FUNKE WOMAN GROUP GMBH gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) 25845/17 und 34929/18

Die Beschwerdeführerin publiziert die wöchentlich erscheinende Boulevardzeitschrift d.. Der vorliegende Fall betrifft Gegendarstellungen zu Meldungen in Bezug auf Herrn G., einen bekannten deutschen Musiker, und Herrn J, einen deutschen Fernsehmoderator.


DRITTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 25845/17 und 34929/18
F. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner Sitzung am 7. Dezember 2021 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Georgios A. Serghides, Präsident,
Anja Seibert-Fohr und
Frédéric Krenc
sowie Olga Chernishova, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 31. März 2017 bzw. am 20. Juli 2018 eingereicht wurden,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführerin, die F., hat ihren Sitz in I.. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn H., Rechtsanwalt in M., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

2. Der Sachverhalt, wie er von der Beschwerdeführerin vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Die Beschwerdeführerin publiziert die wöchentlich erscheinende Boulevardzeitschrift d.. Der vorliegende Fall betrifft Gegendarstellungen zu Meldungen in Bezug auf Herrn G., einen bekannten deutschen Musiker, und Herrn J, einen deutschen Fernsehmoderator.

1. Individualbeschwerde Nr. 25845/17

4. Am 30. Januar 2016 veröffentlichte die Beschwerdeführerin auf der Titelseite der Zeitschrift d. ein Foto, das G. neben einer Frau stehend zeigte. Unter dem Bild stand:

„G.

Neue Liebe!

Die ersten Fotos!

Seite 10“

5. Am 4. Februar 2016 verlangte G. die Veröffentlichung der folgenden Gegendarstellung durch die Beschwerdeführerin:

„Auf der Titelseite von ‚d.’ vom 30. Januar 2016 heißt es neben einem Bild, welches mich rechts neben einer Frau stehend zeigt: ‚G. Neue Liebe! Die ersten Fotos!’ Hierzu stelle ich fest: Die Frau ist nicht meine ‚neue Liebe’.“

6. Am 13. Februar 2016 veröffentlichte die Beschwerdeführerin dasselbe Foto von G. und der Frau mit der Unterschrift:

„G.

Fatale Verwechslung!

Das ist nicht seine Freundin!“

7. Trotz dieser Veröffentlichung hielt G. an seiner Forderung fest und am 25. Februar 2016 wies das Landgericht die Beschwerdeführerin unter Berufung auf § 10 des Bayerischen Pressegesetzes (BayPrG) an, die Gegendarstellung von G. zu veröffentlichen. Am 18. Mai 2016 wies das Oberlandesgericht eine von der Beschwerdeführerin erhobene Berufung zurück. Die Gerichte vertraten die Auffassung, dass es der zweiten in d. veröffentlichten Meldung an einem Bezug zur Erstmitteilung fehle und dass nicht klar werde, dass diese richtiggestellt werden sollte.

8. Am 4. Juni 2016 veröffentlichte die Beschwerdeführerin die verlangte Gegendarstellung auf der Titelseite von d..

9. Am 17. September 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1467/16).

2. Individualbeschwerde Nr. 34929/18

10. Am 28. Januar 2017 veröffentlichte die Beschwerdeführerin auf der Titelseite der Zeitschrift d. ein Foto von J. Darauf war J., der verheiratet ist, neben einer Frau stehend zu sehen. Beide trugen Abendgarderobe und schauten mit einem überraschten Gesichtsausdruck in die Richtung des Fotografen. Das Bild wurde durch den folgenden Text begleitet:

„J.

Erwischt!

Nachts in Potsdam…“

11. Am 2. Februar 2017 verlangte J. die Veröffentlichung der folgenden Gegendarstellung durch die Beschwerdeführerin:

„Auf der Titelseite von „d.“ vom 28. Januar 2017 wird ein Foto von mir mit einer Frau veröffentlicht mit der Bildunterschrift:

‚J.
Erwischt! Nachts in Potsdam…’ Hierzu stelle ich fest: Das Foto zeigt mich beim Verlassen einer Museumseröffnung zwischen 18 Uhr und 19 Uhr neben einer Ehefrau eines Politikers, der mit uns die Veranstaltung verließ, aber nicht abgebildet wurde.“

12. Da die Beschwerdeführerin die Veröffentlichung ablehnte, wandte sich J. an das Landgericht. Am 23. Februar 2017 wies das Gericht seinen Antrag auf einstweilige Verfügung mit der Begründung zurück, dass die in Rede stehende Meldung keine Tatsachenbehauptung sei, für die eine Gegendarstellung nach § 10 BayPrG in Frage komme, da die Bildunterschrift verschiedene Auslegungen dazu erlaube, was zwischen J. und der Frau vorgegangen sei.

13. J. legte Berufung ein und am 8. März 2017 entschied das Oberlandesgericht größtenteils zu seinen Gunsten. Es stellte fest, dass der Begriff „Erwischt“ im Zusammenhang mit dem Foto von dem maßgeblichen Publikum nur so verstanden werden könne, dass das abgebildete Zusammentreffen von moralisch anstößiger Natur war. Was die Darstellung und den Inhalt der Gegendarstellung angeht, stellte das Gericht fest, dass J.s Text auf zur Widerlegung des angeblichen geheimen Treffens relevante Informationen beschränkt sei. Allerdings ordnete das Gericht eine kleinere als die ursprünglich verlangte Schriftgröße an, damit der Bereich, den die Gegendarstellung auf der Titelseite einnimmt, in etwa dem der ursprünglichen Meldung entspricht.

14. Am 3. Juni 2017 veröffentlichte die Beschwerdeführerin die verlangte Gegendarstellung auf der Titelseite von d..

15. Am 4. Januar 2018 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2432/17).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

16. Gemäß § 10 des bayerischen Pressegesetzes (BayPrG) ist der Verleger einer Zeitung oder Zeitschrift verpflichtet, zu Tatsachen, die darin mitgeteilt wurden, auf Verlangen einer unmittelbar betroffenen Person eine Gegendarstellung abzudrucken. Außerdem ergibt sich aus der innerstaatlichen Rechtsprechung, dass als Voraussetzung für das Verlangen einer Gegendarstellung ein berechtigtes Interesse seitens der betroffenen Person erforderlich ist.

RÜGEN

17. Die Beschwerdeführerin rügte nach Artikel 10 der Konvention die Verpflichtung zur Veröffentlichung der beiden Gegendarstellungen.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Verbindung der Beschwerden

18. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verbunden werden sollten.

B. Rüge nach Artikel 10 der Konvention

19. Die Beschwerdeführerin berief sich auf Artikel 10 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe […] zu empfangen und weiterzugeben.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […].“

20. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre journalistische Freiheit nicht hinreichend berücksichtigt hätten, als sie die Veröffentlichung der Gegendarstellungen anordneten.

21. Im Hinblick auf die von G. verlangte Gegendarstellung ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Beschwerdeführerin eine Falschmeldung über ihn veröffentlicht hatte. Die Beschwerdeführerin argumentierte jedoch, dass die zweite, am 13. Februar 2016 veröffentlichte Meldung die Tatsache, dass es sich bei der abgebildeten Frau nicht um G.s Freundin handelte, aufgeklärt habe. Dementsprechend habe G. an einer weiteren Gegendarstellung kein berechtigtes Interesse mehr gehabt.

22. Im Hinblick auf J. machte die Beschwerdeführerin geltend, dass keine falschen Informationen veröffentlich worden seien. Die Bildunterschrift „J. Erwischt!“ könne nicht als Mitteilung einer Tatsache im Sinne von § 10 BayPrG gelten, da sie mehrdeutig und auslegungsfähig sei. Die Beschwerdeführerin kritisierte ferner die Länge der Gegendarstellung, deren Veröffentlichung angeordnet worden war, insbesondere im Vergleich zur Länge des Originaltexts.

23. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung als normaler Bestandteil des Rechtsrahmens für die Ausübung der Meinungsfreiheit durch Printmedien betrachtet werden kann (siehe Kaperzynski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 43206/07, Rdnr. 66, 3. April 2012). Allerdings müssen Zeitungen und andere private Medien in ihrem redaktionellen Ermessen darüber, ob sie Artikel, Kommentare und von Privatpersonen eingeschickte Briefe veröffentlichen, frei sein (siehe Melnychuk ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 28743/03, 5. Juli 2005). Daraus folgt, dass eine gerichtliche Anordnung zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung einen Eingriff in das Recht des Verlegers auf freie Meinungsäußerung darstellt und nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt sein muss.

24. Die Eingriffe hatten eine rechtliche Grundlage in § 10 BayPrG. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die beiden Gegendarstellungen dem Zweck dienten, den guten Ruf von G. bzw. J. zu schützen, und damit das rechtmäßige Ziel des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 der Konvention verfolgten.

25. Der Gerichtshof muss nun prüfen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Das hängt davon ab, ob der gerügte Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach und in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig war und ob die von den nationalen Stellen zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe zutreffend und ausreichend waren (siehe Kaperzynski,a. a. O., Rdnr. 62). In diesem Zusammenhang muss ein gerechter Ausgleich zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung hergestellt werden. Wurde diese Abwägung von den nationalen Stellen in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen, bedürfte es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (sieheCouderc und Hachette Filipacchi Associés, Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnr. 92, 12. Juni 2014).

26. Im Hinblick auf G.s Verlangen befanden die innerstaatlichen Gerichte im Wesentlichen, dass eine zweite vom Verleger veröffentlichte Meldung, mit der die streitgegenständlichen Tatsachen berichtigt werden, zur Folge haben könnte, dass kein berechtigtes Interesse mehr an einer Gegendarstellung besteht. Sie vertraten jedoch die Auffassung, dass es der zweiten Meldung an einem Bezug zur ersten gefehlt habe, da für die Leserschaft nicht klar gewesen sei, dass damit die erste Meldung der Beschwerdeführerin bezüglich G.s „neuer Liebe“ habe berichtigt werden sollen. Darüber hinaus lege der Wortlaut „Fatale Verwechslung“ für durchschnittliche Leserinnen und Leser nicht nahe, dass die Beschwerdeführerin einen Fehler zugibt, sondern spiele eher darauf an, dass einem Dritten ein peinlicher Fehler hinsichtlich der Identität der Frau passiert sei.

27. Der Gerichtshof kann weder den Standpunkt der innerstaatlichen Gerichte, wonach die nachträgliche Berichtigung einer Tatsachenbehauptung eine Gegendarstellung obsolet werden lassen kann, noch ihre Auffassung, dass hierfür ein klarer Bezug zu der Falschmeldung vonnöten ist, beanstanden. In der vorliegenden Rechtssache zielte die zweite Meldung eindeutig nicht vorrangig darauf ab, eine falsche Tatsachenbehauptung zu korrigieren, sondern darauf, das Interesse an G.s Liebesleben weiter zu entfachen. Daher sieht der Gerichtshof keinen Grund, den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte, wonach G.s Forderung einer Gegendarstellung durch die Veröffentlichung der zweiten Meldung nicht erfüllt worden sei, nicht zuzustimmen.

28. Im Hinblick auf J. vertrat das Oberlandesgericht die Auffassung, dass das J. neben einer Frau zeigende Foto mit der Bildunterschrift „J. Erwischt! Nachts in Potsdam…“ Leserinnen und Leser annehmen lasse, dass J. das abgebildete Zusammentreffen wegen dessen moralischer Anstößigkeit habe geheim halten wollen. Das Gericht stellte fest, dass der Begriff „Erwischt“ in erster Linie in der Bedeutung „nach einem Vergehen ertappen“ verwendet werde und dass diese Bedeutung noch zusätzlich durch den Verweis darauf, dass das Foto nachts aufgenommen worden sei, sowie durch die überraschten Gesichtsausdrücke von J. und der Frau neben ihm verstärkt werde. Dementsprechend habe es sich bei der Veröffentlichung um eine Tatsachenbehauptung gehandelt, die nach dem innerstaatlichen Recht durch Verlangen einer Gegendarstellung angegriffen werden kann. Schließlich befand das Gericht, dass die Länge der Gegendarstellung angemessen sei, änderte aber die Schriftgröße, um den Platz zu verringern, den sie auf der Titelseite einnehmen würde.

29. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der nationalen Stellen zu treten; vielmehr hat er zu überprüfen, ob die von diesen in Ausübung ihres Ermessens getroffenen Entscheidungen mit den herangezogenen Bestimmungen der Konvention vereinbar sind (siehe Bédat ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 56925/08, Rdnr. 48, 29. März 2016).

30. Das Oberlandesgericht begründete seine Position damit, dass die Bildunterschrift in Kombination mit dem Foto ein moralisch verwerfliches Verhalten J.s nahelege. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, von dieser Bewertung abzuweichen. Genauso wenig wirft J.s Gebrauch seines Gegendarstellungsanspruchs im Hinblick auf den Inhalt der Gegendarstellung Bedenken auf. Die verlangte Gegendarstellung widerlegte die Meldung der Beschwerdeführerin klar und konzentriert. Schließlich war die Gegendarstellung zwar länger als die Originalmeldung und musste auf der Titelseite von d. veröffentlicht werden, flächenmäßig war der Text aber nur minimal größer als die Originalmeldung in Kombination mit dem Foto.

31. In Anbetracht des Vorstehenden ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte einen gerechten Ausgleich zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung und dem Recht der anderen Parteien auf Schutz ihres guten Rufes hergestellt haben, indem sie die Veröffentlichung der Gegendarstellungen durch die Beschwerdeführerin anordneten. Dementsprechend liegen keine gewichtigen Gründe dafür vor, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die des Gerichtshofs zu ersetzen.

32. Folglich sind die Rügen nach Artikel 10 wegen offensichtlicher Unbegründetheit im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a unzulässig und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

33. Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig,

die Individualbeschwerden zu verbinden

und für unzulässig zu erklären.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 13. Januar 2022.

Olga Chernishova                                     Georgios A. Serghides
Stellvertretende Sektionskanzlerin                         Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 11, 2022 von eurogesetze

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