauptsache die Frage klärt, ob es eine Verletzung seines Auskunftsanspruchs gegeben hat, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne der Konvention darstellt.

49. Der Gerichtshof erinnert hier daran, dass ein Rechtsbehelf, um als wirksam erachtet werden zu können, so beschaffen sein muss, dass er die beanstandete Situation unmittelbar behebt und angemessene Erfolgsaussichten aufweist (Balogh ./. Ungarn, Nr. 47940/99, Rdnr. 30, 20. Juli 2004, und Sejdovic ./. Italien [GK], Nr. 56581/00, Rdnr. 46, CEDH 2006 II).

50. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nimmt aber keineswegs seine Entscheidung in der Hauptsache vorweg, die formal gesehen den Rechtsstreit endgültig beendet.

51. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität, der mit der Vorschrift über die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs einhergeht, kann der Gerichtshof die vorliegende Beschwerde demnach nicht prüfen, die als verfrüht anzusehen ist.

52. Da der Beschwerdeführer übrigens selbst das Bundesverfassungsgericht angerufen hat, damit es in der Hauptsache entscheidet, erscheint es nicht unverhältnismäßig, wenn von ihm verlangt wird, dass er den Ausgang dieses Verfahrens abwartet.

53. Daraus ergibt sich, dass der von der Regierung vorgebrachten Einrede der Unzulässigkeit der Beschwerde stattzugeben ist und dass die Beschwerde unter dem Blickwinkel des Artikels 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Er erklärt die Beschwerde für unzulässig.

Ausgefertigt in Französisch und schriftlich zugestellt am 17. September 2015.

Claudia Westerdiek                            Mark Villiger
Kanzlerin                                            Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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