SCHUETT gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) 25859/17

DRITTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 25859/17
SCHUETT gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner Sitzung am 30. November 2021 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Georgios A. Serghides, Präsident,
Anja Seibert-Fohr,
Frédéric Krenc
sowie Olga Chernishova, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf

die Individualbeschwerde (Nr. 25859/17) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die ein deutscher Staatsangehöriger, der 19.. geborene und in F. wohnhafte Herr S. („der Beschwerdeführer“), am 30. März 2017 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte,

nach Beratung wie folgt entschieden:

GEGENSTAND DER RECHTSSACHE

1. Der Beschwerdeführer wurde wiederholt wegen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern, mehrfach begangen ab den 1980er Jahren, verurteilt. Am 20. Juni 2007 verurteilte ihn das Landgericht wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten. In die Gesamtstrafe wurden auch die Einzelstrafen für den sexuellen Missbrauch von Kindern in zwei Fällen und den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in einem Fall einbezogen, derentwegen der Beschwerdeführer am 25. April 2006 verurteilt worden war; zum Zeitpunkt des Urteils vom 20. Juni 2007 verbüßte er seine mit jener Verurteilung verhängte Freiheitsstrafe. Kurz vor Ende der vollständigen Verbüßung seiner Freiheitsstrafe ordnete das Landgericht im Juni 2011 gegen den Beschwerdeführer 5 Jahre Führungsaufsicht ab Entlassung aus dem Strafvollzug an und erteilte ihm für die Dauer der Führungsaufsicht Weisungen.

2. Am 19. August 2016 ordnete das Oberlandesgericht gegen den Beschwerdeführer unbefristete Führungsaufsicht mit bestimmten Weisungen an, u. a. wurde ihm untersagt, (i) sich ohne Begleitung einer erwachsenen Person, von der er sich zu keiner Zeit mehr als 5 Meter entfernen durfte, in Reitsportanlagen oder an Orten aufzuhalten, die der Aufzucht oder Haltung von Pferden dienen, (ii) eine Tätigkeit im Bereich des Pferdesports, der Pferdehaltung oder der Pferdeaufzucht auszuüben oder Pferde zu besitzen, (iii) Kontakt zu Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren aufzunehmen, insbesondere Minderjährige zu beaufsichtigen, zu beschäftigen, zu beherbergen, auszubilden oder mit ihnen zu verkehren, und er wurde (iv) verpflichtet, sich in monatlichen Abständen durch persönliches Vorsprechen bei seinem Bewährungshelfer bzw. seiner Bewährungshelferin zu melden und etwaigen Vorladungen zu entsprechen.

3. Das Oberlandesgericht stellte insbesondere darauf ab, dass der Beschwerdeführer über einen sehr langen Zeitraum ähnlich gelagerte Sexualstraftaten mit vergleichbarem Tatmuster zum Nachteil von Kindern begangen habe. Einem psychiatrischen Sachverständigen zufolge, der ihn 2005 im Rahmen eines Strafverfahrens begutachtet habe, liege bei dem Beschwerdeführer wahrscheinlich Pädophilie vor und es sei von einem hohen Risiko auszugehen, dass er künftig ähnlich gelagerte Sexualstraftaten begehen werde. Diese Feststellungen des Sachverständigen seien nach wie vor valide, ferner sei die Einholung eines neuen Gutachtens nicht erforderlich, da der Beschwerdeführer die notwendige Therapie verweigere. Auch wenn der Beschwerdeführer die entsprechenden Weisungen in den vergangenen Jahren befolgt habe und wieder in das Berufsleben eingestiegen sei, seien positive Entwicklungen in Bezug auf seine Persönlichkeit nicht zu verzeichnen. Es sei bekannt, dass das Rückfallrisiko bei Sexualstraftätern auch nach längeren Zeiträumen straffreien Verhaltens noch bestehe. Dies zeige sich auch im Fall des Beschwerdeführers: Zwar habe es Zeiten gegeben, in denen er über mehrere Jahre keine derartigen Straftaten begangen habe, dennoch sei er schließlich rückfällig geworden und die bereits erfahrene Verbüßung einer Freiheitsstrafe habe ihn davon nicht abgehalten. Er lebe isoliert, ohne soziale Kontrolle, und es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass seine Neigung zur Begehung von Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern durch sein Alter (59 Jahre) gemindert würde.

4. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hatten die angefochtene Führungsaufsicht und die spezifisch ausgestalteten Weisungen zum Ziel, die Begehung künftiger, ähnlich gearteter Straftaten zu verhindern. Die Weisungen betreffend Reitsportanlagen und ähnlichen Einrichtungen, die Verrichtung von damit in Zusammenhang stehenden Tätigkeiten sowie den Besitz von Pferden, seien weiterhin geboten, um den Beschwerdeführer von einem Rückfall in die seine früheren Taten prägenden Verhaltensweisen abzuhalten, insbesondere soweit dies die Nutzung des Umgangs mit Pferden für die Anbahnung von Kontakten zu an Pferden interessierten minderjährigen Mädchen und die Ausnutzung solcher Kontakte zu erneuten Sexualstraftaten zu deren Nachteil betreffe. Ein Fortbestand des Verbots des Kontakts zu Kindern sei geboten, um den Beschwerdeführer aus Situationen fernzuhalten, die ihn der Versuchung aussetzten, erneut zunächst freundschaftliche Beziehungen zu Kindern aufzubauen, die entsprechend seinem früheren Tatmuster in weitere Sexualstraftaten zu Lasten dieser Kinder münden könnten. Die Betreuung des Beschwerdeführers durch einen Bewährungshelfer sei angezeigt, um zum einen eine gewisse, nicht anderweitig gesicherte Kontrolle der weiteren Entwicklung des Beschwerdeführers zu gewährleisten, sowie darüber hinaus, um ihm einen Ansprechpartner für den Fall zur Seite zu stellen, dass er künftig eine therapeutische Behandlung in Erwägung ziehen sollte. Das Oberlandesgericht gelangte zu dem Schluss, dass die angefochtenen Weisungen nicht unverhältnismäßig in das Privatleben des Beschwerdeführers, einschließlich seiner Möglichkeit des Verkehrs mit Freunden und Bekannten, eingriffen.

5. Am 19. Oktober 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1990/16).

6. Der Beschwerdeführer rügte den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. August 2016. Er vertrat die Ansicht, dass die unbefristete Führungsaufsicht mit den genannten Weisungen darauf abziele, ihn zu einem Geständnis der Taten zu bewegen, derentwegen er verurteilt worden sei, die er aber weiterhin abstreite. Die Maßnahme der unbefristeten Führungsaufsicht sei weder verhältnismäßig, noch notwendig, denn es bestehe bei ihm kein Risiko, dass er Straftaten begehe: Er habe sich seit 2011 an alle Weisungen gehalten und stelle keine Gefahr dar, zudem gebe es keine ausreichende Grundlage für eine gegenteilige Schlussfolgerung und das Oberlandesgericht habe sich auf ein veraltetes Sachverständigengutachten gestützt. Die angegriffenen Weisungen schränkten seine Freiheit, seine Bewegungsfreiheit, sein Recht auf Versammlungsfreiheit und sein Recht auf Achtung seines Privatlebens, u. a. im beruflichen Zusammenhang, ein: Er sei als selbständiger IT-Systemprogrammierer tätig, was Reisen innerhalb Deutschlands und auch ins Ausland mit sich bringe, und einige seiner Kunden beschäftigten minderjährige Auszubildende. In Bezug auf die vorgenannten Rügen stützte sich der Beschwerdeführer auf Artikel 2, Artikel 5 Abs. 1, Artikel 8 und Artikel 11 der Konvention sowie Artikel 2 des Protokolls Nr. 4. Schließlich machte der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Konvention aufgrund einer fehlerhaften Anwendung des innerstaatlichen Rechts sowie Unverhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahme geltend.

WÜRDIGUNG DURCH DEN GERICHTSHOF

I. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

7. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe T. u. a. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 11308/16 und 11344/16, Rdnr. 64, 22. März 2018), hält es für angemessen, die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich der gegen ihn angeordneten unbefristeten Führungsaufsicht und der entsprechenden Weisungen nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen. Bei seiner Entscheidung über diese Rüge stützt er sich auf seine Erwägungen in dem Verfahren Harvey ./. Vereinigtes Königreich ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 80237/13, Rdnrn. 61-62 und 67, 21. November 2017).

8. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. August 2016 einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention garantierte Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens darstellte. Dieser war „gesetzlich vorgesehen“ (§ 68c Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a Strafgesetzbuch) und verfolgte in Artikel 8 Abs. 2 der Konvention vorgesehene legitime Ziele: die „Verhütung von Straftaten“ und den „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“.

9. Soweit der Beschwerdeführer behauptete, er stelle keine Gefahr dar, obliegt es nicht dem Gerichtshof zu prüfen, wie hoch das von dem Beschwerdeführer ausgehende Risiko war; ferner kann der Gerichtshof die Einschätzung der innerstaatlichen Behörden nur dann in Frage stellen, wenn eindeutige Beweise für Willkür vorliegen (siehe Harvey, a. a. O., Rdnr. 61). Der Gerichtshof kann in der Einschätzung des Oberlandesgerichts (das die Argumente des Beschwerdeführers geprüft und sich eingehend mit ihnen auseinandergesetzt hat), wonach bei dem Beschwerdeführer nach wie vor eine hohe Rückfallgefahr bestehe, keine Anhaltspunkte für Willkür erkennen (siehe Harvey, a. a. O., Rdnr. 62).

10. Was die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme angeht, nimmt der Gerichtshof die Feststellung des Oberlandesgerichts zur Kenntnis, wonach es bei den von dem Beschwerdeführer begangenen Sexualstraftaten ein Muster gebe, nämlich, dass er Pferde benutzt habe, um in Kontakt mit seinen Opfern im Kindesalter zu kommen. Er ist der Auffassung, dass das Oberlandesgericht eingehend und überzeugend begründet hat, warum die betreffenden Weisungen – die angesichts des von dem Beschwerdeführer bei der Begehung seiner bisherigen Straftaten an den Tat gelegten Verhaltensmusters spezifisch ausgestaltet und auf die Verhinderung seiner Rückfälligkeit gerichtet waren – notwendig waren, und zwar in Anbetracht der von ihm festgestellten hochgradigen Gefahr, dass der Beschwerdeführer weiterer Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern begehen würde. Darüber hinaus brachten die angegriffenen Weisungen Einschränkungen in Bezug auf die Freizeitaktivitäten des Beschwerdeführers mit sich, sie stellten jedoch kein Verbot der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten dar. Wie im innerstaatlichen Verfahren festgestellt, ist der Beschwerdeführer ausgebildeter IT-Systemprogrammierer und übte seinen Beruf weiterhin aus. Schließlich unterlagen die gegen den Beschwerdeführer angeordnete unbefristete Führungsaufsicht und die entsprechenden Weisungen einer gesetzlich vorgeschriebenen (§ 68e Abs. 3 Strafgesetzbuch) regelmäßigen gerichtlichen Überprüfung, und zwar alle zwei Jahre, was eine wichtige Schutzmaßnahme darstellt (siehe Harvey, a. a. O., Rdnr. 67).

11. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Oberlandesgericht einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herbeigeführt hat und dass es relevante und hinreichende Gründe dafür angeführt hat, weshalb die Maßnahme einen verhältnismäßigen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention garantierte Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens dargestellt hat. Die innerstaatlichen Behörden haben ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Daraus folgt, dass die Rüge des Beschwerdeführers offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

II. VERBLEIBENDE RÜGEN

12. Unter Berücksichtigung des Sachverhalts und seiner Feststellungen nach Artikel 8 der Konvention ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er die wesentlichen in der vorliegenden Individualbeschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen geprüft hat und es nicht erforderlich ist, zu den verbleibenden Rügen ein gesondertes Urteil zu erlassen (siehe sinngemäß Centrefor Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 47848/08, Rdnr. 156, ECHR 2014).

Aus diesen Gründen erklärt Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 13. Januar 2022.

Olga Chernishova                                    Georgios A. Serghides
Stellvertretende Sektionskanzlerin                      Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 11, 2022 von eurogesetze

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