Die Rechtssache betrifft die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Mordes, die sich insbesondere auf die Aussage eines Mitangeklagten im Ermittlungsverfahren stützte, der vor Gericht von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Die Polizei belehrte die Beschuldigten vor der Vernehmung nicht über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers.
EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
VIERTE SEKTION
RECHTSSACHE S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 57818/18)
URTEIL
STRASSBURG
2. Mai 2023
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache S. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Vierte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Präsidentin,
Tim Eicke,
Faris Vehabović,
Branko Lubarda,
Armen Harutyunyan,
Anja Seibert-Fohr und
Ana Maria Guerra Martins,
sowie Ilse Freiwirth, Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf
die Individualbeschwerde (Nr. 57818/18) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr S. („der Beschwerdeführer“) am 28. November 2018 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat,
die Entscheidung, die Beschwerde der deutschen Regierung („die Regierung“) zur Kenntnis zu bringen,
die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers,
die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer, die von der Vizepräsidentin der Sektion zur Beteiligung ermächtigt wurde,
nach nicht öffentlicher Beratung am 11. April 2023
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:
EINLEITUNG
1. Die Rechtssache betrifft die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Mordes, die sich insbesondere auf die Aussage eines Mitangeklagten im Ermittlungsverfahren stützte, der vor Gericht von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Die Polizei belehrte die Beschuldigten vor der Vernehmung nicht über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers. Die Rechtssache wirf Fragen nach Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstabe d der Konvention auf.
GEGENSTAND DER RECHTSSACHE
2. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt T. inhaftiert. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn B., Rechtsanwalt in B., vertreten.
3. Die Regierung wurde von einem ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.‑J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
4. Der Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:
I. DAS ERMITTLUNGSVERFAHREN
5. In den frühen Morgenstunden des 14. September 1994 wurde ein deutscher Staatsangehöriger, G., in der Tschechischen Republik getötet. Am selben Tag fand die tschechische Polizei die Leiche in einem Waldgebiet; damals konnte sie nicht identifiziert werden. In Deutschland wurde G. für vermisst erklärt.
6. Vor seinem Tod hatte G. zusammen mit F., der im Oktober 1994 Suizid beging, einen Kleiderladen in E. betrieben. 2012 kontaktierte N., eine ehemalige Freundin von F., die deutsche Polizei. Sie gab an, dass F. ihr vor seinem Tod anvertraut habe, dass er an der Tötung eines Arbeitskollegen in der Tschechischen Republik beteiligt gewesen sei.
7. K. hatte auch in dem Kleiderladen gearbeitet. Am 29. September 2014 wurde er von der Polizei festgenommen. Vor seiner Vernehmung wurde er schriftlich über sein Schweigerecht und sein Recht auf Befragung eines Verteidigers belehrt. Aufgrund der Verwendung eines veralteten Formulars, das eine neuere Gesetzesänderung nicht berücksichtigte, wurde er nicht gemäß § 136 Abs. 1 StPO über sein Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers belehrt (s. Rdnr. 36).
8. Bei seiner Befragung zum Tod von G. gab K. an, er sei Teil einer Gruppe gewesen, die am 13. September 1994 von E. in die Tschechische Republik gefahren sei. Dabei gewesen seien G., S., M.S., V. und der Beschwerdeführer. K. behauptete, er sei bei dem Mord nicht anwesend gewesen, aber die anderen hätten ihm erzählt, dass der Beschwerdeführer G. getötet habe.
9. Am 30. September 2014 wurde der Beschwerdeführer festgenommen. Vor seiner Befragung wurde er auf dieselbe Weise über seine Rechte belehrt wie K. (siehe Rdnr. 7). Der Beschwerdeführer räumte ein, dass er in dem Laden in E. schon gewesen sei, gab aber an, dass er G. nicht kenne und noch nie in der Tschechischen Republik gewesen sei.
10. Am 1. Oktober 2014 wurde S. als Zeuge von der Polizei befragt. Er bestätigte, dass er mit den anderen in der Tschechischen Republik gewesen sei, behauptete aber, keine Kenntnis von Gewalttaten zu haben.
11. Am 9. Oktober 2014 bat K. um eine weitere polizeiliche Vernehmung. Im Beisein seines Anwalts gab er an, er habe gesehen, dass der Beschwerdeführer mit einem Schlagstock auf G. eingeschlagen habe und dessen bewusstlosen Körper in den Kofferraum eines Autos gepackt habe. Erst dann sei er vom Tatort geflohen. K. sagte weiter aus, S. sei bei den Schlägen dabei gewesen.
12. Am selben Tag wurde S. erneut polizeilich vernommen, diesmal als Beschuldigter. Er bestätigte, dass er am Tatort gewesen sei und Schreie gehört habe, den Mord selbst aber nicht gesehen habe. Sein Bruder M.S., der 1995 gestorben sei, habe ihm aber erzählt, dass der Beschwerdeführer G. erschlagen habe.
13. Am 10. Oktober 2014 wurde V. festgenommen. Auf die Frage nach seiner Beteiligung am Tod des G. gab V. an, er sei Zeuge des Mordes gewesen. Seiner Schilderung nach war F. wütend auf G. gewesen, da dieser mit den Einnahmen aus ihrem Laden verschwenderisch umgegangen war. V. gab an, der ursprüngliche Plan sei gewesen, G. Drogen zu verabreichen und ihn irgendwo im Wald auszusetzen, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Am 13. September 1994 hätten sie sich im Laden getroffen und jemand habe LSD in G.s Getränk getan. Sie hätten G. erzählt, dass sie zu einer Party fahren würden, und sie seien in zwei Autos losgefahren. Nachdem sie in der Tschechischen Republik angekommen seien, habe G. realisiert, dass man ihm Drogen verabreicht habe, und habe gedroht, sie bei der Polizei anzuzeigen. An diesem Punkt habe der Beschwerdeführer mit der Faust auf G.s Kopf eingeschlagen. Jemand habe den bewusstlosen G. dann in den Kofferraum von S.’ Wagen gelegt und sie seien in ein Waldgebiet gefahren. Als die Autos angehalten hätten, seien der Beschwerdeführer und M.S. aus dem Auto ausgestiegen und zum Kofferraum gegangen. G. sei wieder bei Bewusstsein gewesen und die beiden Männer hätten mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen. V. gab an, er habe dann dem Beschwerdeführer einen Tonfa, eine Art Schlagstock mit seitlichem Griff, gegeben. Als G. sich nicht mehr bewegt habe, habe man gemeinsam diskutiert und dann beschlossen, ihn zu verbrennen, um die Beweismittel zu beseitigen. K. sei weggefahren, um Benzin zu kaufen. Er habe dann dem Beschwerdeführer und M.S. dabei geholfen, den Körper aus dem Kofferraum zu heben und ihn drei bis vier Meter von den Autos entfernt auf den Boden zu legen. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie bemerkt, dass G. noch atme. Der Beschwerdeführer habe dann einen großen Stein genommen und ihn auf G.s Kopf geworfen. V. gab an, er habe später, nachdem K. mit dem Benzin zurückgekommen sei, den Tatort verlassen und sich in sein Auto gesetzt. Er habe nicht gesehen, wer den Körper angezündet habe, habe allerdings, als sie losgefahren seien, gesehen, dass G. wie eine brennende Fackel umhergelaufen sei.
14. S. und V. wurden auf die dieselbe Weise über ihre Rechte belehrt wie K. (siehe Rdnr. 7). Nach ihrer Befragung wurden die Beschuldigten dem Ermittlungsrichter vorgeführt, der Haftbefehl gegen sie erließ und ihnen Pflichtverteidiger beiordnete. Vor dem Haftrichter machten die Beschuldigten keine weiteren Angaben.
II. DAS VERFAHREN VOR DEM LANDGERICHT
15. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer, V., K. und S. vor dem Landgericht E. begann am 20. April 2015.
A. Beweisaufnahme durch das Landgericht
16. In der Hauptverhandlung machte der Beschwerdeführer nur zu seinem Drogenkonsum zum Zeitpunkt der fraglichen Tat Angaben. Die übrigen Angeklagten machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Stattdessen hörte das Landgericht die Polizeibeamten als Zeugen an, die im Ermittlungsverfahren die Vernehmungen durchgeführt hatten. Der Beschwerdeführer und die übrigen Angeklagten rügten, dass diese Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren als Beweismittel zugelassen wurden.
17. Das Gericht vernahm auch N., die frühere Freundin von F. (siehe Rdnr. 6). Sie wiederholte, was F. ihr über die Tötung erzählt habe, nämlich dass das Opfer unter Drogen gesetzt, erschlagen, angezündet und dann in einem Wald in der Tschechischen Republik verbrannt worden sei.
18. Darüber hinaus hörte das Gericht auch L. als Zeugen an, der für F. und G. in deren Laden in E. gearbeitet hatte. L. gab an, dass er an einem Tag im September 1994 im Laden gewesen sei und K. dort auf ihn zugekommen sei. Sie seien in einen separaten Raum gegangen, in dem mehrere Personen gesessen hätten, darunter der Beschwerdeführer. K. habe dann erzählt, dass sie G. getötet hätten. Der Beschwerdeführer habe sich dann damit gebrüstet, dass er „das Finale gesetzt“ habe, dass G. „wie ein Schwein gequiekt“ habe und dass er mit dem Knüppel immer wieder auf ihn eingeschlagen habe, bis Ruhe gewesen sei. K. habe hinzugefügt, dass sie G. dann angezündet hätten.
19. Im Zusammenhang mit dieser Aussage hörte das Gericht auch den Zeugen B. an, der dem Gericht von einem Treffen berichtete, dass zwischen ihm und L. ungefähr im Jahr 2002 stattgefunden habe. L. habe ihm damals von dem Gespräch erzählt, dass er mit K. und dem Beschwerdeführer über den Tod von G. geführt habe, ihn aber gebeten, niemandem sonst etwas davon zu sagen. B. gab an, dass L. den Beschwerdeführer als treibende Kraft bei der Tötung beschrieben habe.
20. Darüber hinaus hörte das Gericht die tschechischen Polizisten an, die die Leiche 1994 entdeckt hatten (siehe Rdnr. 5). Die Polizisten sagten insbesondere aus, dass in der Nähe der Leiche zwei große Steine gelegen hätten, auf denen sich Blutanhaftungen befunden hätten. Das Gericht hörte auch eine forensische Sachverständige an, die den Tatort untersucht hatte. Die Sachverständige hielt die Frakturen am Schädel des Opfers für vereinbar mit den von V. beschriebenen Schlägen mit einem Tonfa (siehe Rdnr. 13) und schilderte die Verbrennungen des Opfers. Hinsichtlich der Todesursache hörte das Gericht die Pathologin, welche die Autopsie durchgeführt hatte, sowie eine weitere medizinische Sachverständige an. Die Sachverständigen waren übereinstimmend der Auffassung, dass es unmöglich oder zumindest höchst unwahrscheinlich sei, dass G., wie V. es in seiner Aussage beschrieben habe (siehe Rdnr. 13 in fine), nach dem Anzünden noch aufgestanden und umhergelaufen sei.
21. Am 24. August 2015 stellte S. einen Antrag auf Erstellung eines Sachverständigengutachtens über die Glaubwürdigkeit von V.s Aussage im Ermittlungsverfahren; der Beschwerdeführer schloss sich diesem Antrag an. Sie brachten vor, dass V. sich damit einverstanden erklärt habe, mit einem Psychologen zu sprechen. Die Angeklagten betonten, V.s Aussage sei offensichtlich teilweise unwahr. Insbesondere hätten die Sachverständigen die Möglichkeit ausgeschlossen, dass G. sich noch bewegt habe, nachdem er angezündet worden sei. Darüber hinaus habe V. angegeben, dass er den anderen dabei geholfen habe, G. aus dem Kofferraum zu heben, und dass sie ihn nur 3 bis 4 Meter weit getragen hätten, bevor sie ihn auf den Boden gelegt hätten. Jedoch gehe aus den Aussagen der tschechischen Polizisten und den Tatortfotos hervor, dass die Entfernung zwischen den Autos und dem Fundort der Leiche viel größer gewesen sei.
22. Am 30. September 2015 wies das Gericht den Antrag ab. Es war der Auffassung, dass die Würdigung der Aussagen eines Zeugen oder Angeklagten Aufgabe des Tatrichters sei. Ein Sachverständigengutachten sei nur unter besonderen Umständen erforderlich, z. B. wenn die betreffende Person minderjährig sei oder starke psychopathologische Einschränkungen bei ihr vorlägen, was beides auf V. nicht zutreffe.
B. Das Urteil des Landgerichts
23. Am 2. Juni 2016 sprach das Gericht K. und den Beschwerdeführer des Mordes und der Freiheitsberaubung mit Todesfolge schuldig. V. wurde des Mordes schuldig gesprochen und S. wurde freigesprochen. Der Beschwerdeführer wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
24. Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt zum Kern des Tatgeschehens entsprach im Wesentlichen den Angaben, die V. bei seiner polizeilichen Vernehmung gemacht hatte (siehe Rdnr. 13). In seiner Entscheidung gab das Gericht an, seine Feststellungen beruhten auf der Gesamtwürdigung aller erhobenen Beweise, einschließlich der Aussagen der vier Angeklagten aus dem Ermittlungsverfahren, insbesondere der Aussage von V., der Aussagen der in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, insbesondere der Aussagen von L. und N. (siehe Rdnrn. 17 und 18), den am Tatort gefundenen Beweismitteln und den Aussagen der Sachverständigen (siehe Rdnr. 20). Hinsichtlich der Aussage des Beschwerdeführers (siehe Rdnr. 9) war das Gericht in Anbetracht der ihm vorliegenden Beweise der Auffassung, dass sein Leugnen seine Tatbeteiligung nicht in Frage stellen könne.
25. Das Gericht begründete detailliert, warum es der Auffassung war, dass V.s Aussage im Ermittlungsverfahren glaubhaft sei. Es merkte zunächst an, dass die Angaben in weiten Teilen mit den Angaben übereinstimmten, die K. bei seiner polizeilichen Vernehmung (siehe Rdnrn. 8 und 11) gemacht habe. Die beiden Angeklagten hätten die Fahrt in die Tschechische Republik ganz ähnlich geschildert, und beide hätten beschrieben, dass der Beschwerdeführer G. mit einer Art Schlagstock geschlagen habe. Das Gericht war weiterhin der Auffassung, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass V. und K. sich in irgendeiner Weise abgesprochen hätten. Beiden hätten von den Ermittlungen wegen des Todes von G. nichts gewusst und seien laut den Polizeibeamten sehr überrascht gewesen, als sie damit konfrontiert worden seien.
26. Außerdem sei V.s Schilderung des Todes von G. von den Feststellungen der Pathologin bestätigt worden. Diesbezüglich merkte das Gericht an, dass V. detaillierte Angaben gemacht habe, die nahelegten, dass er bei der Tat anwesend gewesen sei. Schließlich führte das Gericht an, dass V. bei seiner polizeilichen Befragung zwar offenbar geglaubt habe, für G.s Tod strafrechtlich nicht verantwortlich zu sein, es aber dennoch sehr unwahrscheinlich sei, dass er eine Falschaussage gemacht haben würde, mit der er sich selbst schwer belaste.
27. Hinsichtlich der angeblichen Unrichtigkeiten in V.s Aussage war das Gericht der Auffassung, dass diese seine Aussage insgesamt nicht in Zweifel ziehen könnten. In Anbetracht der Aussagen der medizinischen Sachverständigen (siehe Rdnr. 20 in fine) hielt es auch das Gericht für höchst unwahrscheinlich, dass V. gesehen habe, dass G., nachdem er angezündet worden sei, umhergelaufen sei. Das Gericht hielt es jedoch durchaus für möglich, dass V. tatsächlich geglaubt habe, gesehen zu haben, dass G. in Flammen stand. Die in Rede stehende Wahrnehmung sei in der Nacht aus einem fahrenden Fahrzeug heraus gemacht worden. Unter diesen Umständen habe V. die aus dem brennenden Benzin stammenden Flammen leicht für eine menschliche Gestalt halten können. Darüber hinaus gelangte das Gericht im Hinblick auf die Distanz zwischen der Leiche und dem Ort, an dem die Autos geparkt waren (siehe Rdnr. 21 in fine), aufgrund der Spuren auf dem Boden zu dem Schluss, dass G. zunächst in der Nähe der Autos abgelegt worden und dort der erste Stein auf seinen Kopf geworfen worden sei. Dem verletzten G. sei es dann gelungen, aufzustehen und zu fliehen, dann aber habe einer der Angreifer ihn mit einem anderen Stein getroffen und G. sei ein kleines Stück entfernt wieder zu Boden gegangen.
28. Im Hinblick auf das Gewicht, das V.s Aussage beizumessen sei, war das Landgericht der Auffassung, dass berücksichtigt werden müsse, dass die Angeklagten in der Hauptverhandlung von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatten (siehe Rdnr. 16) und dass von den polizeilichen Vernehmungen keine Video- oder Audioaufnahmen existierten.
29. Das Landgericht maß darüber hinaus den Angaben von N. und L. (siehe Rdnrn. 17 und 18) Bedeutung zu. Es stellte fest, dass V.s Angaben zum Tatgeschehen teilweise durch L.s Angaben zu dem Gespräch, das L. im September 1994 mit K. und dem Beschwerdeführer geführt habe, bestätigt würden. Die Einzelheiten der Tötung, die L. habe angeben können, und seine Aussage, dass diese in der Tschechischen Republik stattgefunden habe und dass G. totgeschlagen worden sei, stimmten mit V.s Aussage überein. Die Glaubhaftigkeit von L.s Angaben sei darüber hinaus von B. gestützt worden (siehe Rdnr. 19), dem L. über dieses Gespräch berichtet habe. Wieder war das Gericht der Auffassung, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass einer der beiden Zeugen absichtlich falsche Angaben gemacht habe.
30. Nach Auffassung des Gerichts führte die Tatsache, dass die Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht belehrt worden waren (siehe Rdnrn. 7, 9 und 14), nicht zu einem Verbot der Verwertung ihrer Aussagen. Das Gericht stellte fest, dass aufgrund der Schwere der Straftat ein sehr großes Interesse des Staates an der strafrechtlichen Verfolgung der Beschuldigten bestanden habe. Darüber hinaus habe es sich bei dem Versäumnis, die Beschuldigten über dieses Recht zu belehren, nicht um Absicht gehandelt, sondern vielmehr um ein Versehen der Polizeibeamten. Außerdem merkte das Gericht an, dass V. nach den Angaben der Polizeibeamten während seiner Vernehmung selbst betont habe, er wolle ohne Anwalt aussagen. Das Gericht war der Auffassung, dass V. die potenziellen Folgen einer Aussage ohne Anwesenheit eines Verteidigers bewusst gewesen seien, da er vor seiner Festnahme im Jahr 2014 wegen verschiedener Delikte bereits mehrmals von der Polizei festgenommen und befragt worden sei.
31. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass ihm genügend Beweise für eine Verurteilung vorlägen, obwohl weder die Anklage noch der Beschwerdeführer die Angeklagten zu ihren Aussagen im Ermittlungsverfahren hätten befragen können.
III. DAS VERFAHREN VOR DEM BUNDESGERICHTSHOF
32. Am 3. Juni 2016 legte der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Landgerichts Revision ein. Er rügte insbesondere, dass das Landgericht seine Verurteilung vorwiegend auf die Aussagen gestützt habe, die seine Mitangeklagten, die er zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens habe befragen können, im Ermittlungsverfahren gemacht hätten. Er räumte zwar ein, dass es nicht dem Landgericht zuzurechnen sei, dass sich die anderen Angeklagten auf ihr Schweigerecht berufen hätten, war jedoch der Auffassung, dass es, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass das Gericht seinen Antrag abgelehnt habe, V. psychologisch begutachten zu lassen (siehe Rdnr. 21), keine ausreichenden ausgleichenden Faktoren gegeben habe. Außerdem brachte er vor, dass das Versäumnis, ihn und die weiteren Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren, ihre Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren unverwertbar mache.
33. Am 6. Februar 2018 wurde die Revision vom Bundesgerichtshof verworfen. Hinsichtlich des Arguments, die Beschuldigten seien über ihre Rechte nicht ordnungsgemäß belehrt worden, wiederholte das Gericht, dass der Staat aufgrund der Schwere der Tatvorwürfe ein sehr großes Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung der Beschuldigten habe und der Fehler unabsichtlich erfolgt sei. Schließlich stellte das Gericht fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Angeklagten mangels wirtschaftlicher Mittel keinen Rechtsbeistand erhalten hätten.
IV. DAS VERFAHREN VOR DEM BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
34. Am 28. Mai 2018 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht; er stützte sich dabei im Wesentlichen auf dieselben Argumente wie vor dem Bundesgerichtshof (siehe Rdnr. 32).
35. Am 26. Juni 2018 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
DER EINSCHLÄGIGE RECHTLICHE RAHMEN
I. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
36. § 136 Abs. 1 StPO in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sah vor, dass der Beschuldigte bei Beginn der ersten Vernehmung über sein Recht, nicht auszusagen und einen Verteidiger zu befragen, zu belehren war. Darüber hinaus war der Beschuldigte darüber zu belehren, dass er unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere im Falle des Vorwurfs der Begehung einer mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bedrohten Straftat, die Bestellung eines Pflichtverteidigers verlangen könne. § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO war mit Wirkung vom 6. Juli 2013 geändert worden, um diese Verpflichtung einzubeziehen und so die Richtlinie 2012/13/EU umzusetzen (siehe Rdnr. 39). Nach deutschem Recht ist bei einer Verurteilung wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe vorgeschrieben.
37. Gemäß § 168c Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten und dem Verteidiger die Anwesenheit bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen vor der Eröffnung des Hauptverfahrens gestattet. Nach der innerstaatlichen Rechtsprechung gilt dies nicht für die Vernehmung eines Mitbeschuldigten im Ermittlungsverfahren.
38. Zur maßgeblichen Zeit sah die Strafprozessordnung keine Aufzeichnungen polizeilicher Vernehmungen von Beschuldigten vor. Am 1. Januar 2020 wurde § 136 Abs. 4 StPO dahingehend geändert, dass Aufzeichnungen ermöglicht wurden. Seither ist eine Videoaufzeichnung der Vernehmung vorgeschrieben, wenn einer Person eine vorsätzliche Tötung zur Last gelegt wird.
II. DAS EINSCHLÄGIGE EU-RECHT
39. Artikel 3 der Richtlinie 2021/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren lautet, soweit einschlägig, wie folgt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:
[…]
b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;
[…]“
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION
40. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstabe d der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren unfair gewesen sei. Er rügte insbesondere, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, seine Mitangeklagten zu befragen. Unter Bezugnahme auf Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügte er darüber hinaus, dass keiner der Beschuldigten vor der polizeilichen Vernehmung über sein Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers belehrt worden sei.
41. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe Radomilja u. a. ./. Kroatien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 37685/10 und 22768/12, Rdnrn. 114, 124 und 126, 20. März 2018), wird die Rügen lediglich nach Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstabe d der Konvention prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.
[…]
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
[…]
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
[…]“
A. Zulässigkeit
42. Die Regierung trug vor, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die fehlende Möglichkeit, seine Mitangeklagten zu befragen, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft habe, da er diese Rüge vor den innerstaatlichen Gerichten nicht ordnungsgemäß geltend gemacht habe. Die Regierung verwies darauf, dass der Beschwerdeführer in den Rechtsbehelfsverfahren angegeben habe, dass dieser Mangel nicht dem Landgericht anzulasten sei (siehe Rdnr. 32), wohingegen er in seiner Rüge vor dem Gerichtshof vorgebracht habe, dass die fehlende Möglichkeit, seine Mitangeklagten zu befragen, der Justiz anzulasten sei.
43. Der Beschwerdeführer erwiderte, dass er niemals behauptet habe, dass die Justiz die Schuld daran trage, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, die Richtigkeit der Aussagen seiner Mitangeklagten anzufechten.
44. Die allgemeinen Grundsätze betreffend die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe sind in Vučković u. a. ./. Serbien ([GK] (prozessuale Einrede), Individualbeschwerden Nrn. 17153/11 und 29 weitere, Rdnrn. 69‑77, 25. März 2014) zusammengefasst. Der Gerichtshof weist insbesondere erneut darauf hin, dass es Zweck des Artikels 35 Abs. 1 der Konvention ist, den Konventionsstaaten Gelegenheit zu geben, Verstöße gegen die Konvention zu verhindern oder ihnen abzuhelfen, bevor der Gerichtshof mit ihnen befasst wird (siehe u. a. Selmouni ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25803/94, Rdnr. 74, ECHR 1999-V).
45. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer die fehlende Möglichkeit der Befragung seiner Mitangeklagten und das Fehlen ausreichender ausgleichender Faktoren innerstaatlich in allen Instanzen gerügt hat (siehe Rdnrn. 16, 32 und 34). Dadurch gab er dem Staat, unabhängig von der Frage, ob die Unmöglichkeit, die Mitangeklagten zu befragen, den innerstaatlichen Behörden anzulasten war, Gelegenheit, der behaupteten Verletzung abzuhelfen. Folglich stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe, wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich, erschöpft hat, und weist die diesbezügliche Einwendung der Regierung zurück.
46. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass die Rügen des Beschwerdeführers weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen in Artikel 35 der Konvention aufgeführten Gründen unzulässig sind. Folglich sind sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Stellungnahmen der Parteien
(a) Fehlende Möglichkeit, die Richtigkeit der Aussagen der Mitangeklagten des Beschwerdeführers anzufechten
(i) Der Beschwerdeführer
47. Der Beschwerdeführer rügte, dass er weder vor Gericht noch im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit gehabt habe, seine Mitangeklagten V., K. und S. konfrontativ zu befragen. Darüber hinaus sei M.S.’ Tatschilderung durch seinen Bruder, S., der sie in seiner zweiten polizeilichen Vernehmung erwähnt habe, wiedergegeben worden (siehe Rdnr. 12).
48. Der Beschwerdeführer räumte ein, dass V., K. und S. ein Schweigerecht gehabt hätten und ihre im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen von den Polizisten, welche die Vernehmungen durchgeführt hätten, in die Hauptverhandlung hätten eingebracht werden können.
49. Was die Bedeutung der Aussagen angeht, brachte der Beschwerdeführer vor, dass V.s Aussage bei der Polizei (siehe Rdnr. 13) für seine Verurteilung entscheidend gewesen sei. Hinsichtlich der Zeugen N. und L. (siehe Rdnrn. 17 und 18) betonte er, es handele sich bei ihren Aussagen um Hörensagen.
50. Schließlich machte er geltend, dass es für die Beeinträchtigungen, denen die Verteidigung infolge der Zulassung der Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren ausgesetzt gewesen sei, keine ausreichenden kompensierenden Faktoren gegeben habe. Insbesondere habe das Gericht seinen Antrag, V. psychologisch begutachten zu lassen, abgewiesen (siehe Rdnr. 21). Seiner Ansicht nach hätte eine solche Begutachtung ihm ermöglicht, die Richtigkeit von V.s Aussage über einen gerichtlich bestellten Sachverständigen anfechten zu lassen, was ein wichtiger kompensierender Faktor gewesen wäre.
(ii) Die Regierung
51. Die Regierung trug vor, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Befragung von Zeugen nicht verletzt worden sei.
52. Nach Auffassung der Regierung lag ein guter Grund dafür vor, dass der Beschwerdeführer seine Mitangeklagten nicht befragen konnte, und die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen folglich verwertet wurden. Die Angeklagten hätten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht und es sei dem Landgericht somit nicht möglich gewesen, dem Beschwerdeführer deren Befragung zu ermöglichen.
53. Die Regierung trug weiter vor, dass die Aussagen seiner Mitangeklagten nicht die alleinige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers gewesen seien. Vielmehr habe das Landgericht seine Entscheidung auf eine umfassende Würdigung der ihm vorliegenden Beweismittel gestützt. Insbesondere habe das Gericht die Aussage des Zeugen L. berücksichtigt, der angegeben habe, der Beschwerdeführer habe die Tat in seiner Anwesenheit gestanden (siehe Rdnr. 18). Darüber hinaus sei V.s Aussage zu den G. zugefügten Verletzungen durch die am Tatort gefundenen Beweismittel und die Aussagen der medizinischen Sachverständigen bestätigt worden (siehe Rdnr. 20).
54. Schließlich brachte die Regierung vor, dass, auch wenn man annehme, die Verurteilung beruhe in entscheidendem Maße auf den nicht konfrontierten Aussagen, ausreichende kompensierende Faktoren vorhanden gewesen seien. Das Gericht habe die eingehende Prüfung der Aussagen von V. und K. im Ermittlungsverfahren mit der erforderlichen Sorgfalt vorgenommen. Darüber hinaus sei dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben worden, seine eigene Version der Geschehnisse darzustellen.
55. Hinsichtlich des Antrags, ein psychologisches Gutachten zur Überprüfung von V.s Aussage im Ermittlungsverfahren einzuholen (siehe Rdnr. 21), brachte die Regierung vor, dass ein solches Gutachten weder erforderlich noch angemessen gewesen sei. Wie das Landgericht in seiner ablehnenden Entscheidung über den Antrag festgestellt habe (siehe Rdnr. 22), sei die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen Aufgabe des Tatrichters. Schließlich brachte die Regierung vor, dass eine solche Begutachtung auch kein wirksamer kompensierender Faktor gewesen wäre. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hätte ein Gutachten dem Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit eröffnet, V. zu befragen. Darüber hinaus hätte eine mittelbare Befragung von V. durch den Verteidiger des Beschwerdeführers, bei der der Sachverständige als „Sprachrohr“ fungiert hätte, einen Verstoß gegen das Schweigerecht des Beschwerdeführers dargestellt.
56. Weitere kompensierende Faktoren hätten den innerstaatlichen Behörden nicht zur Verfügung gestanden. Unter Bezugnahme auf Si. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 298881/07, 19. Juli 2012) brachte die Regierung vor, dass weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft Anlass für die Annahme gehabt hätten, dass die Angeklagten später von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen würden. Darüber hinaus lasse das innerstaatliche Recht die Anwesenheit eines Beschuldigten oder seines Verteidigers bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten im Ermittlungsverfahren nicht zu (siehe 37). Außerdem sei die Möglichkeit, Bild- oder der Tonaufnahmen der Vernehmung zu fertigen, im fraglichen Zeitraum im innerstaatlichen Recht nicht vorgesehen gewesen (siehe Rdnr. 38). Daher wäre für eine solche Aufnahme das Einverständnis der anderen Beschuldigten erforderlich gewesen.
(b) Versäumnis, den Beschuldigten über das Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren
(i) Der Beschwerdeführer
57. Der Beschwerdeführer behauptete, dass das Versäumnis der Polizeibeamten, ihn und die anderen Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren, zur Unverwertbarkeit ihrer im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen hätte führen müssen. Er führte an, dass die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen durch die innerstaatlichen Gerichte gegen die Richtlinie 2012/13/EU verstoße (siehe Rdnr. 39). Die Richtlinie habe das Ziel, die Rechte der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren zu stärken, und dieses Ziel könne nur erreicht werden, wenn eine Verletzung ein Beweisverwertungsverbot zur Folge habe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die anderen Beschuldigten, wenn sie ordnungsgemäß über dieses Recht belehrt worden wären, einen Rechtsanwalt hinzugezogen und dann von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hätten. Dieser Verstoß sei perpetuiert worden, als der Ermittlungsrichter, der die Haftbefehle erlassen habe, die Beschuldigten nicht darüber unterrichtet habe, dass ihre zuvor gemachten Aussagen wegen dieses Verstoßes nicht verwertbar seien.
(ii) Die Regierung
58. Die Regierung brachte zunächst vor, dass Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c der Konvention nur dann ein Recht auf Beistand eines Pflichtverteidigers garantiere, wenn dem Beschuldigten die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers fehlten. Da dies auf den vorliegenden Fall nicht zutreffe, habe das Recht der Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers lediglich auf den einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts basiert. Dementsprechend machte die Regierung geltend, dass das Versäumnis, den Beschwerdeführer über dieses Recht zu belehren, nicht gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe.
59. Darüber hinaus führe dieser Fehler nicht notwendigerweise zu einem Verbot der Verwertung der Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren. Die Regierung nahm u. a. auf Allan ./. Vereinigtes Königreich (Individualbeschwerde Nr. 48539/99, Rdnr. 42, 5. November 2002) Bezug und führte an, dass Artikel 6 der Konvention selbst keine Regeln zur Zulässigkeit von Beweismitteln enthalte, weshalb diese Frage in erster Linie nach innerstaatlichem Recht zu regeln sei. Die Frage, die der Gerichtshof zu beantworten habe, sei die, ob das Verfahren, einschließlich der Art und Weise der Beweisaufnahme, insgesamt fair gewesen sei.
60. Die Regierung brachte weiter vor, dass die innerstaatlichen Gerichte eine angemessene Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen hätten. Die Gerichte hätten zutreffend festgestellt, dass der Belehrung über das Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dieselbe Bedeutung zukomme wie der Belehrung über das Recht, Zugang zu einem Verteidiger zu erhalten. Zwar sei die Pflicht, einen Beschuldigten über sein Recht auf Inanspruchnahme eines Verteidigers zu belehren, in verschiedenen völkerrechtlichen Instrumenten vorgesehen, eine Pflicht zur Belehrung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers sei jedoch wesentlich weniger verbreitet.
61. Die Regierung betonte, dass keine Anhaltspunkte für eine besondere Verletzlichkeit der Beschuldigten vorgelegen hätten, und diese keinem Druck, eine Aussage zu machen, ausgesetzt gewesen seien. Darüber hinaus seien gegen die Angeklagten, insbesondere gegen V., auch schon zuvor Strafverfahren geführt worden, weshalb ihnen die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers bekannt gewesen sei.
62. Schließlich betonte die Regierung, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeibeamten die Belehrung der Beschuldigten absichtlich unterlassen hätten. Zwar seien die neuen Bestimmungen zum Zeitpunkt der Vernehmungen bereits mehrere Monate in Kraft gewesen (siehe Rdnr. 36), jedoch bestehe immer die Gefahr, dass veraltete Formulare noch einige Zeit nach einer Gesetzesänderung verwendet würden (siehe Rdnr. 7).
2. Vorbringen der Drittbeteiligten
63. Die Bundesrechtsanwaltskammer brachte vor, dass die Inanspruchnahme des Schweigerechts durch einen Mitangeklagten nicht als guter Grund dafür angesehen werden könne, eine nicht konfrontierte Aussage aus dem Ermittlungsverfahren als Beweismittel zuzulassen.
64. Im Hinblick auf kompensierende Faktoren war sie der Auffassung, dass der Verteidigung des Beschwerdeführers hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, die Mitbeschuldigten in der Ermittlungsphase des Verfahrens zu befragen. Darüber hinaus brachte sie vor, dass dem Beschwerdeführer wenigstens die Möglichkeit hätte gegeben werden müssen, die Glaubhaftigkeit der Aussagen seiner Mitangeklagten von einem Psychologen beurteilen zu lassen.
65. Schließlich war die Bundesrechtsanwaltskammer der Auffassung, dass es gegen Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c der Konvention verstoßen habe, die Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren als Beweismittel zuzulassen, obwohl die Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht belehrt worden seien. Diesbezüglich wies sie darauf hin, dass die Unterlassung einer gesetzlich erforderlichen Verteidigerbestellung nach innerstaatlichem Recht einen Revisionsgrund darstelle. Im Ermittlungsverfahren existiere jedoch kein ähnlicher Schutzmechanismus; dort werde das Fehlen eines Verteidigers lediglich bei der Beurteilung der Fairness des Verfahrens insgesamt berücksichtigt.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
66. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Rügen des Beschwerdeführers verschiedene, allerdings miteinander zusammenhängende Probleme betreffen, nämlich den Umstand, dass der Beschwerdeführer die anderen Angeklagten nicht befragen konnte, und den Umstand, dass die Polizei die Beschuldigten vor ihrer Vernehmung nicht ordnungsgemäß über ihre Rechte belehrt hatte. Rügt ein Beschwerdeführer mehrere prozessuale Mängel, kann der Gerichtshof die der Beschwerde zugrunde liegenden Gründe nacheinander prüfen, um festzustellen, ob das Verfahrens, als Ganzes betrachtet, fair war (siehe Blokhin ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 47152/06, Rdnr. 194, 23. März 2016, und Tuskia u. a. ./. Georgien, Individualbeschwerde Nr. 14237/07, Rdnr. 98, 11. Oktober 2018).
67. Der Gerichtshof wird in der vorliegenden Rechtssache auf diese Weise vorgehen und seine Analyse mit der angeblichen Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Befragung seiner Mitangeklagten beginnen. Dann wird er sich der Frage zuwenden, ob das Versäumnis, den Beschwerdeführer und die übrigen Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren, einer Verletzung von Artikel 6 gleichkommt.
(a) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Mitangeklagten nicht befragen konnte
(i) Allgemeine Grundsätze
68. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Garantien in Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d besondere Aspekte des in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren sind, die bei jeder Einschätzung der Fairness eines Verfahrens in Betracht zu ziehen sind. Zudem hat der Gerichtshof im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 in erster Linie zu prüfen, ob das Strafverfahren insgesamt fair war (siehe u. a. Sch. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 9154/10, Rdnr. 101, ECHR 2015, und Taxquet ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 926/05, Rdnr. 84, ECHR 2010, mit weiteren Nachweisen). Dabei wird der Gerichtshof das Verfahren in seiner Gesamtheit betrachten und dabei die Rechte der Verteidigung, aber auch die Interessen der Allgemeinheit und der Opfer an einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung (siehe G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 175, ECHR 2010) und gegebenenfalls die Rechte der Zeugen berücksichtigen (siehe u. v. a. Al-Khawaja und Tahery ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011). In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln durch innerstaatliches Recht zu regeln und Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, und dass die Aufgabe des Gerichtshofs allein darin besteht, zu prüfen, ob das Verfahren fair geführt wurde (siehe G., a. a. O., Rdnr. 162, und die darin zitierten Rechtssachen).
69. In Al-Khawaja und Tahery (a. a. O., Rdnrn. 119-147) hat die Große Kammer präzisiert, welche Grundsätze zum Tragen kommen, wenn ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht anwesend war. Diese Grundsätze lassen sich wie folgt zusammenfassen (siehe Seton ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 55287/10, Rdnr. 58, 31. März 2016).
(i) Der Gerichtshof soll zunächst die Vorfrage prüfen, ob es einen guten Grund dafür gab, die Aussage eines abwesenden Zeugen zu verwerten, und dabei berücksichtigen, dass Zeugen grundsätzlich in der Hauptverhandlung aussagen und alle angemessenen Anstrengungen unternommen werden sollen, um ihr Erscheinen sicherzustellen.
(ii) Typische Gründe für ein Nichterscheinen sind, wie in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery (a. a. O.), der Tod des Zeugen oder die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen. Es gibt jedoch noch weitere legitime Gründe für das Fernbleiben eines Zeugen von der Hauptverhandlung.
(iii) In Fällen, in denen ein Zeuge in keinem vorherigen Verfahrensstadium vernommen wurde, ist die Zulassung der Zeugenaussage anstelle einer unmittelbaren Aussage in der Hauptverhandlung nur als letztes Mittel zulässig.
(iv) Die Verwertung der Aussagen abwesender Zeugen stellt eine mögliche Benachteiligung des Angeklagten dar, der in einem Strafprozess grundsätzlich eine wirksame Gelegenheit haben sollte, die gegen ihn vorliegenden Beweise anzufechten. Der Angeklagte sollte insbesondere in der Lage sein, die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Aussagen der Zeugen zu überprüfen, indem er sie in seiner Gegenwart befragen lässt, entweder zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium.
(v) Gemäß der „Allein-Oder-Entscheidend-Regel“ werden die Verteidigungsrechte ungebührlich eingeschränkt, wenn die Verurteilung eines Angeklagten allein oder hauptsächlich auf Aussagen von Zeugen gestützt ist, die der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens befragen konnte.
(vi) In diesem Zusammenhang ist das Wort „entscheidend“ eng auszulegen und soll ein Beweismittel bezeichnen, dass von einer solchen Bedeutung oder Wichtigkeit ist, dass es wahrscheinlich ausschlaggebend für den Verfahrensausgang ist. In Fällen, in denen die nicht konfrontierte Aussage eines Zeugen durch andere bestätigende Beweismittel gestützt wird, hängt die Prüfung, ob diese entscheidend ist, von der Beweiskraft der unterstützenden Beweismittel ab: Je stärker die anderen belastenden Beweismittel sind, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass die Aussagen des abwesenden Zeugen als entscheidend behandelt werden.
(vii) Da Artikel 6 Abs. 3 des Übereinkommens jedoch im Kontext einer Gesamtprüfung der Fairness des Verfahrens auszulegen ist, sollte die „Allein-Oder-Entscheidend-Regel“ nicht zu unflexibel angewandt werden.
(viii) Insbesondere ergibt sich, sofern Aussagen von Hörensagen das alleinige oder entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten sind, aus der Zulassung dieser Aussagen nicht ohne Weiteres eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1. Gleichzeitig muss der Gerichtshof, sofern eine Verurteilung allein oder entscheidend auf den Aussagen nicht anwesender Zeugen beruht, das Verfahren mit höchster Sorgfalt prüfen. Angesichts der Gefahren, die die Zulassung solcher Beweismittel birgt, würde diese im Rahmen der gebotenen Abwägung einen sehr gewichtigen Faktor darstellen, der hinreichende ausgleichende Faktoren, einschließlich starker Verfahrensgarantien, erfordern würde. Die Frage ist in jedem Fall, ob hinreichende kompensierende Faktoren gegeben sind, einschließlich Maßnahmen, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Aussagen ermöglichen. Demnach könnte eine Verurteilung nur dann auf solche Aussagen gestützt werden, wenn sie in Anbetracht ihrer Bedeutung für die Rechtssache hinreichend verlässlich sind.
70. Eine weitere Präzisierung dieser Grundsätze erfolgte in der Rechtssache Sch. (a. a. O., Rdnrn. 111-131), in der die Große Kammer bestätigte, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für das Nichterscheinen eines Zeugen nicht automatisch zu einem unfairen Verfahren führt, aber ein gewichtiger Faktor bei der Beurteilung der Gesamtfairness des Verfahrens ist und in diesem Zusammenhang ausschlaggebend für die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstabe d sein kann. Die Große Kammer wies darauf hin, dass die Aufgabe des Gerichtshofs darin besteht, zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt fair war, weshalb er das Vorhandensein hinreichender kompensierender Faktoren nicht nur in Rechtssachen prüfen muss, in denen die Aussage des nicht anwesenden Zeugen die alleinige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers war, sondern auch in Rechtssachen, in denen er es für unklar hält, ob die in Rede stehende Aussage der alleinige oder entscheidende Faktor war, aber dennoch davon überzeugt ist, dass sie beträchtliches Gewicht hatte und ihre Zulassung die Verteidigung beeinträchtigt haben könnte. Wie umfangreich die kompensierenden Faktoren sein müssen, damit ein Verfahren als fair angesehen werden kann, hängt vom Gewicht der Aussage des nicht anwesenden Zeugen ab. Je bedeutender dieses Beweismittel ist, umso gewichtiger müssen die kompensierenden Faktoren sein, damit das Verfahren insgesamt als fair angesehen werden kann.
71. In Sch. (a. a. O., Rdnrn. 125-131) hat der Gerichtshof einige der ausgleichenden Faktoren benannt, welche die der Verteidigung infolge der Verwertung nicht konfrontierter Aussagen in der Hauptverhandlung verursachten Schwierigkeiten möglicherweise kompensieren können. Diese ausgleichenden Faktoren müssen eine faire und korrekte Würdigung der Zuverlässigkeit dieser Beweismittel ermöglichen. Zu diesen Faktoren gehören:
(i) die vorsichtige Prüfung unkonfrontiert gebliebener Aussagen eines abwesenden Zeugen durch die innerstaatlichen Gerichte, unter Berücksichtigung des geringeren Beweiswerts dieser Aussagen, sowie die eingehende Darlegung der Gründe, aus denen die innerstaatlichen Gerichte diese Zeugenaussagen auch unter Berücksichtigung der anderen verfügbaren Beweismittel für zulässig hielten; als weiteres wichtiges Kriterium die den Geschworenen vom Tatgericht erteilten Anweisungen zur Bewertung der Aussage abwesender Zeugen;
(ii) die Vorführung einer Videoaufzeichnung der Befragung des abwesenden Zeugen im Ermittlungsverfahren, um es dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zu ermöglichen, das Verhalten des Zeugen während der Vernehmung zu beobachten und sich eine eigene Meinung über seine Glaubwürdigkeit zu bilden;
(iii) die Beibringung von Beweismitteln in der Hauptverhandlung zur Erhärtung der nicht konfrontierten Aussage, beispielsweise Aussagen von Personen in der Hauptverhandlung, denen der abwesende Zeuge die Ereignisse unmittelbar nach deren Eintritt berichtet hat; weitere Sachbeweise, forensische Beweismittel und Sachverständigengutachten; Ähnlichkeiten mit der Beschreibung der Geschehnisse durch andere Zeugen, insbesondere, wenn diese in der Verhandlung befragt werden;
(iv) die der Verteidigung gebotene Möglichkeit, dem Zeugen indirekt, beispielsweise schriftlich, im Laufe der Verhandlung ihre eigenen Fragen zu stellen;
(v) die dem Beschwerdeführer oder dem Verteidiger gebotene Gelegenheit, den Zeugen im Ermittlungsstadium zu befragen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass es, wenn die Ermittlungsbehörden schon im Ermittlungsstadium zu der Einschätzung gelangt sind, dass ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht angehört werden wird, von wesentlicher Bedeutung ist, der Verteidigung die Gelegenheit zu geben, dem Zeugen während der Vorermittlungen Fragen zu stellen.
(vi) Dem Angeklagten muss die Möglichkeit eingeräumt werden, seine eigene Version des Sachverhalts zu schildern und die Glaubwürdigkeit des abwesenden Zeugen in Zweifel zu ziehen, indem jegliche Nichtübereinstimmung oder jeglicher Widerspruch in Bezug auf die Aussagen anderer Zeugen betont wird. Kennt die Verteidigung die Identität des Zeugen, kann sie die Gründe ermitteln und analysieren, aus denen der Zeuge möglicherweise lügt, und folglich seine Glaubwürdigkeit in seiner Abwesenheit wirksam anzweifeln, wenn auch in geringerem Maß als bei einer unmittelbaren Konfrontation.
72. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Ausdruck „Zeuge“ im Konventionssystem eine „autonome“ Bedeutung hat (siehe Vidal ./. Belgien, 22. April 1992, Rdnr. 33, Serie A Band 235-B). Eine Aussage, die wesentlich als Grundlage für eine Verurteilung dienen könnte, stellt daher, unabhängig davon, ob sie von einem Zeugen im eigentlichen Sinne oder von einem Mitbeschuldigten gemacht wurde, ein Beweismittel dar, auf das die Garantien nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d der Konvention anwendbar sind (siehe Lucà ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Rdnr. 41, ECHR 2001‑II, und Kaste und Mathisen ./. Norwegen, Individualbeschwerden Nrn. 18885/04 und 21166/04, Rdnr. 53, ECHR 2006‑XIII).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
(1) Zur Frage, ob ein triftiger Grund vorlag
73. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass aus Sicht des Tatgerichts ein triftiger Grund für die Abwesenheit eines Zeugen vorliegen muss, das heißt das Gericht muss gute sachliche oder rechtliche Gründe dafür gehabt haben, die Anwesenheit des Zeugen nicht sicherzustellen. Lag in diesem Sinne einen triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen vor, ergibt sich daraus, dass es einen guten Grund oder eine Rechtfertigung dafür gab, dass das Tatgericht die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen des abwesenden Zeugen als Beweismittel zuließ (siehe Sch., a. a. O., Rdnr. 119). Dieselben Grundsätze finden auf Mitangeklagte Anwendung (siehe Vidgen ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 29353/06, Rdnrn. 38-42, 10. Juli 2012). In dieser Hinsicht stellt das Gericht fest, dass die Mitangeklagten V., S. und K. nicht im Sinne von „unerreichbar“ abwesend waren. Vielmehr waren sie während der gesamten Hauptverhandlung anwesend, verweigerten aber die Aussage (siehe Rdnr. 16).
74. In Vidgen (a. a. O., Rdnr. 42) erkannte der Gerichtshof an, dass eine auf das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit gestützte Aussageverweigerung von Mitangeklagten einen triftigen Grund darstellt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von Oddone und Pecci ./. San Marino (Individualbeschwerden Nrn. 26581/17 und 31024/17, Rdnrn. 98‑101, 17. Oktober 2019) und Kuchta ./. Polen (Individualbeschwerde Nr. 58683/08, Rdnrn. 50-53, 23. Januar 2018), in denen die innerstaatlichen Gerichte es versäumten, die Anwesenheit des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Im Ergebnis stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht gute Gründe hatte, die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen von V., K. und S., wie sie von den Polizeibeamten in der Hauptverhandlung wiedergegeben wurden, zu verwerten (siehe Rdnr. 16).
75. In Bezug auf M.S. stellt der Gerichtshof fest, dass er 1995, und somit vor Beginn der Ermittlungen in Deutschland im Jahr 2012, gestorben war (siehe Rdnr. 12). Jedenfalls stützte sich das Landgericht bei seiner Entscheidung nicht auf die Tatschilderung von M.S. M.S. kann daher nicht als „Zeuge“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention angesehen werden (siehe in Rdnr. 72 zitierte Rechtsprechung).
(2) Zur Frage, ob die Aussagen die alleinige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung darstellten
76. Welches Ausmaß die ausgleichenden Faktoren haben müssen, damit ein Verfahren als fair angesehen werden kann, hängt vom Gewicht der Aussage des abwesenden Zeugen ab (siehe Sch., a. a. O., Rdnr. 116). Bei der Bestimmung des Gewichts der Aussage eines abwesenden Zeugen und insbesondere bei der Beurteilung der Frage, ob seine Aussage die alleinige oder entscheidende Grundlage für die Verurteilung eines Beschwerdeführers war, betrachtet der Gerichtshof zunächst die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte. Der Gerichtshof muss nur dann seine eigene Einschätzung des Beweiswerts der Aussage eines abwesenden Zeugen vornehmen, wenn die innerstaatlichen Gerichte ihre diesbezügliche Meinung nicht mitgeteilt haben oder diese nicht klar ist (ebda., Rdnr. 124).
77. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das Landgericht die Aussagen der Mitangeklagten aus dem Ermittlungsverfahren ausdrücklich nicht als alleiniges Beweismittel gegen den Beschwerdeführer ansah (siehe Rdnrn. 24, 26 und 29). Daher ist zu berücksichtigen, ob das Gericht die Aussagen als entscheidend ansah, also als Beweismittel, das nach Bedeutung und Gewicht für die Entscheidung über die Sache ausschlaggebend sein kann (ebda., Rdnr. 123). Zwar betonte das Landgericht die Bedeutung der Aussagen der Mitangeklagten des Beschwerdeführers aus dem Ermittlungsverfahren, insbesondere die von V., nahm jedoch auch eine ziemlich ausführliche Würdigung der übrigen ihm vorliegenden Beweismittel vor, insbesondere der Aussagen von L. und B. in der Hauptverhandlung (siehe Rdnr. 29). Im Ergebnis stellt der Gerichtshof fest, dass die Meinung des Landgerichts in dieser Hinsicht nicht klar war.
78. Bei seiner eigenen Prüfung der Frage, ob die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen für die Verurteilung des Beschwerdeführers entscheidend waren, wird der Gerichtshof die Beweiskraft der stützenden Beweismittel berücksichtigen; je größer die Beweiskraft der stützenden Beweismittel ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass die Aussage des abwesenden Zeugen als entscheidend gilt (siehe Sch., a. a. O., Rdnr. 123). Der Gerichtshof stellt fest, dass dem Landgericht zahlreiche Beweismittel zum Mord selbst vorlagen, nämlich die Aussagen der tschechischen Polizeibeamten und die Aussagen der Sachverständigen zu den G. zugefügten Verletzungen (siehe Rdnr. 20). Zwar brachten diese den Beschwerdeführer nicht direkt mit der Straftat in Verbindung, jedoch konnte sich das Landgericht auch auf die L.s Zeugenaussage in der Hauptverhandlung stützen (siehe Rdnr. 18). Nach Auffassung des Gerichtshofs ist dieser Zeugenaussage erhebliches Gewicht beizumessen. Der Zeuge stütze sich auf ein ihm geschildertes Gespräch zwischen dem Beschwerdeführer und K. und konnte konkrete Angaben zum Tatgeschehen machen, insbesondere zu den G. zugefügten Verletzungen und dem Versuch, G. zu verbrennen. Darüber hinaus wurde L.s Aussage von B. bestätigt, dem L. diese Informationen mehrere Jahre später anvertraut hatte (siehe Rdnr. 19). Schließlich ist festzustellen, dass L. hinsichtlich des Tatgeschehens zwar nur ein Zeuge vom Hörensagen war, das Mordgeständnis des Beschwerdeführers jedoch aus eigenem Erleben bezeugen konnte.
79. Im Hinblick auf das Erfordernis, „entscheidend“ eng auszulegen (siehe Sch., a. a. O., Rdnr. 123), gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die aus den Aussagen der Angeklagten im Ermittlungsverfahren resultierenden Beweise in dem vorliegenden Fall nicht entscheidend waren. Jedoch erkennt der Gerichtshof an, dass die Aussagen zumindest ein erhebliches Gewicht hatten und ihre Zulassung der Verteidigung möglicherweise beträchtliche Schwierigkeiten bereitet hat. Um die Fairness des Verfahrens insgesamt zu prüfen, wird der Gerichtshof daher prüfen, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen (ebda., Rdnr. 116).
(3) Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen
80. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass folgende Aspekte bei der Beurteilung der Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, zu berücksichtigen sind: die Art, in der das Tatgericht mit den nicht konfrontierten Aussagen umgegangen ist, die Zulassung anderer belastender Beweismittel und deren Beweiswert sowie die Verfahrensmaßnahmen, die ergriffen wurden, um die fehlende Gelegenheit, die Zeugen in der Hauptverhandlung konfrontativ zu befragen, zu kompensieren (ebda., Rdnr. 145).
81. Der Gerichtshof möchte zunächst bemerken, dass das Landgericht die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen vorsichtig prüfte. Es wies darauf hin, dass weder das Gericht noch die Verteidigung die Möglichkeit gehabt hätten, die Mitangeklagten, die von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hätten, direkt zu befragen (siehe Rndrn. 31 und 28). Darüber hinaus erkannte das Gericht an, dass von den polizeilichen Vernehmungen keine Video- oder Audioaufnahmen existierten (siehe Rdnr. 28). Bei der Würdigung der Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren begründete das Gericht detailliert, warum es die Aussagen für verlässlich hielt, und bezog sich dabei insbesondere auf das Maß der Übereinstimmung zwischen den Angaben von V. und denen von K. sowie die stützenden Beweismittel vom Tatort (siehe Rdnrn. 25-27; vgl. Przydział ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 15487/08, Rdnr. 57, 24. Mai 2016, und vgl. und im Gegensatz dazu Daştan ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 37272/08, Rdnr. 31, 10. Oktober 2017).
82. Zusätzlich lagen dem Landgericht, wie in Rdnr. 78 ausführlich dargestellt, gewichtige bestätigende Beweismittel für eine Täterschaft des Beschwerdeführers vor.
83. Hinsichtlich der im Ermittlungsverfahren ergriffenen Verfahrensmaßnahmen stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer keine Gelegenheit gegeben worden war, V., K. und S. zu befragen, als diese ihre Aussagen machten. In Sch. (a. a. O., Rdnr. 155) maß der Gerichtshof der Tatsache Bedeutung zu, dass die Strafverfolgungsbehörden für den Beschwerdeführer einen Verteidiger hätten bestellen können, der berechtigt gewesen wäre, bei der Zeugenvernehmung anwesend zu sein (siehe auch H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 26171/07, Rdnr. 48, 19. Juli 2012). V., K. und S. wurden, als sie ihre den Beschwerdeführer belastenden Aussagen machten, jedoch als Beschuldigte vernommen. Ungeachtet der anwaltlichen Vertretung des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der verschiedenen Befragungen war die Anwesenheit eines Beschuldigten oder seines Verteidigers bei der Befragung eines Mitbeschuldigten in der Ermittlungsphase im innerstaatlichen Recht nicht vorgesehen (siehe Rdnr. 37). In dieser Hinsicht weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, zu prüfen, ob das innerstaatliche Recht die Möglichkeit der Befragung eines Mitbeschuldigten im Ermittlungsstadium vorsah oder nicht (siehe Oddone und Pecci, a. a. O., Rdnr. 113).
84. Der Gerichtshof merkt jedenfalls an, dass zur Feststellung, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war, unbedingt geprüft werden muss, ob die Behörden im Zeitpunkt der im Ermittlungsstadium durchgeführten Vernehmung eines Zeugen von der Annahme ausgingen, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden würde (siehe Sch., a. a. O, Rdnr. 157). Folglich kritisierte der Gerichtshof in Oddone und Pecci (a. a. O., Rdnr. 113), dass der Ermittlungsrichter den Antrag des Angeklagten, zwei Zeugen im Ermittlungsstadium konfrontativ zu befragen, abgelehnt hatte, diese aber nicht auf die Liste der Zeugen gesetzt hatte, die in der Hauptverhandlung vernommen werden sollten. Darüber hinaus befand der Gerichtshof in N.K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 59549/12, Rdnr. 60, 26. Juli 2018), dass das Risiko, dass eine mit dem Angeklagten verheiratete Zeugin in der Hauptverhandlung die Aussage verweigern könnte, vorhersehbar gewesen sei. Der Gerichtshof weist jedoch erneut darauf hin, dass die bloße Möglichkeit der Berufung auf die Selbstbelastungsfreiheit für sich genommen noch kein derartiges Risiko begründet (vgl. Si., a. a O., Rdnr. 60). Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht behauptete, es habe Anhaltspunkte dafür gegeben, dass seine Mitbeschuldigten vor Gericht die Aussage verweigern würden.
85. Abschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass von den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren keine Video- oder Audioaufnahmen existieren, da das zur maßgeblichen Zeit geltende innerstaatliche Recht diese Möglichkeit nicht vorsah. Die in Rede stehenden Bestimmungen wurden zum 1. Januar 2020 geändert; seither sind Videoaufzeichnungen von Beschuldigtenvernehmungen erlaubt (siehe Rdnr. 38). Der Gerichtshof begrüßt diese Gesetzesänderung.
86. Hinsichtlich der Verfahrensmaßnahmen im Hauptverfahren stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, seine eigene Version der Geschehnisse vorzutragen und die Polizeibeamten, welche die Beschuldigten vernommen hatten, zu befragen (siehe Rdnr. 16). Außerdem konnte er V.s Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen oder etwaige Gründe dafür anführen, warum dieser ihn falsch beschuldigt haben könnte. Der Beschwerdeführer kritisierte jedoch die Ablehnung seines Antrags, ein psychologisches Gutachten zur Glaubwürdigkeit von V.s Aussage einzuholen (siehe Rdnrn. 21-22).
87. Der Gerichtshof möchte zunächst erneut darauf hinweisen, dass in Fällen, in denen die Verteidigung ein Sachverständigengutachten fordert, die innerstaatlichen Gerichte darüber zu entscheiden haben, ob es erforderlich oder ratsam ist, dieses Beweismittel zur Prüfung in der Hauptverhandlung zu akzeptieren (siehe Khodorkovskiy und Lebedev ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 11082/06 und 13772/05, Rdnr. 718, 25. Juli 2013). Darüber hinaus bedeutet die Tatsache, dass nicht konfrontierte Aussagen als Beweismittel zugelassen wurden, für sich genommen nicht, dass das Tatgericht jeden von dem Angeklagten benannten Zeugen oder Sachverständigen zulassen und befragen muss (vgl. Lobarev u. a. ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 10355/09 und 5 weitere, Rdnr. 44, 28. Januar 2020).
88. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es Aufgabe des Tatgerichts ist, die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen einzuschätzen. Er hat anerkannt, dass in einer Situation, in der der Mitangeklagte in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert hat, die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der in Rede stehenden Aussage ein kompensierender Faktor sein kann. Einem solchen Schutzmechanismus wurde in erster Linie in Fällen Gewicht beigemessen, welche die Aussagen Minderjähriger betrafen (siehe González Nájera ./. Spanien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 61047/13, Rdnr. 53, 11. Februar 2014; D.T. ./. die Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 25307/10, Rdnr. 51, 2. April 2013; und Przydział, a. a. O., Rdnr. 56). Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass ein psychologisches Gutachten zu der Motivation, die der Aussage zugrunde lag, und den psychologischen Umständen, unter der sie erfolgte, auch in Fällen, in denen ein erwachsender Zeuge nicht von dem Angeklagten befragt werden konnte, ein tauglicher kompensierender Faktor sein kann (siehe Si., a. a. O., Rdnr. 65).
89. Das Landgericht wies den Antrag des Beschwerdeführers mit der Begründung ab, es sei grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts, die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage zu beurteilen. Ein psychologisches Gutachten könne jedoch unter bestimmten Umständen aufgrund des Alters oder der mentalen Fähigkeiten des Zeugen erforderlich sein (siehe Rdnr. 22). Wie weiter oben ausgeführt, sieht der Gerichtshof keinen Grund, von dieser Bewertung abzuweichen. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht ausführlich begründete, weshalb es V.s Tatschilderung für glaubhaft erachtete. Es verwies auf das hohe Maß an Übereinstimmung zwischen den Aussagen von V. und K. im Ermittlungsverfahren sowie darauf, dass die Aussagen von den am Tatort gefundenen Beweismitteln gestützt würden, und V. sich mit seiner Aussage selbst belastet habe (siehe Rdnrn. 25-26). Im Hinblick auf diese Faktoren kann sich der Gerichtshof der Einschätzung anschließen, das Landgericht sei in der Lage gewesen, den Beweiswert der Aussagen selbst zu beurteilen.
(4) Schlussfolgerung
90. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen, insbesondere zu den dem Landgericht vorliegenden Beweismitteln, welche die Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren bestätigten, und dessen sorgfältiger Argumentation diesbezüglich, stellt der Gerichtshof fest, dass diese kompensierenden Faktoren eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit der nicht konfrontierten Aussagen ermöglichten.
91. Obwohl der Beschwerdeführer keine Möglichkeit hatte, seine Mitangeklagten zu befragen, stellt der Gerichtshof im Hinblick auf seine Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt fest, dass die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers nicht in einem Maße eingeschränkt waren, das mit den in Artikel 6 der Konvention vorgesehenen Garantien nicht vereinbar wäre. Folglich stellt er fest, dass der Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Mitangeklagten nicht befragen konnte, keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstabe d begründet hat.
(b) Versäumnis, die Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren
(i) Allgemeine Grundsätze
92. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es nach Artikel 19 der Konvention seine Aufgabe ist, sicherzustellen, dass die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen einhalten. Er hat insbesondere nicht die Aufgabe, sich mit Tatsachen- oder Rechtsirrtümern zu befassen, die einem nationalen Gericht unterlaufen sein sollen, soweit die nach der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten hierdurch nicht verletzt sind. Es ist daher nicht Aufgabe des Gerichtshofs, grundsätzlich zu entscheiden, ob bestimmte Arten von Beweismitteln – wie z.B. Beweismittel, die nach innerstaatlichem Recht unrechtmäßig erlangt wurden – zulässig sind. Zu klären ist die Frage, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise erlangt wurden, fair war (siehe J. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 54810/00, Rdnr. 94-95, ECHR 2006-IX, und Allan, a. a. O., Rdnr. 42). In diesem Zusammenhang misst der Gerichtshof auch der Frage Bedeutung bei, ob die fraglichen Beweise für den Ausgang des Verfahrens entscheidend waren oder nicht (siehe G., a. a. O., Rdnr. 164).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
93. Der Gerichtshof möchte zunächst bemerken, dass die Beschuldigten bei ihren anfänglichen Vernehmungen durch die Polizei zwar keine anwaltliche Unterstützung hatten, diesbezüglich jedoch keine Rüge vor dem Gerichtshof erhoben wurde. Vielmehr betraf die Rüge des Beschwerdeführers den Umstand, dass die Polizei weder ihn noch die anderen Beschuldigten über die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers belehrt hatte.
94. In Bezug auf den Beschwerdeführer stellt der Gerichtshof fest, dass er zwar der Polizei gegenüber eine Aussage machte, darin aber lediglich eine Beteiligung an der Straftat abstritt (siehe Rdnr. 9). Daher nahm das Landgericht in seiner Entscheidung auf die Aussage des Beschwerdeführers im Ermittlungsverfahren nur insofern Bezug, als seine Behauptung, er habe G. nicht gekannt und sei noch nie in der tschechischen Republik gewesen, durch die dem Gericht vorliegenden Beweismittel widerlegt worden war (siehe Rdnr. 24). Hieraus folgt, dass im Zusammenhang mit dem Versäumnis, den Beschwerdeführer über sein Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu informieren, keine gegen den Beschwerdeführer verwendbaren Beweismittel erlangt wurden. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass dieses Versäumnis sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht beeinträchtigt hat (vgl. in Bezug auf diese Rüge nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c Simeonovi ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/04, Rdnrn. 136-40, 12. Mai 2017). Außerdem wurde der Beschwerdeführer vor seiner polizeilichen Vernehmung schriftlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts belehrt (siehe Rdnrn. 7 und 9). Die Behörden versäumten nur, ihn über die Möglichkeit auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu unterrichten. Der Beschwerdeführer brachte auch weder vor den innerstaatlichen Gerichten (siehe Rdnr. 33 in fine) noch vor dem Gerichtshof vor, dass ihm die Mittel zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts gefehlt hätten oder dass er aufgrund seiner finanziellen Situation Anspruch auf Prozesskostenhilfe gehabt hätte. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof nicht erkennen, wie die gerügte Unterlassung zu einer Beeinträchtigung seiner Rechtsposition oder einer Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren hätte führen können.
95. Hinsichtlich der Aussagen von V., K. und S. im Ermittlungsverfahren merkt der Gerichtshof an, dass die Verfahrensgarantien aus Artikel 6 der Konvention ungeachtet der Frage, ob das Recht auf Belehrung über die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers in den Anwendungsbereich dieses Artikels fällt, in erster Linie dem Schutz des Angeklagten selbst dienen sollen (vgl. Tonkov ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 41115/14, § 68, 8. März 2022). In jedem Fall stellt der Gerichtshof fest, dass alle Beschuldigten vor ihrer polizeilichen Vernehmung über ihr Recht auf anwaltlichen Beistand belehrt wurden, sich aber entschieden, ohne Anwesenheit eines Rechtsanwalts auszusagen (siehe Rdnrn. 7 und 14). Darüber hinaus gibt es, wie der Bundesgerichtshof angeführt hat (siehe Rdnr. 33 in fine), keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer die finanziellen Mittel zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts gefehlt hätten. Die bloße Möglichkeit, dass die Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers nach Belehrung über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers Prozesskostenhilfe hätten beantragen und danach von einer Aussage hätten absehen können, reicht nicht aus, um einen Zusammenhang zwischen der fehlenden Belehrung und den im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen herzustellen. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof außerdem an, dass K. sich nach Beiordnung eines Rechtsanwalts dazu entschied, gegenüber der Polizei eine weitere Aussage zu machen (siehe Rdnr. 11). Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer unabhängig von der Frage, ob ein solcher eine dritte Partei betreffender Verfahrensfehler die Fairness des Verfahrens in Frage stellen kann, nicht dargelegt hat, wie das Versäumnis, seine Mitbeschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu informieren, sich auf seine Verurteilung ausgewirkt hat.
96. Dass die innerstaatliche Bestimmung, mit der das Recht auf Belehrung über den Anspruch auf Bestellung eines Pflichtverteidigers verankert wurde, zur Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU (siehe Rdnrn. 36 und 39) eingeführt wurde, ändert an dieser Bewertung nichts. Gemäß Artikel 19 und Artikel 32 Abs. 1 der Konvention ist der Gerichtshof nicht befugt, EU-Vorschriften anzuwenden oder behauptete Verletzungen von EU-Vorschriften zu prüfen, soweit die nach der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten hierdurch nicht verletzt sind. Allgemeiner ausgedrückt obliegt es in erster Linie den innerstaatlichen Behörden, insbesondere den Gerichten, das innerstaatliche Recht, gegebenenfalls im Einklang mit dem Unionsrecht, auszulegen und anzuwenden, und die Rolle des Gerichtshofs beschränkt sich darauf, festzustellen, ob die Auswirkungen einer entsprechenden Entscheidung mit der Konvention vereinbar sind (siehe Jeunesse ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 12738/10, Rdnr. 110, 3. Oktober 2014). Die Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen durch die innerstaatlichen Gerichte lässt diesbezüglich keine Mängel erkennen.
97. In Anbetracht dessen, dass die Beschuldigten vor dem Ermittlungsrichter keine weiteren Erklärungen abgaben (siehe Rdnr. 14 in fine), wird abschließend festgestellt, dass sich die Frage, ob der Richter ihnen eine weitere Belehrung hätte erteilen müssen, nicht stellt.
98. Im Ergebnis ist festzustellen, dass das Versäumnis, die Beschuldigten über ihr Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu belehren, nicht zu einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geführt hat.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe c der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 2. Mai 2023 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Ilse Freiwirth Gabriele Kucsko-Stadlmayer
Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Januar 23, 2024 von eurogesetze
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