RECHTSSACHE AXEL SPRINGER SE ./. DEUTSCHLAND – 8964/18

Die Beschwerde betrifft eine gerichtliche Entscheidung, mit der die Beschwerdeführerin verpflichtet wurde, eine Gegendarstellung in Bezug auf einen Zeitungsartikel zu veröffentlichen, der die Verbindungen einer Politikerin zur Regierungspartei der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) betraf.


Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
VIERTE SEKTION
RECHTSSACHE S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 8964/18)
URTEIL

Artikel 10 • Meinungsfreiheit • Gerichtliche Anordnung, mit der die Beschwerdeführerin, ein Verlag, verpflichtet wurde, die Gegendarstellung einer Politikerin zu einem in ihrer Zeitung erschienenen Artikel zur Richtigstellung falscher Tatsachen zu veröffentlichen, war gerechtfertigt und verhältnismäßig • Bewertung durch das innerstaatliche Gericht war gut begründet und erfolgte unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs

STRASSBURG
17. Januar 2023

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache S. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Vierte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Präsidentin,
Tim Eicke,
Faris Vehabović,
Branko Lubarda,
Armen Harutyunyan,
Anja Seibert-Fohr und
Ana Maria Guerra Martins,
sowie Ilse Freiwirth, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf

die Individualbeschwerde (Nr. 8964/18) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die die S. („die Beschwerdeführerin“) am 14. Februar 2018 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat,
die Entscheidung, der deutschen Regierung („die Regierung“) die Beschwerde nach Artikel 10 der Konvention zur Kenntnis zu bringen,
die Stellungnahmen der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderungen der Beschwerdeführerin,
die Stellungnahme von Frau K., die von der Sektionspräsidentin zur Beteiligung ermächtigt wurde,
nach nicht öffentlicher Beratung am 6. Dezember 2022
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:

EINLEITUNG

1. Die Beschwerde betrifft eine gerichtliche Entscheidung, mit der die Beschwerdeführerin verpflichtet wurde, eine Gegendarstellung in Bezug auf einen Zeitungsartikel zu veröffentlichen, der die Verbindungen einer Politikerin zur Regierungspartei der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) betraf.

SACHVERHALT

2. Bei der Beschwerdeführerin, der S., handelt es sich um einen in der Rechtsform einer Societas Europea geführten Verlag mit Sitz in B.. Die Beschwerdeführerin wurde von Herrn H. und Frau S., Rechtsanwalt und Rechtsanwältin in B., vertreten.

3. Die Regierung wurde von einem ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

4. Der Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

5. Die Beschwerdeführerin verlegt die Tageszeitung W..

6. Am 4. Oktober 2013 veröffentlichte sie einen Artikel mit dem Titel „Die Stasi-Frau an G. Seite“. Herr G. war zu dem Zeitpunkt Mitglied des Bundestags und Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke (ehemals PDS). In dem Artikel wird behauptet, dass Frau K., die Geschäftsführerin der Partei, eine Agentin des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (gemeinhin als „Stasi“ bezeichnet) gewesen sei; außerdem thematisierte der Beitrag das Verschwinden umfangreicher Vermögenswerte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im Jahr 1989. Der Artikel wurde auf Seite 8 der Zeitung veröffentlicht und lautete, soweit maßgeblich, wie folgt:

„Sie sitzt in der Bundesschiedskommission der Linken […]

der Name [K.] steht […] für ein […] Kapitel der Parteigeschichte: den Umgang mit dem SED-Milliardenvermögen nach der Friedlichen Revolution in der DDR. […] Noch Ende 1989 verfügte die SED über ein verschachteltes Firmenimperium, umfassenden Immobilienbesitz und 6,1 Milliarden DDR-Mark in bar. […] Überall auf der Welt kann es deshalb noch schwarze Kassen geben. […]

Es gibt derzeit keinerlei Beleg dafür, dass [K.] an möglichen kriminellen Machenschaften beteiligt war. Aber sie ist bis heute laut Dokumenten, die dieser Redaktion vorliegen, entweder direkt oder indirekt an etlichen Gesellschaften beteiligt, deren Vermögen unzweifelhaft aus der Hinterlassenschaft der Honecker-Partei stammen. Ausweislich des Handelsregisters hält [K.] die Anteile [an den oben genannten Gesellschaften] als Privatperson. Doch zwei Gesellschaften, an denen sie beteiligt ist, verwalten nach einer Feststellung des Oberverwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 1995 treuhänderisch Vermögenswerte für die [PDS]. […]

Dafür setzte die SED-Nachfolgerin PDS allergrößtes Vertrauen in [K.]. Die Partei hatte unter ihrem neu gewählten Vorsitzenden G. ein großes Problem: Das einstige Zentralorgan ‚Neues Deutschland‘ (ND) stand zu Beginn der 90er-Jahre vor dem Aus. […] Und plötzlich tauchte ein ‚Verein der Freunde des ND‘ auf und versprach viel Geld: mindestens eine Million D-Mark. Genannt wurden laut Medienberichten sogar vier Millionen. Wer die Mittel aufbringen wollte und woher sie stammten, ist nicht bekannt. Ehrenamtliche Vorsitzende der ‚ND-Freunde‘: [K.]“

7. Am 2. Oktober 2013, zwei Tage vor Erscheinen des Artikels, sandte die Beschwerdeführerin einen Fragenkatalog an K., in dem sie unter anderem nach ihrer Mitgliedschaft im „Verein der Freunde des ND“ gefragt wurde. K. lehnte die Beantwortung der Fragen ab.

8. Am 11. Oktober 2013 forderte K.s Anwalt die Beschwerdeführerin auf, eine Gegendarstellung zu den oben zitierten Passagen des Artikels zu veröffentlichen. In ihrer Gegendarstellung führte K. insbesondere aus, dass sie nicht an dem Verschwinden des SED-Vermögens beteiligt gewesen sei.

9. Nachdem die Beschwerdeführerin die Veröffentlichung der Gegendarstellung ablehnte, beantragte K. am 16. Oktober 2013 den Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Landgericht B.. Mit Beschluss vom 22. Oktober 2013 wies das Gericht ihren Antrag zurück. Es stellte fest, dass der beanstandete Artikel den angeblichen Zusammenhang zwischen K. und dem Verschwinden des SED-Vermögens nicht hergestellt habe. Dass der Text dahingehend ausgelegt werden könne, reiche als Rechtfertigung für eine Gegendarstellung nicht aus.

10. Gegen diesen Beschluss legte K. Beschwerde ein. Am 14. November 2013 unterrichtete das Kammergericht ihren Rechtsanwalt über Bedenken hinsichtlich der Länge ihrer Erwiderung; ein überarbeiteter Text wurde vorgelegt. Am 18. November 2013 ließ das Kammergericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung unter Berufung auf § 10 Berliner Pressegesetz (siehe Rdnr. 16) zu und verpflichtete die Beschwerdeführerin, die folgende Gegendarstellung zu drucken:

„[1.] Sie schreiben über mich: ‚[Sie] sitzt in der Bundesschiedskommission der Linken.‘ Das ist falsch, seit dem 1.1.2013 bin ich nicht mehr Mitglied der Kommission.

[2.] Sie schreiben: ‚der Name [K.] steht […] für ein […] Kapitel der Parteigeschichte: den Umgang mit dem SED-Milliardenvermögen nach der Friedlichen Revolution in der DDR. […] Noch Ende 1989 verfügte die SED über ein verschachteltes Firmenimperium, umfassenden Immobilienbesitz und 6,1 Milliarden DDR-Mark in bar. […] Überall auf der Welt kann es deshalb noch schwarze Kassen geben.

Es gibt derzeit keinerlei Beleg dafür, dass [K.] an möglichen kriminellen Machenschaften beteiligt war. Aber sie ist bis heute laut Dokumenten, die dieser Redaktion vorliegen, entweder direkt oder indirekt an etlichen Gesellschaften beteiligt, deren Vermögen unzweifelhaft aus der Hinterlassenschaft der Honecker-Partei stammen. […] hält [K.] die Anteile [an diesen Gesellschaften] als Privatperson. Doch zwei Gesellschaften, an denen sie beteiligt ist, verwalten nach einer Feststellung des Oberverwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 1995 treuhänderisch Vermögenswerte für die [PDS].‘

Sie nennen als diese Firmen die FEVAC und die Vulkan.

Dazu stelle ich fest: Mit dem Verbleib des SED-Vermögens nach 1989 hatte ich nichts zu schaffen. Die FEVAC wie die Vulkan selbst wurden im Jahre 1992 auf Anraten und mit Zustimmung der Treuhandanstalt [eine von der DDR-Regierung gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts, mit der vor der deutschen Wiedervereinigung volkseigene Betriebe privatisiert werden sollten] gegründet aus […] [V]ermögen der PDS. Ich bin 1998 Anteilseignerin der FEVAC geworden.

[3.] Sie schreiben: ‚Dafür setzte die SED-Nachfolgerin PDS allergrößtes Vertrauen in [K.]. Die Partei hatte unter ihrem neu gewählten Vorsitzenden G. ein großes Problem: Das einstige Zentralorgan ‚Neues Deutschland‘ (ND) stand zu Beginn der 90er-Jahre vor dem Aus. […] plötzlich tauchte ein ‚Verein der Freunde des ND‘ auf und versprach viel Geld: mindestens eine Million D-Mark. Genannt wurden laut Medienberichten sogar vier Millionen. Wer die Mittel aufbringen wollte und woher sie stammten, ist nicht bekannt. Ehrenamtliche Vorsitzende der ‚ND-Freunde‘: [K.]‘

Dazu stelle ich fest: Dem Verein gehöre ich erst seit etwa 2000 an und bin deren Vorsitzende erst seit 2002.

Berlin, den 11.10.2013

RA [J.] E. für [K.]“

11. In dem anschließenden Hauptverfahren wies das Landgericht K.s Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung am 10. Dezember 2013 erneut zurück, wobei es sich im Wesentlichen auf dieselben Gründe stützte wie zuvor (siehe Rdnr. 9).

12. K. legte wiederum Berufung ein. Die Beschwerdeführerin erwiderte hierauf unter anderem, dass K. in Bezug auf Punkt 3 ihrer Gegendarstellung (siehe Rdnr. 10) ein berechtigtes Interesse fehle, da sie es vor der Veröffentlichung des Artikels abgelehnt habe, Fragen der Beschwerdeführerin in Bezug auf ihre Mitgliedschaft bei ND (siehe Rdnr. 7) zu beantworten; außerdem datiere ihre Gegendarstellung vom 11. Oktober 2013, obwohl der Beschwerdeführerin die letzte Fassung erst am 12. Dezember 2013 vorgelegt worden sei. Sie brachte ferner vor, dass die Informationen zu den zwei oben genannten Gesellschaften, die K. in ihrer Gegendarstellung aufgeführt habe, für die Zwecke der Gegendarstellung nicht erforderlich seien.

13. Am 16. Januar 2014 ordnete das Kammergericht erneut die Veröffentlichung von K.s Gegendarstellung durch die Beschwerdeführerin an. Das Gericht ordnete den Abdruck der Gegendarstellung auf Seite 8 der Zeitung an und wies K.s Forderung nach einer Ankündigung der Gegendarstellung auf der Titelseite zurück. Es vertrat die Auffassung, dass in dem Artikel zwar nicht explizit behauptet worden sei, K. habe SED-Vermögen verschleiert, dass ein Durchschnittsleser aber diese Schlussfolgerung ziehen würde. Der Artikel habe K.s Namen mit dem Verschwinden des SED-Vermögens nach 1989 in Verbindung gebracht. Der Hinweis auf die fehlende Beweisbarkeit krimineller Machenschaften habe die Andeutung, dass K. an dem Verschwinden des Vermögens beteiligt gewesen sei, nicht ausgeglichen, da dieser mit der Information im Zusammenhang gestanden habe, dass K. an Gesellschaften beteiligt gewesen (und auch weiterhin beteiligt) sei, die aus Parteivermögen finanziert worden seien. Was den Umfang und den Inhalt der Gegendarstellung angeht, stellte das Kammergericht fest, dass deren Wortlaut auf das beschränkt gewesen sei, was zur Widerlegung der beanstandeten Ausgangmitteilung erforderlich sei. Angesichts der in dem Artikel enthaltenen Detailfülle zu K.s Verbindungen zu diesen Gesellschaften vertrat das Gericht die Auffassung, dass K. im Gegenzug Gelegenheit haben sollte, ihre Auffassung zur Herkunft des Stammkapitals dieser Gesellschaften darzulegen. Darüber hinaus sei K. nicht verpflichtet gewesen, die Fragen der Beschwerdeführerin zu beantworten. Ihre Weigerung, dies zu tun, habe daher keine Zweifel an ihrem berechtigten Interesse an der Veröffentlichung der Gegendarstellung geweckt. Schließlich könne das Datum unter dem Text nicht als offensichtlich unrichtig angesehen werden: Das erste Gegendarstellungsverlangen sei der Beschwerdeführerin am 11. Oktober 2013 übersandt worden und auch wenn K. den Text mehrfach auf Grundlage der rechtlichen Bedenken der Gerichte abgeändert habe, sei der Kern der Gegendarstellung gleich geblieben.

14. Am 3. Februar 2014 veröffentlichte die Beschwerdeführerin die verlangte Gegendarstellung; unterhalb der Gegendarstellung war eine Anmerkung der Redaktion abgedruckt, die besagte, dass deren Inhalt zutreffend sei und dass die Zeitung keine Erkenntnis darüber habe, dass K. am Verschwinden von SED-Vermögen beteiligt gewesen sei.

15. Mit Beschluss vom 14. August 2017 (1 BvR 745/14) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen.

DER EINSCHLÄGIGE RECHTLICHE RAHMEN

I. DER INNERSTAATLICHE RECHTSRAHMEN

16. Artikel 10 des Berliner Pressegesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Die verantwortlichen Redakteure und die Verleger eines periodischen Druckwerks sind verpflichtet, eine Gegendarstellung von Personen oder Stellen zum Abdruck zu bringen, die durch eine in dem Druckwerk aufgestellte Tatsachenbehauptung betroffen sind. […]

(2) Die Pflicht zum Abdruck einer Gegendarstellung besteht nicht, wenn die betroffene Person oder Stelle kein berechtigtes Interesse an der Veröffentlichung hat, wenn die Gegendarstellung ihrem Umfang nach nicht angemessen ist oder bei Anzeigen, die ausschließlich dem geschäftlichen Verkehr dienen. Überschreitet die Gegendarstellung nicht den Umfang des beanstandeten Textes, so gilt sie als angemessen. Die Gegendarstellung muss sich auf tatsächliche Angaben beschränken und darf keinen strafbaren Inhalt haben. […]“

II. EINSCHLÄGIGE MATERIALIEN DES VÖLKERRECHTS

A. Europarat

17. Entschließung (74) 26 des Ministerkomitees des Europarats über das Recht auf Gegendarstellung – Stellung der Einzelperson gegenüber der Presse lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„Das Ministerkomitee […]

empfiehlt den Regierungen der Mitgliedstaaten, dass die Stellung der Einzelperson gegenüber den Medien zumindest den folgenden Grundsätzen entsprechen sollte:

1. In Bezug auf Informationen über Personen, die von einem beliebigen Medium veröffentlicht werden, hat die betroffene Person die wirksame Möglichkeit, unzutreffende Tatsachen, die sie betreffen und an deren Richtigstellung sie ein berechtigtes Interesse hat, unverzüglich korrigieren zu lassen, wobei diese Richtigstellung möglichst in der gleichen Art und Weise hervorgehoben wird wie die ursprüngliche Veröffentlichung. […]“

18. Der Anhang zur Entschließung (74) 26 – Mindestregeln in Bezug auf das Recht auf Gegendarstellung gegenüber der Presse, dem Rundfunk, dem Fernsehen und anderen periodischen Medien lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„1. Jede natürliche und juristische Person oder andere Einrichtung, die in einer Zeitung, einer Zeitschrift, einer Hörfunk- oder Fernsehsendung oder in einem anderen periodisch erscheinenden Medium erwähnt wurde und über die der Öffentlichkeit Tatsachen zugänglich gemacht wurden, die sie für unrichtig hält, kann unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Aufenthaltsort das Recht auf Gegendarstellung ausüben, um die sie betreffenden Tatsachen richtigzustellen.

2. Auf Verlangen der betroffenen Person oder Einrichtung ist das betreffende Medium verpflichtet, die von ihr übermittelte Gegendarstellung zu veröffentlichen.

3. Ausnahmsweise kann das innerstaatliche Recht vorsehen, dass das Medium die Veröffentlichung der Antwort ablehnen kann,

i. wenn der Antrag auf Veröffentlichung der Gegendarstellung nicht innerhalb einer angemessenen Frist an das Medium gerichtet wird;

ii. wenn der Umfang der Gegendarstellung das Maß überschreitet, das erforderlich ist, um die Informationen zu berichtigen, die die angeblich unrichtigen Tatsachen enthalten;

iii. wenn die Gegendarstellung nicht auf eine Richtigstellung der beanstandeten Tatsachen beschränkt ist;

iv. wenn sie einen strafbaren Inhalt hat;

v. wenn sie als Verstoß gegen die Rechtsgüter Dritter angesehen wird;

vi. wenn die betroffene Person kein berechtigtes Interesse nachweisen kann.“

19. Empfehlung Rec (2004)16 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über das Recht auf Gegendarstellung im neuen Medienumfeld lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„1. Umfang des Rechts auf Gegendarstellung

Jede natürliche oder juristische Person sollte unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Aufenthaltsort ein Recht auf Gegendarstellung oder eine gleichwertige Abhilfemöglichkeit erhalten, damit sie auf Informationen in den Medien, die unrichtige Tatsachen über sie enthalten und ihre Persönlichkeitsrechte beeinträchtigen, reagieren kann.

[…]

5. Ausnahmen

Ausnahmsweise kann durch das innerstaatliche Recht oder die innerstaatliche Praxis vorgesehen werden, dass das betreffende Medium den Antrag auf Gegendarstellung ablehnen kann,

– wenn der Umfang der Gegendarstellung das Maß überschreitet, das erforderlich ist, um die beanstandeten Informationen zu berichtigen;

– wenn die Gegendarstellung nicht auf eine Richtigstellung der beanstandeten Tatsachen beschränkt ist;

– wenn die Veröffentlichung eine strafbare Handlung beinhalten, den Inhaltsanbieter einem zivilrechtlichen Verfahren aussetzen oder gegen die guten Sitten verstoßen würde;

– wenn sie als Verstoß gegen die Rechtsgüter Dritter angesehen wird;

– wenn die betroffene Person kein berechtigtes Interesse nachweisen kann;

– wenn die Gegendarstellung in einer Sprache verfasst wurde, die nicht mit der Sprache übereinstimmt, in der die beanstandete Information veröffentlicht wurde;

– wenn die beanstandete Information Teil einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung über öffentliche Sitzungen der Behörden oder Gerichte ist.“

B. Europäische Union

20. Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Schutz Minderjähriger und den Schutz der Menschenwürde und über das Recht auf Gegendarstellung im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industriezweiges der audiovisuellen Dienste und Online-Informationsdienste lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„[Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union empfehlen] I. den Mitgliedstaaten in dem Bestreben um Förderung der Entwicklung des Industriezweiges der audiovisuellen Dienste und Online-Informationsdienste, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz Minderjähriger und der Menschenwürde in allen audiovisuellen Diensten und Online-Informationsdiensten sicherzustellen, indem sie

1. erwägen, in ihr innerstaatliches Recht oder in ihre innerstaatliche Praxis Maßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf Gegendarstellung oder gleichwertiger Abhilfemaßnahmen im Zusammenhang mit Online-Medien unter angemessener Berücksichtigung ihrer innerstaatlichen und verfassungsmäßigen Rechtsvorschriften und unbeschadet der Möglichkeit aufzunehmen, die Art der Ausübung dieses Rechts an die Besonderheiten jeder Medienart anzupassen; […]

ANHANG I

[…]

Ein Antrag auf Gegendarstellung oder gleichwertige Abhilfemaßnahmen kann abgelehnt werden, wenn der Antragsteller kein berechtigtes Interesse an der Veröffentlichung einer solchen Gegendarstellung hat oder wenn die Gegendarstellung eine strafbare Handlung beinhalten, den Inhaltsanbieter einem zivilrechtlichen Verfahren aussetzen oder gegen die guten Sitten verstoßen würde.

Das Recht auf Gegendarstellung steht unbeschadet anderer Rechtsmittel Personen zur Verfügung, deren Recht auf Würde, Ehre, Ansehen oder Privatsphäre durch die Medien verletzt wurde.“

C. Amerikanische Menschenrechtskonvention

Artikel 14 (Recht auf Gegendarstellung) der Amerikanischen Menschenrechtskonvention lautet wie folgt:

„1. Wer durch unzutreffende oder beleidigende Äußerungen oder Ideen geschädigt wird, die über ein gesetzlich geregeltes Kommunikationsmittel an die Öffentlichkeit verbreitet werden, hat das Recht, unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen über dasselbe Kommunikationsmittel eine Gegendarstellung oder eine Richtigstellung vorzunehmen.

2. Die Richtigstellung oder Gegendarstellung entbindet in keinem Fall von der Erfüllung anderer rechtlicher Verpflichtungen, die möglicherweise entstanden sind.

3. Zum wirksamen Schutz von Ehre und Ansehen muss jeder Verleger sowie jede Zeitungs-, Film-, Rundfunk- und Fernsehgesellschaft eine verantwortliche Person vorsehen, die nicht durch Immunitäten oder besondere Vorrechte geschützt ist.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

21. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Verpflichtung zur Veröffentlichung der Gegendarstellung ihr Recht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 10 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […] oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“

A. Zulässigkeit

22. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Stellungnahmen der Parteien

(a) Die Beschwerdeführerin

23. Die Beschwerdeführerin behauptete, dass der Artikel tatsächlich keinen Zusammenhang zwischen K. und dem Verschwinden des SED-Vermögens hergestellt und diesbezüglich auch keine indirekten Behauptungen aufgestellt habe. Vielmehr sei ausdrücklich ausgeführt wurden, dass es keinerlei Belege dafür gebe, dass K. an kriminellen Machenschaften beteiligt gewesen sei. Die Einschätzung, „der Name [K.] steht […] für ein […] besonders unappetitliches Kapitel der Parteigeschichte: den Umgang mit dem SED-Milliardenvermögen nach der Friedlichen Revolution in der DDR“ enthalte keine Tatsachenbehauptung, sondern vielmehr ein Werturteil dahingehend, dass K. finanziell von der SED-Diktatur profitiert habe. Eine Gegendarstellung hätte daher ausgeschlossen werden müssen.

24. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, dass K.s Verhalten vor der Veröffentlichung des beanstandeten Artikels nicht adäquat berücksichtigt worden sei. Es wäre ein Einfaches für K. gewesen, die Fragen der Beschwerdeführerin in Bezug auf den Zeitraum ihrer Vorstandschaft des „Vereins der Freunde des ND“ zu beantworten, da diese Information sie in keiner Weise inkriminiere, aber nicht öffentlich zugänglich sei. Da sie sich jedoch entschlossen habe, der Beschwerdeführerin diese Information vorzuenthalten (siehe Rdnr. 7), sei sie nicht berechtigt gewesen, diesbezüglich eine Gegendarstellung zu verlangen.

25. Schließlich sei die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Sanktion in Form der gerichtlichen Anordnung als noch schwerer einzustufen als die reine Verpflichtung zur Veröffentlichung der Gegendarstellung, da die Beschwerdeführerin verpflichtet worden sei, die Gegendarstellung unter einem falschen Datum zu veröffentlichen. Die gerichtlich angeordnete Gegendarstellung habe noch das Datum des ursprünglichen Antrags von K. gegenüber der Beschwerdeführerin (11. Oktober 2013) getragen, obwohl der Text mehrfach geändert worden sei und die finale Version der Beschwerdeführerin erst am 12. Dezember 2013 vorgelegt worden sei. Diese Diskrepanz habe den guten Ruf der Beschwerdeführerin bedroht, da bei deren Leserschaft der Eindruck erweckt worden sei, die Beschwerdeführerin habe die Veröffentlichung der Gegendarstellung absichtlich verzögert.

(b) Die Regierung

26. Was den Inhalt des Artikels angeht, schloss sich die Regierung der Sichtweise der innerstaatlichen Gerichte an, wonach der beanstandete Artikel die verdeckte Tatsachenbehauptung enthalte, dass K. an dem Verschwinden des SED-Vermögens beteiligt gewesen sei. Die Einschränkung, dass es für die kriminellen Machenschaften keinen Beleg gebe, habe nur auf eine mangelnde Beweisbarkeit hingedeutet, jedoch nicht die Behauptung in Frage gestellt.

27. Die Regierung brachte darüber hinaus vor, dass K.s Weigerung, die Fragen eines Journalisten zu beantworten, nicht in Zweifel ziehen könne, dass ihr anschließendes Verlangen einer Gegendarstellung auf einem berechtigten Interesse beruhte. Eine andere Rechtsauslegung würde dazu führen, dass die Presse faktisch ein Auskunftsrecht gegenüber Privatpersonen hätte.

28. Schließlich führte die Regierung aus, dass eine solche Diskrepanz zwischen dem Datum der Gegendarstellung und dem der Veröffentlichung (siehe Rdnr. 25) nicht ungewöhnlich sei und Durchschnittslesern nicht auffalle.

2. Vorbringen der Drittbeteiligten

29. K. hob hervor, dass die Beschwerdeführerin zusammen mit der Gegendarstellung eine Anmerkung der Redaktion veröffentlicht habe, in der die Richtigkeit ihrer Gegendarstellung bestätigt worden sei (siehe Rdnr. 14). Ihrer Auffassung nach bedeute das, dass die Entscheidung der Beschwerdeführerin, Beschwerde beim Gerichtshof einzureichen, widersprüchlich gewesen sei und kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden habe. Darüber hinaus könne die Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung angesichts dessen, dass keine der Parteien die Unrichtigkeit der in dem Artikel enthaltenen Informationen bestritten habe, nicht als schwerer Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin angesehen werden.

3. Würdigung durch den Gerichtshof

30. Keine der Parteien bestreitet, dass die Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung durch die innerstaatlichen Gerichte einen staatlichen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung darstellte. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, namentlich in § 10 des Berliner Pressegesetzes (siehe Rdnr. 16). Er diente dem Zweck, den guten Ruf von K. zu schützen, und verfolgte damit das rechtmäßige Ziel des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 der Konvention.

31. Es bleibt festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

(a) Allgemeine Grundsätze

32. Ein Eingriff ist als zur Verfolgung eines rechtmäßigen Ziels „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ anzusehen, wenn er „einem dringenden sozialen Bedürfnis“ entspricht und, insbesondere, wenn er in Bezug auf das damit verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig ist und wenn die von den nationalen Behörden zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe „relevant und ausreichend“ sind (siehe z. B. Bagirov ./. Aserbaidschan, Individualbeschwerde Nrn. 81024/12 und 28198/15, Rdnr. 98, 25. Juni 2020, und M.P. ./. Finnland, Individualbeschwerden Nr. 36487/12, Rdnr. 51, 15. Dezember 2016).

33. Die Presse spielt eine wesentliche Rolle in einer demokratischen Gesellschaft. Bei seiner Prüfung, ob der Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, stellt der Gerichtshof daher zunächst fest, dass Zeitungen und andere private Medien in ihrem redaktionellen Ermessen darüber, ob sie Artikel, Kommentare und von Privatpersonen eingeschickte Briefe veröffentlichen, grundsätzlich frei sein müssen. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die rechtliche Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung als normaler Bestandteil des Rechtsrahmens angesehen werden kann, der für die Ausübung der Meinungsfreiheit durch die Medien gilt (siehe Kaperzyński ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 43206/07, Rdnr. 66, 3. April 2012; Rusu ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 25721/04, Rdnr. 25, 8. März 2016; Marunić ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 51706/11, Rdnrn. 50 und 54, 28. März 2017). Gleichzeitig hat er betont, dass es angesichts des hohen Schutzniveaus für die Presse außergewöhnlicher Umstände bedarf, damit eine Zeitung rechtmäßigerweise zur Veröffentlichung beispielsweise eines Widerrufs, einer Entschuldigung oder eines Urteils zu einem Fall übler Nachrede verpflichtet werden kann (siehe Melnychuk ./. Ukraine (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 28743/03, ECHR 2005-IX, und Eker ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 24016/05, Rdnr. 45, 24. Oktober 2017). Insofern ist die potenziell abschreckende Wirkung („chilling effect) von Strafen gegen die Presse auf deren künftige Ausübung ihrer Aufgabe als Informationsvermittler und öffentlicher Wachhund („public watchdog“) ebenfalls zu berücksichtigen (siehe sinngemäß Radio Twist a.s. ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 62202/00, Rdnr. 53, ECHR 2006-XV, in Bezug auf den Eingriff in das Recht auf Weitergabe von Informationen).

34. Die Konventionsorgane haben festgestellt, dass das Ziel des Rechts auf Gegendarstellung darin besteht, jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich vor bestimmten von den Massenmedien verbreiteten Mitteilungen oder Meinungen zu schützen, die ihr Privatleben, ihre Ehre oder ihre Würde verletzen könnten (siehe Ediciones Tiempo ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 13010/87, Entscheidung der Kommission vom 12. Juli 1989, Decisions and Reports 62, S. 247). In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass das vorrangige Ziel des Rechts auf Gegendarstellung darin besteht, Menschen die Möglichkeit zu geben, gegen Falschinformationen vorzugehen, die in der Presse über sie veröffentlicht wurden (siehe Gülen ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 38179/16, 38384/16, 38389/16, 38394/16, 38400/16, 38410/16, Rdnr. 66, 8. September 2020; siehe auch die in den Rdnrn. 17-19 zitierten Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats).

35. Was die maßgeblichen Kriterien angeht, wird der Gerichtshof berücksichtigen, ob ein hinreichender Zusammenhang zwischen der in Rede stehenden Mitteilung und der verlangten Gegendarstellung besteht und ob letztere als verhältnismäßige Reaktion angesehen werden kann (siehe die oben zitierten Rechtssachen Eker, Rdnrn. 49‑50 und Melnychuk). Ein maßgeblicher Aspekt dieser Prüfung ist der Inhalt der Gegendarstellung verglichen mit der beanstandeten Mitteilung (siehe Eker, a. a. O., Rdnr. 50). Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits berücksichtigt, ob die Veröffentlichung der Gegendarstellung eine strafbare Handlung darstellen würde (ebenda, Rdnr. 49). Unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof auch prüfen, ob der Umfang der Gegendarstellung das Maß überschreitet, das erforderlich ist, um die Informationen, in denen die mutmaßlich falschen Tatsachen enthalten sind, zu berichtigen, und in welchem Zeitrahmen die Gegendarstellung verlangt wurde (siehe auch den Anhang zur Entschließung (74) 26 des Ministerkomitees des Europarats, Rdnr. 18).

36. Während es Aufgabe der nationalen Behörden ist, eine erste Bewertung all dieser Aspekte vorzunehmen, unterliegt die endgültige Bewertung der Frage, ob der Eingriff erforderlich ist, einer Überprüfung durch den Gerichtshof, welche die Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Konvention zum Gegenstand hat. Bei ihrer Bewertung muss den zuständigen nationalen Behörden ein Ermessensspielraum eingeräumt werden. Der Umfang dieses Spielraums ist unterschiedlich und hängt von einer Reihe von Faktoren ab, zu denen die Art des in Rede stehenden Konventionsrechts, seine Bedeutung für die betroffene Person, die Art des Eingriffs und das mit dem Eingriff verfolgte Ziel gehören. Wenn der Staat einen Ausgleich zwischen widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen oder verschiedenen Konventionsrechten herbeiführen muss, wird dieser Spielraum in der Regel groß sein (siehe M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 24173/18, Rdnr. 66, 19. November 2020, mit weiteren Nachweisen).

37. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen das Recht auf Wahrung der Privatsphäre und das Recht auf freie Meinungsäußerung gegeneinander abgewogen werden müssen, sollte nach Auffassung des Gerichtshofs der Ausgang des Beschwerdeverfahrens theoretisch nicht davon abhängen, ob die Beschwerde nach Artikel 8 von der Person beim Gerichtshof erhoben wurde, die Gegenstand des Nachrichtenbeitrags war, oder nach Artikel 10 von dem Verleger. Tatsächlich verdienen diese Rechte grundsätzlich die gleiche Achtung. Folglich sollte der Beurteilungsspielraum in beiden Fällen theoretisch gleich sein (siehe Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnr. 91, 12. Juni 2014). Wenn die Abwägung von den nationalen Behörden in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen wurde, bedürfte es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Würdigung der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (ebenda, Rdnr. 92).

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

38. Bei der Prüfung der „Notwendigkeit“ des Eingriffs im Lichte der oben genannten Grundsätze und Überlegungen müssen auch der Gegenstand, der Inhalt, der Umfang und der Zeitpunkt der Gegendarstellung betrachtet werden. Hierzu sollten unter anderem die folgenden Aspekte berücksichtigt werden (siehe auch Rdnr. 35): das Bestehen eines rechtmäßigen Interesses an einer Gegendarstellung aufgrund des Inhalts und der Verbreitung der beanstandeten Mitteilung; die Frage, ob ein hinreichender Zusammenhang zwischen der Gegendarstellung und der beanstandeten Mitteilung besteht; und die Verhältnismäßigkeit der Gegendarstellung in Bezug auf deren Inhalt und Umfang, die Positionierung der Gegendarstellung und der zeitliche Abstand zwischen der Veröffentlichung des Artikels und dem Verlangen der Gegendarstellung.

39. Was die Frage nach einem berechtigten Interesse angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die innerstaatlichen Gerichte den Artikel unterschiedlich ausgelegt haben. Nach Auffassung des Landgerichts hatte der Artikel keinen Zusammenhang zwischen K. und dem Verschwinden des SED-Vermögens in einer Art und Weise hergestellt, die eine Richtigstellung erfordern würde (siehe Rdnr. 9) Auch die Beschwerdeführerin brachte vor, dass dies in dem ursprünglichen Text weder direkt noch indirekt behauptet worden sei. Vielmehr sei die Mitteilung, die K. mit dem Verschwinden des SED-Vermögens in Verbindung gebracht habe, ein reines Werturteil gewesen (siehe Rdnr. 23). Das Kammergericht indes vertrat die Auffassung, dass ein Durchschnittsleser den Artikel dahingehend auffassen würde, dass impliziert werde, K. sei an dem Verschwinden des SED-Vermögens beteiligt gewesen, und dass der Artikel demnach eine Tatsachenbehauptung aufgestellt habe (siehe Rdnr. 13). In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass eine Gegendarstellung nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht (siehe Rdnr. 16) nur in Bezug auf Tatsachenbehauptungen verlangt werden kann.

40. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der innerstaatlichen Stellen zu setzen; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 der Konvention zu überprüfen (siehe Bédat ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 56925/08, Rdnr. 48 (iii), 29. März 2016).

41. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Grenzen zulässiger Kritik bei Politikerinnen und Politikern in Ausübung ihres öffentlichen Amtes weiter gefasst sind als bei Privatpersonen (siehe Lingens ./. Österreich, 8. Juli 1986, Rdnr. 42, Serie A Bd. 103, und Oberschlick ./. Österreich (Nr. 1), 23. Mai 1991, Rdnr. 59, Serie A Bd. 204). Dieses Toleranzerfordernis umfasst jedoch keine Pflicht zur Tolerierung sachlicher Unrichtigkeiten.

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Kammergericht bei der Prüfung des Artikelinhalts insbesondere die widersprüchlichen Mitteilungen berücksichtigt hat, wonach K.s Name mit dem Verschwinden des SED-Vermögens in Verbindung stehe, es aber keine Belege für kriminelle Machenschaften ihrerseits gebe. Nach Ansicht des Gerichtshofs war die Bewertung des Artikelinhalts durch das Kammergericht ausführlich und gut begründet und die Auslegung durch das Gericht ließ keine Willkür erkennen. Seine Feststellung, dass K. ein berechtigtes Interesse an der verlangten Gegendarstellung hatte, begegnet daher keinen Bedenken.

43. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof im Lichte der Auslegung durch das Kammergericht fest, dass die verlangte Gegendarstellung einen hinreichenden Zusammenhang mit dem beanstandeten Artikel aufwies.

44. Was das Argument der Beschwerdeführerin angeht, die innerstaatlichen Gerichte hätten K.s Antrag auf Gegendarstellung ablehnen sollen, da sie die Beantwortung ihrer Fragen verweigert habe (siehe Rdnr. 24), weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass das Verhalten einer Person im Vorfeld einer Veröffentlichung ihre „berechtigte Erwartung“, dass ihr Privatleben wirksam geschützt werde, nur unter bestimmten Umständen verringert (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 101, 7. Februar 2012, mit weiteren Nachweisen). Das setzt normalerweise voraus, dass die betroffene Person sich selbst ins Rampenlicht begeben hat (ebenda), oder ergibt sich als Folge rechtswidriger Handlungen dieser Person – beispielsweise der Begehung einer Straftat (siehe Mikolajová ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 4479/03, Rdnr. 57, 18. Januar 2011).

45. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass Presseorgane zwar gehalten sind, bei ihrer Berichterstattung nach bestem Wissen und Gewissen vorzugehen, um unter Beachtung des journalistischen Berufsethos „zuverlässige und genaue“ Informationen zu liefern (siehe S., a. a. O., Rdnr. 93), und dass sie daher der betroffen Person Gelegenheit zur Verteidigung geben sollten. Dennoch hat der Umstand, dass die beanstandeten Behauptungen kommuniziert wurden, keine unbeschränkte Freiheit zur Veröffentlichung unbestätigter Behauptungen zur Folge. Genauso wenig steht er dem Recht der betroffenen Person entgegen, durch eine Gegendarstellung die mutmaßlich falschen Tatsachen richtigzustellen. Aus diesem Grund und unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Beschwerdeführerin sich nicht auf ein etwaiges rechtswidriges Verhalten K.s vor der Veröffentlichung des beanstandeten Artikels bezieht, kann K.s Weigerung, die Fragen der Beschwerdeführerin zu beantworten, nicht als Argument dafür dienen, K.s Recht auf Richtigstellung falscher Tatsachen zu beschränken.

46. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die in Frage stehenden Mitteilungen in einer Tageszeitung veröffentlicht wurden (siehe Rdnr. 5). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es eine unangemessene Verzögerung zwischen der Veröffentlichung des beanstandeten Artikels und dem Antrag auf Gegendarstellung gegeben hat (siehe Rdnrn. 6 und 8).

47. Was die Verhältnismäßigkeit der Verpflichtung zur Gegendarstellung angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass es in Bezug auf Werturteile in Fällen übler Nachrede einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen der Richtigstellung mutmaßlich falscher Tatsachen und Sanktionen – zum Beispiel einem Veröffentlichungsverbot, strafrechtlichen Sanktionen oder einer Verurteilung zur Zahlung von Schadenersatz – (siehe sinngemäß Lingens, a. a. O., Rdnr. 46, und Oberschlick, a. a. O., Rdnr. 63). Das Kammergericht vertrat in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Verpflichtung zur Gegendarstellung die Auffassung, dass die Beschwerdeführerin K.s Beteiligung an Gesellschaften, die mutmaßlich Verbindungen zur SED aufweisen, detailliert beschrieben habe. Daher haben die in K.s Gegendarstellung diesbezüglich enthaltenen Informationen den Umfang dessen, was erforderlich war, um die Behauptungen der Beschwerdeführerin zu widerlegen, nicht überschritten. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, diese Einschätzung in Frage zu stellen. Er stellt darüber hinaus fest, dass die Gegendarstellung auf der gleichen Seite zu drucken war wie der ursprüngliche Artikel und dass ein Antrag auf Ankündigung der Gegendarstellung auf der Titelseite der Zeitung abgelehnt worden war (siehe Rdnr. 13) Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Umfang von K.s Gegendarstellung den Umfang der in Rede stehenden Mitteilung überschritt (siehe, in Bezug auf einen ähnlichen Sachverhalt a fortiori, F. ./. Deutschland (Entsch.) [Komitee], Individualbeschwerden Nrn. 25845/17 und 34929/18, Rdnr. 30, 7. Dezember 2021). Genauso wenig gibt es Hinweise darauf, dass die Veröffentlichung der Gegendarstellung eine strafbare Handlung darstellte.

48. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass K.s Gegendarstellung nicht das Datum der letzten Version trug, zu deren Veröffentlichung die Beschwerdeführerin verpflichtet worden war, sondern das Datum ihres ursprünglichen Antrags gegenüber der Beschwerdeführerin (siehe Rdnr. 25). Hierzu vertrat das Kammergericht die Auffassung, dass diese Diskrepanz die veröffentlichte Information nicht offensichtlich unrichtig mache. Zwar sei der Text der ursprünglichen Gegendarstellung mehrfach abgeändert worden, um den rechtlichen Bedenken der innerstaatlichen Gerichte Rechnung zu tragen, der Kern der Gegendarstellung sei jedoch gleich geblieben (siehe Rdnr. 13). Der Gerichtshof sieht keinen Grund, von dieser Bewertung abzuweichen.

49. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Kammergericht bei der Prüfung des ihm vorgelegten Sachverhalts die Grundsätze und Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung in Bezug auf den Ausgleich zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung festgelegt hat, hinreichend berücksichtigt hat. Der Gerichtshof erkennt keine gewichtigen Gründe dafür, die Würdigung des Kammergerichts durch seine eigene zu ersetzen (siehe die in Rdnr. 37 zitierte Rechtsprechung).

50. Artikel 10 der Konvention ist folglich nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 17. Januar 2023 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Ilse Freiwirth                               Gabriele Kucsko-Stadlmayer
Stellvertretende Sektionskanzlerin                      Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am August 31, 2023 von eurogesetze

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